Alexander Ilsner: Psychosoziale Prozessbegleitung im Strafverfahren. Vom Anliegen zum Rechtsanspruch

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2021, Nomos, ISBN: 978-3-8487-8280-2, S. 374, Euro 98,00.

Die psychosoziale Prozessbegleitung war vor der Einfügung des § 406g StPO im Dezember 2019 nur in § 406 Abs. 1 Nr. 5 StPO a.F. erwähnt und wurde lediglich in einigen Bundesländern praktiziert. Insofern ist es verdienstvoll, sich intensiv mit dieser jungen Vorschrift aber auch der Rechtsstellung des psychosozialen Prozessbegleiters im Straf- und Zivilverfahren auseinanderzusetzen.

Im ersten Kapitel werden die Grundlagen der psychosozialen Prozessbegleitung umrissen und zunächst ein Einblick in die kurze Historie gegeben. Hierzu wird nicht nur auf den Frankfurter Auschwitz Prozess Bezug genommen, sondern auch diverse Opferschutzprojekte beschrieben. Die Implementierung in das Strafverfahrensrecht seit 2009 wird umrissen, bevor dann den konzeptionellen Grundlagen nachgespürt wird. Hier wird der zeitliche und inhaltliche Rahmen psychosozialer Prozessbegleitung sowie deren Qualitäts- und Qualifikationsanforderungen umschrieben.

Das zweite Kapitel geht dezidiert auf die Verletztenrechte gem. § 406g StPO ein. Zunächst wird das allgemeine Beiziehungsrecht des Verletzten nach § 409g Abs. 1 S. 1 StPO untersucht. Der Verfasser stellt fest, dass sich der Verletztenbegriff aus zwei Komponenten zusammensetzt. So wird an die Schutznormtheorie angeknüpft und sodann danach gefragt, ob der Betreffende in den engen Angehörigenkreis des § 395 Abs. 2 S. 1 StPO fällt. Durch diese zweistufige Prüfung könne das Verletztenmerkmal stets eindeutig bejaht oder verneint werden. Eine darüberhinausgehende Ausdehnung des Opferunterstützungsdienstes auf Zeugen sei nicht vorgesehen und bleibe einer expliziten gesetzlichen Regelung vorbehalten.

Kritisch bewertet der Verfasser die auslagenrechtliche Ungleichbehandlung nebenklagebefugter Verletzter. Er spricht sich für einen auslagenrechtlichen Gleichlauf zwischen dem Nebenkläger und dem bloß nebenklagebefugten Verletzten aus, indem § 472 Abs. 3 S. 1 StPO durch Einbindung der Zentralnorm des § 406g StPO ergänzt wird.

Als „Filetstück der Reformbemühungen“ (S. 130) bezeichnet der Verfasser die in § 406g Abs. 3 StPO vorgesehenen Leistungsrechte auf kostenlose Beiordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters unabhängig von den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Verletzten. Es wird nach eingehender Untersuchung zwar kein grundlegender Reformbedarf bei den in § 406g Abs. 3 StPO vorgesehenen Leistungsrechten gesehen, jedoch ein punktueller Nachbesserungsbedarf. Einen Novellierungsbedarf sieht der Verfasser im Bereich der Ermessensbeiordnung nach § 406g Abs. 3 S. 2 StPO. Während ein Rechtsanspruch auf Beiordnung nur in den eng umgrenzten Fällen des § 406g Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 397a Abs. 1 Nrn. 4 u. 5 StPO vorgesehen sei, stehe die Beiordnung für die in § 406g Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 397a Abs. 2 Nrn. 1-3 StPO genannten Verletzten im richterlichen Ermessen. Allerdings sei diese gesetzlich angelegte Unterscheidung wenig sinnvoll. Würden die vorhandenen tatsächlichen Anhaltspunkte in einer abschließenden Gesamtschau gewürdigt und die besondere Schutzbedürftigkeit des Antragstellers festgestellt, so bestehe auf der Rechtsfolgenebene kein Raum mehr für Ermessenserwägungen. Vielmehr müsse dann ein psychosozialer Prozessbegleiter beigeordnet werden. Hier sei eine Uminterpretation der Ermessensregelungen in eine „Muss“-Vorschrift sinnvoll, so dass eine gesetzestechnische Anpassung nicht zwingend geboten, jedoch aus Klarstellungsgründen sicherlich sinnvoll sei (S. 216).

Der Verfasser kritisiert zudem, dass sich das bundesgesetzlich vorgesehene Vergütungsmodell, an der sich die meisten Landesregierungen orientieren, als wenig praxistauglich erwiesen habe. Die angesetzten Fallpauschalen kämen gerade in umfangreichen und langwierigen Verfahren zu einer unzureichenden Vergütung der psychosozialen Prozessbegleiter. Daher sei dieses Vergütungsmodell durch ein leistungsorientiertes Vergütungsmodell nach dem Vorbild des RVG zu ersetzen, dass eine Abrechnung nach Sitzungstagen ermöglicht. Außerdem solle die Kostenübernahme bei Hinzuziehung eines Dolmetschers für die Verständigung mit dem beigeordneten Prozessbegleiter explizit geregelt werden.

Im dritten Kapitel wird die Rechtsstellung des psychosozialen Prozessbegleiters im Strafverfahren umfassend beleuchtet. Zunächst erfolgt eine Abgrenzung zur Rechtsbeistandschaft. Es wird herausgearbeitet, dass im Vergleich zu den Befugnissen der Zeugen- und Verletztenbeistände die Verfahrensrechte des psychosozialen Beistands de lege lata stark eingeschränkt sind. Das Gesetz regelt lediglich die Anwesenheitsbefugnisse des Prozessbegleiters. Bei den Ausschluss- und Ablehnungsmöglichkeiten wird zwischen der psychosozialen Prozessbegleitung mit und ohne Beiordnung differenziert sowie die Rechtsmittel beschrieben.

Daher prüft der Verfasser in einem weiteren Schritt, inwieweit de lege ferenda Vorschläge sinnvoll sind und setzt sich mit dem Für und Wider sehr ausgewogen und unter stets argumentativ sehr guter Stellungnahme auseinander.

Er schlägt vor, dass dem Prozessbegleiter auf Verlangen auch das Wort erteilt werden sollte, damit Anregungen an das Gericht formuliert werden können, sofern die Belastungssituation des Verletzten nicht anders abgewendet werden kann. Damit solle die Möglichkeit geschaffen werden, das Gericht für die besonderen Belange des Verletzten zu sensibilisieren und auf einschlägige strafprozessuale Opferschutzmaßnahmen hinzuweisen. Weitergehende Offensivrechte in Form von Frage-, Beanstandungs- und Antragsrechten seien de lege ferenda dagegen nicht wünschenswert. Auch bedürfe es weder der Strafakteneinsicht noch eines Zeugnisverweigerungsrechts des psychosozialen Prozessbegleiters.

Bezüglich des Anspruchs auf Mitteilung des Vernehmungstermins möchte der Verfasser nach den Erscheinungsformen des § 406g StPO differenzieren. Dem einfachen Prozessbegleiter nach § 406g Abs. 1 S. 1 StPO solle ein Anspruch auf Mitteilung des Vernehmungstermins bzw. Ladung zur Hauptverhandlung versagt bleiben. Dagegen solle dem qualifizierten Prozessbegleiter i.S.d. § 406g Abs. 3 StPO ein solcher Anspruch eingeräumt werden, auch wenn es einer förmlichen Ladung nicht bedürfe. Ein Rechtsanspruch auf Terminverlegung im Verhinderungsfall sei dagegen nicht notwendig.

In einem weiteren Kapitel widmet sich der Verfasser der Frage, ob es einer psychosozialen Prozessbegleitung im Zivilverfahren bedarf. Er bejaht die Notwendigkeit aufgrund der vergleichbaren Schutzbedürftigkeit von Straftatopfern im Zivilverfahren. Angesichts des defizitären Opferschutzniveaus sei die psychosoziale Prozessbegleitung auch im Zivilverfahren angebracht.

In einem letzten Kapitel werden die wesentlichen Kernaussagen der Arbeit geschickt zusammengefasst. Ausblickend äußert der Verfasser den Wunsch, dass im Falle einer Nachbesserung des Instituts der psychosozialen Prozessbegleitung doch seine de lege ferenda Vorschläge Berücksichtigung finden sollten (S. 351). Diesem Wunsch kann sich die Rezensentin nur anschließen. Über diese kriminal- und – im Zusammenhang mit den zivilverfahrensrechtlichen Ausführungen – rechtspolitischen Überlegungen hinaus ist dieses Werk aber auch als Grundlagenwerk zum jungen Institut psychosozialer Prozessbegleitung sehr gut geeignet.

 

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