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Digitaler Hass. Anlass für eine Reform des Beleidigungsstrafrechts?

von Prof. Dr. Brian Valerius

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Abstract
Hasserfüllte Äußerungen in sozialen Medien und anderen Kommunikationsdiensten des Internets dürften in den letzten Jahren neue Dimensionen erreicht haben. Dies gilt quantitativ wie qualitativ, betrifft folglich nicht allein die wachsende Anzahl derartiger Beiträge, sondern auch deren zunehmende Schärfe und Aggressivität. Die Gefahren, die von digitalem Hass ausgehen, sind nicht zu unterschätzen. Sie drohen zunächst dem Individuum, indem etwa dessen Ehre verletzt werden bzw. zu dessen Nachteil zu Straftaten jeder Art bis hin zu Tötungsdelikten aufgefordert werden könnte. Darüber hinaus betrifft digitaler Hass auch Belange der Allgemeinheit. Die Konfrontation mit oder auch die Sorge vor digitalem Hass führt nicht zuletzt dazu, dass sich Bürgerinnen und Bürger nicht mehr am öffentlichen Diskurs beteiligen und dadurch die ständige geistige Auseinandersetzung als wesentlicher Grundpfeiler der freiheitlich-demokratischen Staatsordnung Schaden nimmt. Da sich digitaler Hass vornehmlich gegen Bevölkerungsgruppen richtet, die durch derartige Äußerungen diskriminiert und diffamiert werden, werden außerdem die Werte der Diversität, der Vielfalt und des friedlichen Miteinanders in der Gesellschaft missachtet. Dadurch können hasserfüllte Äußerungen letztlich Spannungen in der gesamten Gesellschaft hervorrufen, die sogar in gewalttätige Auseinandersetzungen münden können.[1]

Hateful expressions in social media and other communication services of the internet arguably have reached new dimensions in recent years. This concerns not only the growing number of such posts, but also their increasing sharpness and aggressiveness. The dangers posed by digital hatred should not be underestimated. First of all, they threaten the individual, for example, by violating his or her honour or inciting to commit crimes of any kind against him or her, including homicide. Furthermore, digital hatred also affects concerns of the general public. The confrontation with as well as already the fear of digital hatred leads not least to citizens no longer participating in public discourse. This damages the constant intellectual debate as an essential pillar of the free democratic state order. Moreover, since digital hatred is primarily directed against population groups that are discriminated and defamed by such statements, the values of diversity, variety and peaceful coexistence in society are disregarded. As a result, hateful expressions can ultimately cause tensions in society as a whole, which can even lead to violent conflicts.

I. Vorüberlegungen

1. Digitaler Hass und Hasskriminalität

Mit dem Begriff „Digitaler Hass“ wird lediglich ein – wenngleich sehr bedeutsamer – Teilausschnitt eines Gesamtphänomens beschrieben, das auch und nicht zuletzt die Hasskriminalität umfasst. Zu verweisen bleibt etwa auf das im Juni 2019 verübte Attentat auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der wegen seines Einsatzes für Flüchtlinge in der rechtsextremen Szene angefeindet und schließlich getötet wurde. In Erinnerung zu rufen ist ferner der gescheiterte Anschlag in Halle (Saale) im Oktober 2019, bei dem ein ebenfalls aus dem rechtsextremen Milieu stammender Täter in die Synagoge eindringen und dort versammelte Gläubige erschießen wollte.

Deckungsgleich sind die beiden Erscheinungsformen nicht, da für die Hasskriminalität – entgegen dem irreführenden Begriff – weder zwingend Hass geäußert werden noch das Motiv „Hass“ das verbindende Element darstellen muss. Gemeinsam ist solchen Taten vielmehr, dass die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, gegen welche die Täterin bzw. der Täter Vorurteile hegt, den Anlass bildet. Somit gibt es durchaus Fälle digitalen Hasses, die nicht der Hasskriminalität zuzurechnen sind.[2] Mit dieser Abgrenzung soll selbstredend keine Flucht in Begriffsbestimmungen erfolgen. Es bleibt aber darauf hinzuweisen, dass das Gesamtphänomen von hasserfüllten Äußerungen und Hasskriminalität nicht vollumfänglich gewürdigt werden dürfte, wenn sich die Diskussion nur auf einzelne Charakteristika des digitalen Hasses bzw. nur auf einzelne der genannten Gefahren konzentriert.

2. Digitaler Hass und Meinungsfreiheit

a) Schutz von digitalem Hass durch Meinungsfreiheit

Digitaler Hass äußert sich nicht selten in Stellungnahmen, die überhaupt kein Interesse am öffentlichen Diskurs haben oder sich allein in verbalen Angriffen auf andere Menschen erschöpfen. Daher erscheint es nicht als selbstverständlich, dass solche Kundgebungen von der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GG gedeckt sind. Schließlich erachtet das BVerfG das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung als „für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung […] schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist.“[3] Allerdings betont das BVerfG auch, dass es für die Reichweite des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit ohne Bedeutung sei, ob eine Äußerung wertvoll oder wertlos bzw. richtig oder falsch erscheint, ob sie emotional oder rational begründet wird.[4] Gerade weil die Meinungsäußerungsfreiheit die Bildung von Meinung gewährleisten soll, schützt sie unterschiedslos sämtliche Werturteile, erzielen derartige Äußerungen doch immer eine geistige Wirkung, andere überzeugen zu wollen.[5] Die Meinungsfreiheit erfasst daher ebenso polemische und verletzende Formulierungen.[6] Grundsätzlich sind demzufolge auch hasserfüllte Äußerungen von Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GG geschützt.[7]

Aus rechtspolitischer Sicht erscheint es gleichfalls fraglich, digitalen Hass von der Meinungsfreiheit auszuschließen. Dies könnte vielmehr zu einem sog. chilling effect führen, dass sich Bürgerinnen und Bürger bereits aus Sorge, sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen zu können, nicht mehr am politischen Diskurs beteiligen, selbst wenn sie gewöhnlich nicht zu hasserfüllten Äußerungen greifen. Andere könnten wiederum in ihrer Ansicht bestärkt werden, in Deutschland nicht mehr alles sagen zu dürfen.[8] Gerade aufgrund dieses Eindrucks könnten sich zudem nicht wenige in ihren (in der Diskussion von vornherein als unerwünscht empfundenen) Auffassungen zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen bekräftigt sehen. Die meinungsbildende Kraft der öffentlichen Auseinandersetzung, die – wie auch die COVID-19-Pandemie in verschiedener Hinsicht gezeigt hat – gerade bei gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen und in Krisenzeiten elementar ist, könnte daher darunter leiden, wenn hasserfüllte Äußerungen nicht als durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GG geschützte Meinungen angesehen werden würden.

b) Schutz von Meinungsfreiheit vor digitalem Hass

Diese Überlegungen haben selbstredend nicht zur Folge, digitalem Hass einen rechtlichen Freifahrtschein auszustellen und keine Grenzen aufzuzeigen. Hierfür bietet es sich jedoch an, an die vor allem durch die Rechtsprechung des BVerfG entwickelten Schranken für die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit anzuknüpfen. So ließen sich die aufgezeigten Gefahren digitalen Hasses bei der Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit der sich äußernden Person und den widerstreitenden Interessen anderer berücksichtigen. Insoweit könnten beispielsweise die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG oder auch die Teilnahme am öffentlichen Diskurs als von der Meinungsfreiheit (der von hasserfüllten Äußerungen Betroffenen) gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GG mitgeschütztes Element als kollidierende Güter von Verfassungsrang angesehen werden. Diese Interessen könnten insbesondere dann die Meinungsfreiheit der Täterin bzw. des Täters überwiegen, wenn sich eine Äußerung in Hass erschöpft, ohne in der Sache etwas zur öffentlichen Meinungsbildung beizutragen.

Dass das Anliegen der öffentlichen Meinungsbildung die Reichweite der Meinungsäußerungsfreiheit durchaus mitbestimmt, lässt sich an der Begründung des BVerfG aufzeigen, auch Tatsachenaussagen als durch die Meinungsfreiheit geschützt anzusehen. Zwar zeichnen sich solche Äußerungen gerade nicht durch eine Stellungnahme aus, sondern sind durch ihren (als wahr oder unwahr überprüfbaren) Bezug auf die Realität geprägt. Gleichwohl unterstellt sie das BVerfG dem Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit, weil und soweit sie die Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind, die sich in der Regel auf tatsächliche Annahmen stützen oder zu tatsächlichen Verhältnissen Stellung beziehen.[9] Dieser verfassungsrechtliche Schutz endet erst dann, wenn Tatsachenaussagen – wie etwa bei (bewusster oder erwiesener) Unwahrheit wie z.B. bei sog. Fake News – zur Meinungsbildung nichts beizutragen vermögen.[10]

Diese differenzierende Argumentation des BVerfG offenbart, dass nicht etwa die Meinungsbildung – gewissermaßen formal ­– als solche geschützt wird; schließlich könnten diesem Prozess auch unwahre Tatsachenaussagen zugrunde liegen. Vielmehr wird die Reichweite der Meinungsfreiheit gleichsam materiell bestimmt, indem unwahren Tatsachen ein (sinnvoller) Beitrag zur Meinungsbildung von vornherein abgesprochen wird und deren Äußerung somit als entbehrlich, wenn nicht sogar schädlich erscheint. Diese Wertung könnte auch bei dem Umgang mit digitalem Hass herangezogen werden, vermag Hass als solcher doch nichts zur Meinungsbildung beizutragen, vielmehr aufgrund der erwartbaren Reaktionen diese zu hemmen oder hiervon jedenfalls abzulenken. Zugespitzt formuliert könnte auf diese Weise die (öffentliche Meinungsbildung und somit ein Kernanliegen der) Meinungsäußerungsfreiheit selbst vor (digitalem Hass als Ausübung) der Meinungsäußerungsfreiheit geschützt werden.

II. Digitaler Hass und Ehrverletzungsdelikte

1. Geschütztes Rechtsgut der §§ 185 ff. StGB

Der gebotenen umfassenden Betrachtung von digitalem Hass und verwandten gesellschaftlichen Phänomenen in tatsächlicher Hinsicht entspricht das Desiderat einer ebenso wenig verengten (straf-)rechtlichen Würdigung. Zwar wird digitaler Hass häufig zugleich eine ehrverletzende Äußerung beinhalten. Es liegt daher durchaus nahe, sich bei einer rechtlichen Würdigung des Phänomens auch und nicht zuletzt mit den Ehrverletzungsdelikten auseinanderzusetzen. Hieraus darf indessen nicht geschlossen werden, dass digitaler Hass ausschließlich oder auch nur in erster Linie das Beleidigungsstrafrecht beträfe und eine gesetzgeberische Reaktion auf die hiermit einhergehenden Herausforderungen bei den §§ 185 ff. StGB angesiedelt werden müsste.

Um die Geeignetheit der Ehrverletzungsdelikte für die Bekämpfung von digitalem Hass zu beurteilen, bietet sich zunächst ein näherer Blick auf deren geschütztes Rechtsgut an. Nach herrschender Auffassung dürften die Beleidigungsdelikte allein die Ehre schützen.[11] Für diese Konzentration auf ein Individualrechtsgut spricht auch die Konzeption der Ehrverletzungsdelikte, unter anderem der nach § 194 Abs. 1 S. 1 StGB für sämtliche – auch für im Sinne der § 185 Var. 2, § 186 Var. 2 und § 187 Var. 2 StGB öffentlich begangene – Beleidigungen der §§ 185 ff. StGB erforderliche Strafantrag. Ebenso wurde als Rechtsgut des noch jungen Straftatbestandes des § 192a StGB (verhetzende Beleidigung) – trotz des erkennbaren Anliegens, auch das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben zu schützen – ausdrücklich die Ehre der betroffenen Personen erachtet.[12]

Das Schutzgut der Ehre knüpft nach wiederum herrschendem Verständnis sowohl an normative als auch an faktische Elemente an. Als normativ erweist sich die Ehre dadurch, dass der Mensch als Träger geistiger und sittlicher Werte angesehen wird, woraus ein Achtungsanspruch jedes Individuums resultiert (sog. innere Ehre). Eine faktische Komponente wird der Ehre dadurch zuteil, dass auch auf das Ansehen und den guten Ruf einer Person in der Gesellschaft (als sog. äußere Ehre) verwiesen wird.[13] Freilich ist dieser normativ-faktische Ehrbegriff nicht unumstritten und kursieren zahlreiche andere Vorschläge, Ehre näher zu definieren.[14] In der Tat handelt es sich bei der Ehre nach einem bekannten Zitat von Maurach um „das subtilste, mit den hölzernen Handschuhen des Strafrechts am schwersten zu erfassende und daher am wenigsten wirksam geschützte Rechtsgut unseres Strafrechtssystems“.[15] Allerdings erscheint es gerade deshalb von vornherein als wenig sinnvoll, einen neuen Ehrbegriff zu kreieren, um auf diese Weise den Besonderheiten des digitalen Hasses gerecht werden zu wollen. Ein solches Unterfangen erwiese sich zudem als zu punktuell und ggf. schon bei dem nächsten gesellschaftlichen Phänomen, das gleichfalls die Ehrverletzungsdelikte betrifft, als überholt.

Diese Skepsis gegenüber einem geänderten oder neuen Ehrverständnis wendet sich ebenso gegen Überlegungen, den Beleidigungsdelikten außer der Ehre allein wegen der Herausforderungen des digitalen Hasses weitere Schutzgüter zuzuschreiben. Freilich ist es nicht ausgeschlossen, dass eine Beleidigung außer der Ehre zugleich weitere Rechtsgüter gefährden oder verletzen kann. Der Gesetzgeber hat bereits anklingen lassen, durch die Bekämpfung der zunehmenden Verrohung der Kommunikation insbesondere im Internet auch den politischen Diskurs in der demokratischen und pluralistischen Gesellschaftsordnung[16] bzw. das Recht der Betroffenen auf gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben[17] schützen zu wollen. Dass insbesondere bei online kundgegebenen Herabwürdigungen auch andere Interessen außer der Ehre der beleidigten Person beeinträchtigt werden können, ist allerdings keine besondere Eigenschaft des digitalen Hasses. Vielmehr lässt sich dies auch für bereits bekannte (und auch „analoge“) Fallgruppen wie etwa die in § 185 Var. 3 StGB normierte tätliche Beleidigung beobachten, bei der zugleich die körperliche Unversehrtheit der auf diese Weise herabgewürdigten Person verletzt werden kann.

Gegenläufige Versuche, zum Schutz anderer Rechtsgüter auf die Ehrverletzungsdelikte der §§ 185 ff. StGB zurückzugreifen, gab es bereits in der Vergangenheit und wurden zu Recht aufgegeben. Zu denken ist nur an die sog. sexuelle Beleidigung, mit der die Rechtsprechung jahrzehntelang sexuelle Handlungen unterhalb der Erheblichkeitsschwelle der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (siehe derzeit § 184h Nr. 1 StGB) als Angriff auf die Ehre strafrechtlich sanktionierte.[18] Hierbei wurde nicht zuletzt verkannt, dass die Ehre (nicht weniger, aber auch nicht mehr als) nur einen Aspekt der Personenwürde darstellt und daher nicht bei jedem Angriff auf Persönlichkeitsrechte zwingend verletzt wird.[19] Demzufolge wäre es auch nicht ratsam, die Teilhabe am politischen Diskurs oder das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben mit einer Verletzung des Rechtsguts Ehre gleichzusetzen oder diese Interessen über die Straftatbestände der §§ 185 ff. StGB mit zu schützen. Sollten durch eine herabwürdigende Handlung außer der Ehre auch andere Rechtsgüter verletzt werden, bliebe dies vielmehr nach einschlägigen anderen Straftatbeständen zu erfassen bzw. müsste bei einem Fehlen solcher Vorschriften der strafrechtliche Schutz insoweit verbessert werden. Wer aus den Bedürfnissen des Augenblicks hingegen die Beleidigungsdelikte durch solche Konstrukte verwässert, stärkt nicht etwa den Ehrschutz, sondern erhöht nur die ohnehin nicht geringen Unsicherheiten bei deren Reichweite.

2. Besonderheiten digitalen Hasses

Zu den schon mehrmals angesprochenen Besonderheiten des digitalen Hasses zählt zum einen – wie bereits der Begriff selbst offenbart – eine digitale (gewissermaßen im Gegensatz zu einer „analogen“) Kundgabe. Somit werden nicht zuletzt Äußerungen in den Kommunikationsdiensten des Internets, insbesondere in den sozialen Medien erfasst. Da solche Kommunikationsvorgänge häufig nicht in einer geschlossenen Gruppe von Nutzerinnen und Nutzern, sondern gegenüber einem nicht beschränkten Personenkreis ergehen und deshalb grundsätzlich frei und weltweit abrufbar sind, zeichnet sich digitaler Hass häufig durch seine Öffentlichkeit aus.[20] Diese Öffentlichkeit wird durch den weiteren Umstand gefördert, im Internet Inhalte schnell und einfach veröffentlichen sowie weiter verbreiten zu können. Digitaler Hass erreicht daher in der Regel ein weitaus größeres Publikum als eine entsprechende Äußerung außerhalb des Internets.

Sowohl der in der Regel größere Kreis an Adressatinnen und Adressaten als auch der immer wieder mögliche Aufruf einer entsprechenden Äußerung können aber die Intensität einer hiermit einhergehenden Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht unwesentlich erhöhen. In diesem Sinne hat auch das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vom 30. März 2021,[21] das im Hinblick auf soziale Medien im Internet für öffentlich begangene Beleidigungen eine Qualifikation in § 185 Var. 2 StGB einfügte,[22] auf die größeren Auswirkungen für die Betroffenen hingewiesen. Beispielsweise wögen Äußerungen im Internet wegen der eingeschränkten Löschungsmöglichkeiten und der demzufolge längeren Abrufbarkeit besonders schwer und könnten zudem weitere ehrverletzende Kommentare nach sich ziehen.[23] Dass eine öffentliche Äußerung intensivere Eingriffe in Rechtsgüter hervorruft, betrifft aber nicht nur Ehrverletzungen der Betroffenen, sondern ebenso Beeinträchtigungen der bereits erwähnten Interessen der Allgemeinheit, sei es in Gestalt der Hemmung des öffentlichen Diskurses oder auch hervorgerufener Spannungen, die ein friedliches Miteinander in der Gesellschaft gefährden.

Eine weitere Eigenschaft der Kommunikationsdienste des Internets besteht darin, dass deren Nutzerinnen und Nutzer in der Regel anonym bleiben können. Nur selten werden Beiträge unter dem richtigen Namen der sich äußernden Person veröffentlicht. Falls bei einer Äußerung im Internet überhaupt ein Name angegeben werden muss, werden gewöhnlich frei wählbare Pseudonyme verwendet, die es zumindest deutlich erschweren, die Urheberschaft zu ermitteln. Nicht zuletzt diese Eigenheit des Internets dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass Quantität und Intensität auch hasserfüllter digitaler Äußerungen deutlich zugenommen haben.

Bei den vorstehenden Charakteristika handelt es sich aber allesamt um äußere Umstände der Äußerung. Für deren Inhalt ist hingegen grundsätzlich nicht von Bedeutung, ob eine Äußerung öffentlich oder in einem geschlossenen Kreis oder ob sie digital oder analog erfolgt. Zwar sind die Begleitumstände der Äußerung (wie z.B. der im Umfeld der Beteiligten gepflegte Umgangston) für deren Auslegung durchaus von Bedeutung.[24] Dass stets sämtliche Umstände des konkreten Einzelfalls zu berücksichtigen sind, gilt aber für alle und nicht nur für digitale Äußerungen. Es kann folglich etwa nicht behauptet werden, dass eine hasserfüllte Äußerung, nur weil sie in einem frei zugänglichen Kommunikationsdienst des Internets ergeht, schon per definitionem als zugleich ehrverletzend im Sinne der §§ 185 ff. StGB anzusehen ist. Ebenso wenig verletzt eine beleidigende Äußerung neben der Ehre zwingend zugleich ein weiteres Rechtsgut, nur weil sie im Internet kundgegeben wird. Hierzu sind (selbst ehrverletzende) Äußerungen schlicht zu vielgestaltig, um allein wegen ihrer digitalen oder ihrer öffentlichen Verbreitung stets bestimmte Interessen zu beeinträchtigen.

3. Bedenken gegenüber einer Änderung des Beleidigungsstrafrechts

Die digitale und öffentliche Kundgabe einer Äußerung wirkt sich somit im Wesentlichen nur auf die Intensität der hiermit einhergehenden Rechtsgutsverletzung aus. Ist eine Äußerung nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen als herabwürdigend einzuordnen, ist ihr aufgrund der Verbreitung im Internet in der Regel ein schärferer Charakter zuzuschreiben als einer analogen Äußerung, die häufig lediglich gegenüber einem kleineren Personenkreis erfolgt. Genau diesen Aspekt hat der Gesetzgeber aber bereits mit der 2021 eingefügten Qualifikation für öffentlich begangene Beleidigungen in § 185 Var. 2 StGB berücksichtigt. Den strafschärfenden Besonderheiten digitalen Hasses im konkreten Fall könnte bei ehrverletzenden Äußerungen somit schon innerhalb dieses erhöhten Strafrahmens Rechnung getragen werden. Bereits dies spricht dagegen, den Besonderheiten des digitalen Hasses mit einer (weiteren) Änderung des Beleidigungsstrafrechts zu begegnen, zumal die vorstehende Ergänzung des Beleidigungstatbestandes nicht unumstritten ist.[25]

Selbst wenn neben der Ehre weitere Rechtsgüter gefunden oder bereits bekannte Interessen hervorgehoben werden sollten, welche die Beleidigungsdelikte unmittelbar oder mittelbar schützen könnten, bliebe zu beachten, dass bei weitem nicht nur Beleidigungen Bürgerinnen und Bürger davon abhalten, sich an der öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen. Diesen Effekt bewirkt vielmehr nicht zuletzt die generelle Verrohung des öffentlichen Diskurses, etwa in Gestalt eines zunehmend aggressiven Gebarens von Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern bis hin zu Bedrohungen in der öffentlichen Auseinandersetzung. Gerade während der COVID-19-Pandemie wurde offenbar, dass auch unsachliche Diskussionen insbesondere unter Rückgriff auf unzutreffende oder irreführende Informationen die öffentliche Meinungsbildung hemmen und behindern. Es tragen somit viele Umstände dazu bei, dass sich Menschen nicht mehr (mit letztem Engagement) gesellschaftlich wie politisch engagieren und nicht mehr an dem öffentlichen Diskurs teilnehmen wollen.

Nicht nur vor diesem Hintergrund ist auch die gegen Ende der letzten Wahlperiode im Jahr 2021 in der Gesetzgebung erkennbare Tendenz, die Beleidigungsdelikte als Auffangtatbestand bei der Bekämpfung von Hasskriminalität bzw. von digitalem Hass zu bemühen, kritisch zu betrachten. Dies gilt, zumal auf diese Herausforderungen bislang eher punktuell und noch ohne stimmiges Gesamtkonzept reagiert wurde. So bildeten Politikerinnen und Politiker (bis hin zur kommunalen Ebene) die einzige Personengruppe, die infolge der Änderungen durch das bereits angesprochene Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität ausdrücklich im Gesetz, namentlich in dem neu eingefügten § 188 Abs. 1 S. 2 StGB, genannt wurde. Es folgte sodann die Einführung des § 192a StGB, der zwar an Merkmale anknüpft, die auch den Anlass für Hasskriminalität bilden, allerdings mit dem Gelangenlassen verhetzender Inhalte an Angehörige der herabgewürdigten Gruppe nur eine ganz konkrete Fallgestaltung unter Strafe stellt.[26]

Wie bereits ausgeführt, beschränken sich die Gefahren des digitalen Hasses ohnehin nicht auf das „Binnenverhältnis“ von Täter und Opfer, sondern betreffen darüber hinaus nicht zuletzt die ständige geistige Auseinandersetzung als wesentlichen Grundpfeiler der freiheitlich-demokratischen Staatsordnung und können außerdem Spannungen in der gesamten Gesellschaft verursachen. Diese Gefahren sind selbst dann nicht zu leugnen, wenn eine hasserfüllte Äußerung im Einzelfall keinen ehrverletzenden Charakter aufweist. Zudem gibt es ähnliche Verhaltensweisen, insbesondere der sog. Hasskriminalität, die ein vergleichbares Gefahrenpotential aufweisen, aber – wie z.B. Nötigungen, Bedrohungen oder öffentliche Aufforderungen zu Straftaten – eines herabwürdigenden Elements nicht selten entbehren. Die Beleidigungsdelikte mögen somit zwar eine Vielzahl von Fällen des digitalen Hasses oder auch der Hasskriminalität betreffen, sind aber von vornherein nicht dafür konzipiert, dieses gesellschaftliche Phänomen in seiner Gesamtheit zu erfassen.

Die Ehrverletzungsdelikte eignen sich des Weiteren im Hinblick auf ihre Handhabung durch die Strafverfolgungsbehörden nicht, um den politischen Diskurs zu schützen oder vor Diskriminierungen zu bewahren. In der Praxis dienen die Vorschriften nämlich zumeist nur dem Schutz von Amtsträgerinnen und Amtsträgern sowie von Politikerinnen und Politikern, nicht zuletzt von Angehörigen der Polizei und der Justiz. Zudem besteht bei deren Herabwürdigung in der Regel ein Zusammenhang mit konkreten Anlässen und geht es nicht etwa um deren Teilhabe am öffentlichen Meinungsaustausch oder um deren Geringschätzung wegen ihrer nationalen oder ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung etc. Exemplarisch darf auf die Entscheidungen des BVerfG vom 19. Mai 2020[27] verwiesen werden, die das Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten bei ehrverletzenden Äußerungen im Internet näher beleuchtet haben. Die Beschlüsse betrafen im Einzelnen Familienrichter,[28] die Leiterin eines Rechtsamts,[29] einen ehemaligen Finanzminister[30] und einen Abteilungsleiter,[31] die jeweils im Zusammenhang mit einem konkreten Verfahren beleidigt wurden.

Sobald hingegen der Verdacht der Beleidigung einer Privatperson im Raum steht, wird das Verfahren gewöhnlich wegen Verneinung des öffentlichen Interesses im Sinne des § 376 StPO auf den Privatklageweg verwiesen.[32] Ob sich diese Verfolgungspraxis änderte, wenn die Ehrverletzungsdelikte weitere Rechtsgüter schützten oder gezielt zur Bekämpfung von digitalem Hass eingesetzt werden würden, darf bezweifelt werden. Vielmehr besteht die Gefahr, dass digitaler Hass nur verfolgt werden würde, wenn Amtsträgerinnen und Amtsträger oder Politikerinnen und Politiker betroffen sind. Dass sich eine Staatsanwaltschaft etwa wegen einer jedenfalls nicht gravierenden Ehrverletzung in einem Tweet dazu veranlasst sieht, um sechs Uhr morgens eine Hausdurchsuchung mit sechs Polizisten durchführen zu lassen, dürfte lediglich daran gelegen haben, dass es sich bei dem Betroffenen um den Hamburger Innensenator handelte.[33] Eine solche selektive Verfolgung könnte aber erst recht dazu beitragen, dass sich „normale“ Bürgerinnen und Bürger aus dem politischen Diskurs zurückziehen, und somit das Gegenteil bewirken, was mit einem auch strafrechtlichen Schutz der öffentlichen Meinungsbildung bezweckt werden soll.

III. Denkbare Reaktionen auf digitalen Hass außerhalb der Ehrverletzungsdelikte

1. Sonstige Änderungen und Einfügungen von Straftatbeständen

Gegen digitalen Hass müssen nicht nur angesichts der dargelegten erheblichen Gefahren für die Rechtsgüter des Einzelnen sowie die Interessen der Allgemeinheit sinnvolle Maßnahmen ergriffen werden. Dies vermag rechtliche, ggf. auch strafrechtliche Mittel durchaus mit einzuschließen. Eine Bekämpfung durch Änderungen oder Ergänzungen der Beleidigungsdelikte ist aber nach den vorstehenden Überlegungen weder angezeigt noch sinnvoll. Wegen der beschriebenen Auswirkungen des digitalen Hasses auf die gesamte Gesellschaft wären hingegen Rückgriffe auf Strafvorschriften erwägenswert, die etwa den öffentlichen Frieden oder sonstige Rechtsgüter der Allgemeinheit schützen. So könnte der Straftatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB) geändert oder auch ein allgemeiner Diskriminierungstatbestand eingeführt werden.

Auch gegen eine solche Lösung bestehen indessen nicht unerhebliche Einwände. Zum einen dürfte es angesichts der vielgestaltigen Erscheinungsformen von digitalem Hass schwierig sein, die tatbestandlichen Voraussetzungen derart bestimmt zu formulieren, dass die strafwürdigen Verhaltensweisen trennscharf von nicht zu erfassenden, ggf. sogar im Diskurs erwünschten Handlungen abgegrenzt werden können. Eine zu weit gefasste Norm könnte zum anderen wiederum einen chilling effect nach sich ziehen, dass Bürgerinnen und Bürger aus Sorge, sich strafbar zu machen, von einer Beteiligung am politischen Diskurs absehen, auch wenn sie selbst gewöhnlich nicht zu hasserfüllten Äußerungen greifen. Einen zu unbestimmten (und demzufolge jedenfalls gefühlt zu weiten) Straftatbestand einzufügen, könnte folglich die Beteiligung am öffentlichen Diskurs gerade hemmen anstatt ihn zu schützen.

Des Weiteren müsste entschieden werden, welche Diskriminierungsmerkmale tatbestandlich herangezogen werden. Denkbar wäre insoweit eine abschließende, allerdings nicht zeitbeständige und in ihrer Auswahl nur schwierig zu begründende Aufzählung bestimmter Kriterien (wie etwa derzeit in § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB Staatsangehörigkeit, „Rasse“, Religion und ethnische Herkunft) oder eine offene und nicht abschließende Formulierung, die dann aber die Gefahr mit sich bringt, in jede Äußerung oder sonstige Verhaltensweise eine Diskriminierung hineinlesen zu können, was wiederum das Anliegen, den öffentlichen Diskurs zu schützen, konterkarierte.

2. Lösung auf Strafzumessungsebene

Wird wegen der beschriebenen Schwierigkeiten eine Lösung auf Tatbestandsebene für nicht gangbar erachtet, um digitalem Hass sinn- und maßvoll zu begegnen, könnte den Besonderheiten solcher Taten auf Strafzumessungsebene Rechnung getragen werden. Diskussionswürdig wäre etwa die Aufnahme eines Strafzumessungsfaktors in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB, der den unrechtserhöhenden Eigenschaften digitalen Hasses oder auch von Hasskriminalität im Allgemeinen Rechnung trägt. Für eine solche Lösung lässt sich zum einen anführen, dass die Anforderungen an die Bestimmtheit auf Rechtsfolgenebene geringer sind. Solche Faktoren bildeten zum anderen „nur“ einen bei der Strafzumessung zu berücksichtigenden Umstand, dessen Gewicht im jeweiligen Einzelfall angemessen bestimmt werden kann.

Den Weg über die Strafzumessungsebene will jedenfalls ein aktueller Entwurf eines Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts, der sich gerade im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren befindet, beschreiten. Er sieht unter anderem vor, die bereits genannte Aufzählung des § 46 Abs. 2 S. 2 StGB von rassistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründen oder Zielen des Täters ausdrücklich um „geschlechtsspezifische und gegen die sexuelle Orientierung gerichtete“ Motive etc. zu erweitern. Dadurch will der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass in Deutschland Taten, die aus der Sicht des Täters handlungsleitend durch das Geschlecht des Opfers oder dessen sexuelle Orientierung motiviert sind, eine zunehmende Rolle spielen.[34] Frauen seien nicht zuletzt durch Hassrede in spezifischer Weise betroffen;[35] ebenso richteten sich Hassdelikte unverhältnismäßig stark gegen lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Personen sowie andere queere Menschen.[36] Um ein klares Zeichen gegen Hasskriminalität auch im Hinblick auf die genannten Personengruppen zu setzen und um zu bekräftigen, dass auf das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung des Opfers bezogene Hassmotive im Rahmen des § 46 StGB strafschärfend berücksichtigt werden können, sollen diese Motive ausdrücklich in den Katalog des § 46 Abs. 2 S. 2 StGB aufgenommen werden.[37]

„Liegt dagegen eine wesentliche Ehrenkränkung oder ein Fall des § 188 StGB vor oder weist der Täter bei der Tat menschenverachtende, insbesondere rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische, geschlechtsspezifische oder gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Beweggründe oder Ziele auf, so wird das öffentliche Interesse meist gegeben sein.“

Diese Überlegungen weisen durchaus in die richtige Richtung. Eine Lösung über die Strafzumessungsebene würde jedenfalls die Verantwortung des Tatrichters betonen, derartige Besonderheiten des Einzelfalls angemessen zu würdigen. Schließlich wird die gerechte Sanktionierung einer Tat nicht allein über die zur Verfügung stehenden Straftatbestände und Strafrahmen ermöglicht als vielmehr und insbesondere durch deren Anwendung im konkreten Einzelfall. Anstelle beispielsweise bei den Ehrverletzungsdelikten das Höchstmaß der Freiheitsstrafe von zwei auf drei Jahre zu erhöhen und dadurch auch sämtliche tatbestandlich erfasste Bagatelldelikte dieser Strafandrohung zu unterziehen, erscheint es sinnvoller, den bestehenden Strafrahmen von zwei Jahren auszunutzen, wenn und soweit dies angebracht erscheint. Mit einer Lösung über die Strafzumessung ginge zudem der weitere Vorteil einher, derartige straferhöhende Merkmale bei sämtlichen hasserfüllten Straftatbeständen (und nicht nur bei ehrverletzenden Handlungen) berücksichtigen und auch die Strafverfolgungsorgane im Ermittlungsverfahren dafür sensibilisieren zu können, dass diese Eigenschaften für das weitere Verfahren von Bedeutung und entsprechende Beweismittel zu sichern sind.

Freilich ist auch eine Lösung über die Strafzumessung nicht frei von Bedenken. Fraglich ist insbesondere, ob einer solchen Änderung nur symbolischer Charakter zuteilwird. Schließlich darf schon jetzt etwa der diskriminierende Charakter einer Tat zum Nachteil des Täters berücksichtigt werden, weil hierin eine mit grundlegenden Wertungen des Grundgesetzes nicht vereinbare Gesinnung zum Ausdruck kommt. Anders als bei der aus diesem Grund umstrittenen Einfügung des Passus „besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ durch das Gesetz zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 12. Juni 2015[38] steht aber zu befürchten, dass sich die Bevölkerung (und auch ein Teil der Tatgerichte) noch nicht im Klaren ist, welche Handlungen sich allesamt als diskriminierend und Vorurteilen geschuldet erweisen und dass nicht wenige nach wie vor geübte Verhaltensweisen gerade nicht völlig gebräuchlich oder sogar zu akzeptieren sind.

3. Verfahrensrechtliche Lösung

Wenn auch der Weg über die Rechtsfolgenseite als nicht sinnvoll erachtet wird und sich demzufolge keine materiell-rechtliche Lösung anbietet, bliebe noch eine verfahrensrechtliche Lösung zu erwägen. Dadurch würde sich die Rechtslage selbstredend nicht ändern und könnten allenfalls Vollzugsdefizite des geltenden Rechts gemildert bzw. beseitigt werden. Ein solches Vollzugsdefizit besteht aber gerade bei der Verfolgung von digitalem Hass in der angesprochenen problematischen Handhabung der Beleidigungsdelikte durch die Strafverfolgungsbehörden. Nicht wenige Erscheinungsformen von digitalem Hass erweisen sich bereits jetzt als strafbar und gelangen auch zur Kenntnis der Ermittlungsorgane, werden aber nicht verfolgt, weil die verletzte Person auf den Privatklageweg verwiesen wird, was  aus  den beschriebenen  Gründen als misslich erscheint. Im Hinblick auf die breit gestreuten Gefahren des digitalen Hasses wäre daher anzuregen, dass die Strafverfolgungsbehörden ihre Verfolgungspraxis ändern und zumindest in diesen Fällen nicht nur Beleidigungen gegenüber Amtsträgerinnen und Amtsträgern sowie Politikerinnen und Politikern verfolgen. Hierzu könnte eine Änderung der RiStBV beitragen, die beispielsweise durch eine Ergänzung in Nr. 229 Abs. 1 S. 2 auch in Fällen digitalen Hasses das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung als zumeist gegeben ansehen könnte. In Anlehnung an die vorgeschlagene Ergänzung des § 46 Abs. 2 S. 2 StGB könnte Nr. 229 Abs. 1 S. 2 künftig wie folgt formuliert werden:

Als weitere Maßnahme wäre wegen der Bedeutung und der Auswirkungen von digitalem Hass auf die gesamte Gesellschaft denkbar, die §§ 185 ff. StGB in diesen Fällen zu relativen Strafantragsdelikten umzugestalten. Dies ließe sich durch einen neu eingefügten Satz 4 in § 194 Abs. 1 StGB erreichen:

„Gleiches gilt bei Taten, bei denen der Täter menschenverachtende, insbesondere rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische, geschlechtsspezifische oder gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Beweggründe oder Ziele aufweist.“

§ 194 Abs. 1 S. 4 (sodann S. 5) StGB könnte entsprechend geändert werden:

„Die Taten nach den Sätzen 2 und 3 bis 4 können jedoch nicht von Amts wegen verfolgt werden, wenn der Verletzte widerspricht.“

Durch eine verfahrensrechtliche Lösung würden deutlich mehr Sachverhalte digitalen Hasses von den Strafverfolgungsbehörden verfolgt werden (müssen). Dies erfordert zwar einen nicht unerheblichen personellen Mehraufwand. Dieser Mehraufwand würde aber mit allen (sowohl auf Tatbestands-, Rechtsfolgen- und Verfahrensseite angesiedelten) Vorschlägen, digitalen Hass zu bekämpfen, einhergehen und wäre ohnehin notwendig, um der wachsenden Bedeutung dieses gesellschaftlichen Phänomens auch dann gerecht zu werden, wenn nicht Amtsträgerinnen und Amtsträger bzw. Politikerinnen und Politiker unmittelbar davon betroffen sind. Angesiedelt werden könnten diese zusätzlichen personellen Ressourcen bei den schon zum Teil entstandenen Schwerpunktstaatsanwaltschaften gegen Hasskriminalität.

 

[1]      Zu den möglichen Auswirkungen von Hasskriminalität Schneider, in: Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention (Hrsg.), Endbericht der Arbeitsgruppe „Primäre Prävention von Gewalt gegen Gruppenangehörige – insbesondere: junge Menschen –“, 2003, S. 34, 39 f., abrufbar unter: https://www.kriminalpraevention.de/files/DFK/dfk-publikationen/2003_endbericht_arbeitsgruppe.pdf (zuletzt abgerufen am 10.2.2023).
[2]      Zum Begriff der Hasskriminalität statt vieler Valerius, ZStW 132 (2020) 666 (666 f.) m.w.N.
[3]      BVerfGE 7, 198 (208).
[4]      Siehe nur BVerfGE 61, 1 (7).
[5]      BVerfGE 61, 1 (7).
[6]      BVerfGE 93, 266 (289); BVerfG, NJW 2020, 2622 (2623); NJW 2020, 2629 (2629).
[7]      Grabenwarter, in: Dürig/Herzog/Scholz, 99. EL (September 2022), Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 68; Schemmer, in: BeckOK-GG, 53. Ed. (Stand: 15.11.2022), Art. 5 Rn. 4.
[8]      Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2021 (https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/kurzberichte_dokumentationen/FAZ_Juni2021_Meinungsfreiheit.pdf; zuletzt abgerufen am 10.2.2023) glauben 44 Prozent der Befragten, besser vorsichtig zu sein, wenn man in Deutschland seine politische Meinung äußern will. Diese Zurückhaltung ist nicht etwa der Konfrontation mit digitalem Hass geschuldet, sondern drohenden gesellschaftlichen Sanktionen bei Missachtung der „political correctness“.
[9]      BVerfGE 61, 1 (8); 90, 241 (247).
[10]    BVerfGE 61, 1 (8); 90, 241 (247 f.).
[11]    Siehe nur BGHSt 11, 67 (70 f.); 36, 145 (148); Eisele/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), Vorb. §§ 185 ff. Rn. 1; Hilgendorf, in: LK-StGB, 13. Aufl. (2023), Vorb. § 185 Rn. 1; Regge/Pegel, in: MüKo-StGB, 4. Aufl. (2021), Vorb. § 185 Rn. 7; Valerius, in: BeckOK-StGB, 55. Ed. (Stand: 1.11.2022), § 185 Rn. 1.
[12]    BT-Drs. 19/31115, S. 14 f.
[13]    Grundlegend BGHSt 11, 67 (70 f.).
[14]    Zusammenfassend etwa Eisele/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorb. §§ 185 ff. Rn. 1; Regge/Pegel, in: MüKo-StGB, Vorb. § 185 Rn. 13 ff.
[15]    Maurach, BT, 2. Aufl. (1956), § 17 I 1.
[16]    Siehe die Begründung des Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vom 30.3.2021 (BGBl. I, S. 441), BT-Drs. 19/17741, S. 1.
[17]    Siehe die Begründung des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – […] Verbesserung der Bekämpfung verhetzender Inhalte […] vom 14.9.2021 (BGBl. I, S. 4250), BT-Drs. 19/31115, S. 14.
[18]    Siehe nur Eisele/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB, § 185 Rn. 4; Valerius, in: BeckOK-StGB, § 185 Rn. 29 f., jeweils mit Beispielen. Zu Reformüberlegungen Eisele und Schmidt, jeweils in diesem Heft.
[19]    BGHSt 36, 145 (148 f.); Eisele/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder StGB, § 185 Rn. 2 und 3a; Valerius, in: BeckOK-StGB, § 185 Rn. 27; hierzu auch Hilgendorf, in: LK-StGB, § 185 Rn. 30 ff.
[20]    Zu diesen und weiteren Besonderheiten der Kommunikation im Internet statt vieler Beck, MMR 2009, 736 (738 f.); Nussbaum, KriPoZ 2021, 215 (215 f.); Valerius, JRE 23 (2015), 377 (382 ff.).
[21]    BGBl. I, S. 441.
[22]    BT-Drs. 19/17741, S. 35.
[23]    BT-Drs. 19/17741, S. 35.
[24]    Eisele/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB, § 185 Rn. 8; Regge/Pegel, in: MüKo-StGB, § 185 Rn. 12; Valerius, in: BeckOK-StGB, § 185 Rn. 24. Speziell zur Auslegung von Äußerungen im Internet Hilgendorf/Kusche/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, 3. Aufl. (2022), Rn. 182 ff.; zu den Anforderungen an die Feststellungen der Tatgerichte bei öffentlichen Postings in sozialen Medien BayObLG, BeckRS 2020, 35559 Rn. 5 ff.
[25]    Insbesondere bleibt Ehrverletzungen im Internet zwar häufig, nicht aber zwingend eine größere Intensität zuzuschreiben. Schon mit der Qualifikation des § 185 Var. 2 StGB geht somit eine Vereinfachung einher, die nicht jedem Einzelfall gerecht wird. Zu dieser und zu weiterer Kritik Oğlakcıoğlu, ZStW 132 (2020), 521 (542 f.); Valerius, ZStW 132 (2020) 666 (688 f.); befürwortend hingegen Doerbeck, JR 2021, 54 (58 f.); ausführlich zur Diskussion Großmann, GA 2020, 546 (548 ff.).
[26]    Kritisch zur Berechtigung des § 192a StGB Kusche und Rostalski/Weiss, jeweils in diesem Heft.
[27]    BVerfG, NJW 2020 (2622, 2629, 2631 und 2636).
[28]    BVerfG, NJW 2020 (2622).
[29]    BVerfG, NJW 2020 (2629).
[30]    BVerfG, NJW 2020 (2631).
[31]    BVerfG, NJW 2020 (2636).
[32]    Vgl. auch Nr. 232 Abs. 1 RiStBV, wonach bei Beleidigungen von Justizangehörigen während der Ausübung ihres Berufs oder in Beziehung auf ihn in der Regel das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu bejahen ist, sofern die vorgesetzte Dienststelle zur Wahrung des Ansehens der Rechtspflege Strafantrag nach § 194 Abs. 3 StGB stellt.
[33]    Siehe nur https://www.zeit.de/news/2021-09/09/innensenator-sieht-sich-bei-pimmelgate-im-recht (zuletzt abgerufen am 10.2.2023).
[34]    BR-Drs. 687/22, S. 11.
[35]    BR-Drs. 687/22, S. 14.
[36]    BR-Drs. 687/22, S. 15.
[37]    BR-Drs. 687/22, S. 16.
[38]    BGBl. I, S. 925.

 

 

 

 

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