Die Rechtsprechung und der Widerstand mit Gewalt – Plädoyer gegen eine fortschreitende begriffliche Entkonturierung – Zugleich Besprechung von KG, NJW 2023, 2792 („Letzte Generation“)

von Prof. Dr. Fredrik Roggan 

Beitrag als PDF Version 

Es entspricht einer Tradition der bundesrepublikanischen Rechtsprechung, den in verschiedenen Straftatbeständen existierenden Begriff der Gewalt extensiv auszulegen. So soll ein Autofahrer, der an einem anderen, blockierten Kfz nicht ohne Gefahr für die eigene Gesundheit vorbeifahren kann, Opfer einer Gewalthandlung und damit von den Blockierenden genötigt sein. Die jüngste Judikatur meint, dass auch ein Polizeibeamter, der die auf dem Straßenbelag festgeklebte Hand eines Klimaaktivisten mit einem Lösungsmittel übergießt und dann beispielsweise mithilfe eines Fadens möglichst behutsam löst, ein Gewaltopfer darstellt. Hierbei soll es sich um einen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 Abs. 1 StGB handeln (können). Der Beitrag kritisiert diese weitestgehende Loslösung des Gewaltbegriffs vom natürlichen Wortsinn.

I. Die lange Vorgeschichte einer Entkonturierung

Bei einer begrifflichen Spurensuche stößt man im Falle der „Gewalt“ zunächst auf die Umschreibung, dass es sich hierbei um die „Macht, Befugnis, das Recht und die Mittel (handele), über jemanden (oder) etwas zu bestimmen, zu herrschen“. Alternativ kann unter dem Begriff auch ein „unrechtmäßiges Vorgehen, wodurch jemand zu etwas gezwungen wird“ oder auch „[gegen jemanden, etwas rücksichtslos angewendete] physische Kraft, mit der etwas erreicht wird“ verstanden werden.[1] Der Terminus findet als Tatbestandsmerkmal – auch in Kombination einer Drohung – im Strafgesetzbuch an 44 Stellen Verwendung und wird daneben kombiniert mit anderen Substantiven (etwa –tat, –herrschaft, –tätigkeit oder auch –maßnahmen). Dabei können sich die Definitionen durchaus graduell unterscheiden. So soll die „Gewalt“ in Falle eines Hochverrats gegen den Bund (§ 81 StGB) beispielsweise tatbestandsbezogen enger auszulegen sein, als dies bei einer dem Individualrechtsschutz dienenden Vorschrift der Fall ist.[2] Schon aus Bestimmtheitsgründen sollten sich die strafrechtlichen Gewaltbegriffe jedoch nicht vollständig vom einleitend genannten, allgemeinen Sprachgebrauch entfernen.

Bekanntermaßen erfuhr der Gewaltbegriff in der Vergangenheit eine besonders prominente Befassung im Zusammenhang mit dem Nötigungstatbestand (§ 240 Abs. 1 StGB) und dort namentlich im Kontext mit Blockadeaktionen. Um den Tatbestand bejahen und damit eine Strafbarkeit von blockierenden Personen begründen zu können, sah sich die Rechtsprechung zu einer „Vergeistigung“ des Gewaltbegriffs veranlasst und subsumierte auch solche Verhaltensweisen unter ihn, bei der es zu keinem körperlichen Kontakt zwischen den Beteiligten kam. Der hierzu gehörige (an dieser Stelle nicht nachzuzeichnende) Diskurs fand ihren bisherigen Schlusspunkt in der sog. „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des BGH[3] einschließlich seiner Billigung[4] durch das BVerfG[5]: Von einer körperlichen Kraftentfaltung soll auch ausgegangen werden können, wenn die Überwindung einer ersten Reihe von dort abgestellten Kfz das Risiko der Selbstschädigung für die in der zweiten Reihe stehenden Kfz-Führenden ausgelöst hätte, wenn diese sich hätten widersetzen wollen.[6] In derselben Entscheidung wurde auch einem Anketten an ein zu blockierendes Eingangstor eine über den psychischen Zwang hinausgehende Eignung zugesprochen, Dritten den Willen der Demonstranten aufzuzwingen: Dieses habe den Demonstranten die Möglichkeit genommen, beim Heranfahren von Kraftfahrzeugen auszuweichen und die Räumung einer Einfahrt erschwert.[7]

Mit zuletzt genannter Argumentation ist ein Brückenschlag möglich zu der aktuell aufgeworfenen Frage, ob das Ankleben auf einer Straße – namentlich, wenn eine Verurteilung wegen Nötigung aus Gründen fehlender Verwerflichkeit (§ 240 Abs. 2 StGB) scheitert[8] – als Gewalt im Sinne von § 113 Abs. 1 StGB anzusehen sein kann. Als Tatopfer kommen hierbei dann freilich nicht blockierte Privatpersonen in ihren Kfz in Betracht, sondern Polizeibeamte, denen es um die Entfernung der blockierenden Mitglieder der „Letzten Generation“ (im Folgenden: „LG“) von einer Straße geht. Es ist mithin die Frage zu beantworten, ob das äußere Tatgeschehen, bei dem sich eine Person mittels Sekundenkleber auf einer Straße fixiert, sich mit der eingangs geschilderten, natürlichen Wortbedeutung von Gewalthandlungen überein bringen lässt – oder ob ein solches, strafrechtliches Verständnis sich hiervon – und ihr damit fortschreitend die Konturen nehmend[9] – (weitestgehend) entfernt hätte. Anlass hierzu gibt eine Revisionsentscheidung des KG, das dem erneut zur Entscheidung berufenen AG Tiergarten im Rahmen eines orbiter dictum ausführliche Hinweise („Segelanweisung“) gab (hierzu unter II.). Seine Erwägungen bedürfen der kritischen Würdigung (unter III.).

II. Wesentliche Erwägungen des KG

Die bereits angeführte Rechtsprechung des BVerfG aufgreifend ist das KG der Auffassung, dass das Festkleben auf einer Fahrbahn in seiner physischen Wirkung mit einem Selbstanketten an einem zu blockierenden Eingangstor vergleichbar sei und daher als Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB qualifiziert werden könne. Es liege eine durch tätiges Handeln bewirkte Kraftentfaltung vor, die gegen den Amtsträger gerichtet und geeignet ist, die Durchführung der Vollstreckungshandlung zu verhindern oder zu erschweren. Dass Polizeibeamten das durch Festkleben entstandene physische Hindernis durch Geschicklichkeit – etwa unter Verwendung eines Lösungsmittels – zu beseitigen in der Lage seien, stehe dem Merkmal der Gewalt nicht grundsätzlich entgegen und nehme dem Vollstreckungsbeamten nicht ohne weiteres die körperliche Spürbarkeit. Dass Polizeibeamte für diesen Vorgang eine bis eineinhalb Minuten benötigten, sei ein gewichtiges Indiz, das für die Annahme von Gewalt im Sinne der in Rede stehenden Vorschrift spreche.[10] Auch der Zeitpunkt der relevanten Tathandlung stehe einer Strafbarkeit nicht entgegen: Nicht relevant sei, dass eine Widerstandshandlung bereits vor Beginn der Vollstreckungshandlung (im entschiedenen Fall dem Entfernen der Demonstranten von der Fahrbahn) vorgenommen wurde. Zur Verwirklichung des objektiven Tatbestands genüge es, wenn der Täter gezielt eine Widerstandshandlung vornehme, die bei Beginn der Vollstreckungshandlung noch fortwirke. Um ein gezieltes Verhalten des Täters vom bloßen Ausnutzen eines bereits vorhandenen Hindernisses abzugrenzen, müsse allerdings in derartigen Fallgestaltungen der Wille des Täters dahin gehen, durch seine Tätigkeit den Widerstand vorzubereiten. Ein Tatgericht habe deshalb dahingehende Feststellungen zu treffen, ob sich der Täter (zumindest auch) festgeklebt hat, um sich der von ihm erwarteten polizeilichen Räumung zu widersetzen.[11] Bei alledem stützt sich das KG im Wesentlichen auf die Rechtsprechung des BGH aus dem Jahr 1962 (insbesondere auch hierzu im Folgenden).[12]

III. Kritische Würdigung

Die vom KG vertretene Auffassung zur Auslegung des Gewaltbegriffs löst sich vom natürlichen Wortsinn weitestgehend und beruft sich dabei auf eine Entscheidung des BGH, die aus den Anfangsjahren der bundesrepublikanischen Judikatur stammt und in dogmatischer Hinsicht als eher unterkomplex zu bezeichnen ist. Nicht zuletzt aus verfassungsrechtlichen Gründen vermag sie nicht zu überzeugen (unter 5.).

1. Vorbemerkung

Der Beschluss des KG vermeidet vollständig eine Befassung mit dem Schrifttum bzw. dort vorzufindenden Argumentationen, die ein restriktiveres Verständnis des Gewaltbegriffs beinhalten. Stattdessen beruft es sich ausschließlich auf andere Judikate, so dass es – pointiert formuliert – innerhalb der „Rechtsprechungs-Bubble“ verbleibt. Durch den Verweis auf die Judikatur des BVerfG zur Nötigungsstrafbarkeit (Vergleichbarkeit eines Ankettens mit dem Ankleben auf eine Straße) erscheint es auch nicht ausgeschlossen, dass es die Gewaltbegriffe in § 240 Abs. 1 und § 113 Abs. 1 StGB fälschlich[13] für deckungsgleich hält.

Vor allem aber lohnt ein Blick auf die vom KG in Bezug genommene Rechtsprechung des BGH, in der auch die gezielte Vorbereitung einer „Widerstandsleistung“ als vorweggenommenes tätiges Handeln und damit tatbestandlich im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB begründet wird: „Dieses Ergebnis entspricht der Gerechtigkeit“. Es sei nicht einzusehen, warum der vorbereitete, also geplante Widerstand anders behandelt werden solle als der nicht vorbereitete, der erst im Augenblick der Amtshandlung beginne. Der vorbereitete Widerstand, der oft wirksamer und deshalb mindestens ebenso strafwürdig sei wie der nicht vorbereitete, müsste bei gegenteiliger Entscheidung zur Straflosigkeit führen. „Dieses Ergebnis wäre auch in rechtspolitischer Hinsicht unerfreulich“.[14] Das KG macht sich mithin eine Argumentation zueigen, die sich weitestgehend auf ein „weil nicht sein kann, was nicht sein darf“ reduzieren lässt.[15] Nicht zuletzt deswegen hat die Entscheidung eine eingehende inhaltliche Befassung verdient. Ausgangspunkt hat hierbei die anerkannte Definition zu sein, wonach mit Gewalt Widerstand geleistet wird, wenn unter Einsatz materieller Zwangsmittel, vor allem körperlicher Kraft, ein tätiges Handeln gegen die Person des Vollstreckenden erfolgt, das geeignet ist, die Vollendung der Diensthandlung zumindest zu erschweren. Die Gewalt muss gegen den Amtsträger gerichtet und für ihn – unmittelbar oder mittelbar über Sachen – körperlich spürbar sein.[16] 

2. Zur physischen Wirkung des Anklebens auf einer Straße

Wenn denn die körperliche Spürbarkeit ein wesentliches Kriterium für das Vorliegen einer Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB sein soll, so stellt sich die Frage, zu welchem Zeitpunkt und aus welchem Grunde ein Vollstreckungsbeamter eine solche Empfindung haben muss. Unproblematisch ist dies für Fälle zu beantworten, in denen sich ein Festgenommener aus dem Haltegriff eines Polizeibeamten entwindet, im Zufahren auf einen Beamten, um ihn zur Freigabe der Straße zu zwingen oder auch bei einem Schuss auf den Reifen eines polizeilichen Verfolgers.[17] Von diesen Konstellationen unterscheidet sich ein Ankleben auf einer Straße vor dem Erscheinen von Vollstreckungsbeamten grundlegend, weil hiernach keine Aktivität einer später von der Straße zu entfernenden Person mehr erfolgt. Typischerweise verhalten sich namentlich die Aktivisten der „LG“ nach dem Festkleben gegenüber Polizeibeamten rein passiv. Zur ersten Berührung zwischen den Personen – und damit einer körperlichen Spürbarkeit – kommt es erst, wenn sich die Vollstreckungsbeamten um das Lösen des Klebers bemühen. Die Art und Intensität der Spürbarkeit wird dabei alleine von der Art der Durchführung der Maßnahme bestimmt, die festgeklebten Personen haben hierauf keinerlei Einfluss. Ebenso wenig können sie die Geschicklichkeit der Beamten beeinflussen und damit beispielsweise die Dauer des Ablösevorgangs (näher dazu unter 3.). Wenn das Verhalten der Personen sich zu diesem Zeitpunkt aber darin erschöpft, gezwungenermaßen (wenngleich selbst verursacht) den Ort nicht zu verlassen, so ist von einem rein passiven Widerstand auszugehen. Der Gesamtsinn des Normbefehls in § 113 Abs. 1 StGB aber verlangt eine Aktivität mit Gewalt.[18]

Richtigerweise ist damit schon aus diesem Grund (zu weiteren im Folgenden) der Vorgang des (Selbst-)Anklebens auf einer Straße (oder auch an einen beliebigen anderen Gegenstand, etwa einem Kfz) nicht als Widerstandleisten mit Gewalt anzusehen.[19] Zu diesem Zeitpunkt erfolgt in den Fällen der Auflösung von Blockadeaktionen der „LG“ regelmäßig keine Kraftäußerung der Aktivisten, die sich gegen den Körper bzw. die Person eines Vollstreckungsbeamten richtet. Wenn überhaupt ließe sich beim Vorgang des Anklebens von einer Einwirkung auf die Straße sprechen,[20] die aber unproblematisch nicht tatbestandlich ist. Zutreffend wird darauf hingewiesen, dass die Annahme von Gewalt auch deswegen unpassend ist, weil im Falle der Drohungsvariante dann auch die Ankündigung, sich an einem anderen Gegenstand festzukleben, als Gewaltdrohung bezeichnet werden müsste.[21] Auch deshalb ist dem KG deutlich zu widersprechen. Auch sein Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG(Vergleichbarkeit mit einem Selbstanketten) trägt sein Ergebnis nicht, weil letztere auf eine nötigungsspezifische Gewalt bezogen ist.

3. Erschwerung einer Vollstreckungshandlung?

Das KG sieht im Ankleben auf einer Straße ein tätiges Handeln, das geeignet ist die Räumung der Blockadeaktionen zu verhindern oder erschweren. Auch diese Annahme bedarf der kritischen Prüfung. Nicht dargetan und im Übrigen auch nicht ersichtlich kann durch ein Ankleben auf einer Straße eine Räumung derselben nicht endgültig unterbunden werden. Denn selbst wenn sich durch die Verwendung von Sekundenkleber für einen gewissen Zeitraum eine durchaus stabile Verbindung zwischen dem Körper und dem Straßenbelag ergibt, so wäre diese nicht dauerhaft. Ohnehin ist nicht bekannt, dass durch eine Fixierung jemals eine Räumung verhindert worden wäre. Eine entsprechende Eignung besitzt ein Festkleben mithin nicht.

In Betracht kommt – jedenfalls im Ansatz – allerdings ein Erschweren der Maßnahme, weil die Vollstreckungsbeamten sich zunächst um das Beschaffen eines Lösungsmittels bemühen und sodann das „physische Hindernis“ (vorsichtig) von der Straße ablösen müssen. Je nach Einzelfall einschließlich der Verfügbarkeit des Mittels sowie geschultem Polizeipersonal kann dieser Vorgang einige Minuten (im das KG beschäftigenden Fall waren es eine bis anderthalb) oder auch längere Zeit in Anspruch nehmen. Damit ist die Frage zu beantworten, ob ein bloßer Zeitaufwandeiner Vollstreckungsmaßnahme mit ihrer Erschwerung im Sinne der genannten Definition gleichzusetzen ist. Eben dies wird von der Rechtsprechung teilweise verneint: Ein bloßer Zeitaufwand bei der Überwindung des Widerstandes, selbst wenn dieser erheblich wäre, und die damit verbundene „Lästigkeit“ für die Vollstreckungsbeamten sei nicht ausreichend. In diesen Fällen werde zwar Widerstand geleistet, jedoch kein gewaltsamer im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB.[22] Diese Position verdient schon deshalb Beifall, weil sie von der Vollstreckungshandlung her argumentiert: Das „Maß“ ihrer Beeinträchtigung im Vergleich zu einer völlig ungestörten Vornahme hängt in den hier interessierenden Konstellationen im Wesentlichen vom Verhalten bzw. den Möglichkeiten der Vollstreckungsbeamten ab. Die Betroffenen haben zwar den Anlass für das polizeiliche Einschreiten gesetzt, auf die letztlich „handwerkliche“ Vornahme der Maßnahmen unmittelbaren Zwangs aber keinen Einfluss mehr. Wenn und solange aber das Maß der tatsächlichen Erschwerung einer Vollstreckungsmaßnahme durch eine Widerstand leistende Person Einfluss auf das Strafmaß besitzt, so kann es umgekehrt nicht davon abhängen, ob ein besonders geschickter Polizeibeamte für seine Überwindung (hier: einen Ablösevorgang) nur wenige Sekunden benötigt, ein anderer, weniger geübter hingegen eine halbe Stunde benötigt hätte. Ebenso wenig dürfte sich auswirken, dass der Polizei möglicherweise die Lösungsmittelvorräte vorübergehend ausgegangen sind und sich aus diesem Grunde eine Straßenräumung verzögert hat. Jeweils hätten solche Umstände entscheidende Auswirkungen auf die Dauer der Maßnahme und damit die „Lästigkeit“ für die Polizeibeamten. Mit einer (relevanten) Erschwerung ist dies nicht gleichzusetzen. Die Zeitkomponente für sich genommen trägt zur Frage einer Tatbestandlichkeit im Sinne einer Gewalt nichts bei.[23]

4. Zur Erheblichkeit des Kraftaufwandes bei der Lösung einer Klebeverbindung

Relevant ist im Unterschied zur Thematisierung eines Zeitaufwands für das Überwinden eines Widerstands die Frage nach der hierfür vollstreckungsseitig nötigen Intensität des Kraftaufwands. Richtigerweise wird man nämlich als Voraussetzung für die Annahme tatbestandlicher Gewalt verlangen müssen, dass der Widerstand seinerseits durch den Amtsträger nur mit nicht ganz unerheblicher Gewaltanstrengung überwunden werden kann.

Andernfalls fehlte es an der notwendigen Rückbindung zum Gewaltbegriff.[24] Noch pointierter und mit Bezug auf die Blockaden der „LG“: Ein Ankleben auf einer Straße stellt keine Gewalt im Sinne von § 113 Abs. 1 StGB dar, wenn sich die Verbindung ihrerseits ohne Gewaltanwendung durch Vollstreckungsbeamte wieder lösen lässt. Wenngleich der BGH die Anforderungen insoweit stark relativiert hat,[25] so ist doch, wenn der Gewaltbegriff nicht endgültig entkonturiert werden soll, am Erfordernis eines Kraftaufwands festzuhalten.[26]   

Insoweit ist mehr als fraglich, ob die „körperliche Anstrengung“, die beim Ablösen von angeklebten Aktivisten von einer Straße typischerweise (insoweit sind Ausnahmefälle denkbar, bedürften aber einer besonders sorgfältigen Begründung) aufzuwenden ist, als nicht nur unerheblich zu bewerten ist.

Wird von Aktivisten einfacher Sekundenkleber zur Fixierung auf der Straße oder einem anderen Gegenstand genutzt, so genügt regelmäßig das Übergießen der betroffenen Stelle mit einem Lösungsmittel, das seinerseits die Klebemittel und damit die Haftung sukzessive schwächt. Hierdurch wird es Polizeibeamten dann möglich, durch das Hin- und Herziehen eines Fadens oder Stoffstücks an der Klebestelle die Person von der Straße zu lösen. Dieser schon aus Verhältnismäßigkeitsgründen möglichst behutsam durchzuführende Vorgang ist mit einem allenfalls vernachlässigenswerten körperlichen (Kraft-)Einsatz verbunden.[27] Die verlangte Spürbarkeit für die Vollstreckungsbeamten dürfte eher mit einem „Fingerspitzengefühl“ gleichzusetzen sein. Mitunter soll sich die körperliche Tätigkeit der Vollzugsbeamten darauf beschränkt haben, die festgeklebte Hand nur anzuheben, damit das Lösungsmittel auch unter die Hand gelangt.[28]

Zusammenfassend ist festzustellen, dass in den typischen Blockadefällen von den Polizeibeamten keine Kraft aufzuwenden ist, die als Gewalt anzusehen ist. Etwas anders könnte gelten – an der Straflosigkeit nach § 113 Abs. 1 StGB nach hier vertretener Auffassung allerdings nichts ändernd (näher unter 5.) – bei der Verwendung eines Beton-Kleber-Gemischs, das beispielsweise das Auffräsen des Straßenbelangs erfordert.[29] Wenn aber mehr oder weniger feinfühlige Geschicklichkeit ausreichend ist, um einen Widerstand zu überwinden, so spricht dies im hier gegenständlichen Kontext für die Verneinung der Tatbestandlichkeit im Sinne von § 113 Abs. 1 StGB.

5. Insbesondere: Zum Bestimmtheitsgrundsatz in Gestalt des Analogieverbots

Der Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie. Er verwehrt der Judikative, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festzulegen.[30] Verfassungswidrig ist demzufolge die Anwendung einer Strafnorm in einem Umfang, der sich nicht mehr durch Auslegung erschließt. Insofern ist die grammatikalische Auslegung im Strafrecht besonders bedeutsam.[31] Nicht zuletzt durch dieses Gebot wird gewährleistet, dass jedermann vorhersehen kann, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist.[32]

Nach § 113 Abs. 1 StGB ist eine Tathandlung überhaupt nur dann relevant, wenn sie bei einer Vollstreckungshandlung vorgenommen wird. Der Wortlaut setzt also voraus, dass diese bereits existiert bzw. bereits begonnen hat. Sie darf auch noch nicht beendet sein. Insoweit besteht in Rechtsprechung und Schrifttum Konsens.[33] Dabei sollen Beginn und Ende der Vollstreckungshandlung nicht rein formal in vollstreckungsrechtlicher Betrachtung festgelegt werden, sondern auch im Interesse einer kriminalpolitisch motivierten Privilegierung der Widerstandssituation auf Ereignisse in unmittelbarem Zusammenhang mit der eigentlichen hoheitlichen Tätigkeit ausgedehnt werden (können). Ein entsprechend enger Zusammenhang mit der Vollstreckungstätigkeit soll vorliegen, wenn sich der Amtsträger bereits im Kontakt- bzw. Herrschaftsbereich des von der Amtshaftung Betroffenen oder der zu vollstreckenden Amtshandlung befindet.[34] Bereits diese Position ist unter dem Gesichtspunkt einer grammatikalischen Auslegung der gesetzlich genannten Tatsituation („bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung“) nicht frei von Bedenken, denn die bloße räumliche oder zeitliche Nähe eines Vollstreckungsbeamten zu einem Betroffenen (oder einer zu vollstreckenden Amtshandlung) besagt noch nichts über das Ob (Entschließungsermessen) oder Wie (Auswahlermessen) von dessen in der Zukunft liegenden Vollstreckungshandlung.

Die vom KG vertretene Position geht allerdings noch weiter und bezieht, ohne dass jegliche Einschränkungen gemacht werden, sämtliche Verhaltensweisen in die Strafbarkeit ein, die vor Beginn der Vollstreckungshandlung stattfinden, soweit diese bei Beginn der hoheitlichen Maßnahme noch fortwirken. Letzteres ist ohne weiteres der Fall, wenn ein Polizeibeamter an einen auf der Straße festgeklebten Aktivisten herantritt, um diesen von diesem Orte zu entfernen. In diesem Sinne stellt das Sich-Festkleben einen vorweggenommenen Widerstand gegen die Vollstreckungshandlung dar. Im Sinne des BGH entspricht dieses Ergebnis der „Gerechtigkeit“, ein anderes wäre „in rechtspolitischer Hinsicht unerfreulich“.

Indessen geht das genannte Verständnis über den gesetzlichen Wortlaut hinaus und wendet die Regelung auch auf Verhaltensweisen an, die im zeitlich beliebigen Vorfeld einer Vollstreckungshandlung gezeigt werden. Einer solchen, analogen Anwendung des Straftatbestands des § 113 Abs. 1 StGB wird in der Literatur mit Recht widersprochen[35] und zutreffend von einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG ausgegangen.[36] Im Ergebnis setzt sich die Rechtsprechung durch die Einbeziehung des vorweggenommenen Widerstands an die Stelle des Gesetzgebers, dem exklusiv die Kompetenz zustände, zum Zeitpunkt einer Vollstreckungshandlung noch fortwirkende (Widerstands-)Handlungen in die Strafbarkeit einzubeziehen.

IV. Kurzes (Schluss-)Plädoyer

Nicht unwesentlichen Teilen der Rechtsprechung ist in der Frage der Auslegung des Gewaltbegriffs eine gewisse
Beliebigkeit zu attestieren. Mit Blick auf den Nötigungstatbestand wird – auch mit Blick auf das BVerfG – konstatiert, dass eine dogmatisch und praktisch befriedigende abschließende Lösung bislang nicht hinreichend deutlich wird.[37] Auch aktuell wird daher die Hoffnung geäußert, dass die insoweit herrschende Judikatur aufgegeben wird.[38]

Die Begriffe der Gewalt in § 240 und § 113 StGB decken sich zwar nicht – und im Falle des Widerstands wäre damit auch ein anderer Befund denkbar. Letzteres ist indessen nicht der Fall, wie sich nicht zuletzt im Beschluss des KG manifestiert. Insgesamt sollte sich die Rechtsprechung von einer ergebnisorientierten Auslegung lösen, wie sie deutlich in der angeführten – und noch heute als Leitentscheidung behandelte! – BGH-Judikatur aus dem Jahr 1962 zum Ausdruck kommt und auch im Jahr 2023 noch perpetuiert wird.

Dass die Klebe-/Blockadeaktionen der „LG“ mit einem gesteigerten Maß an Lästigkeit für die Allgemeinheit und für die Polizei im Besonderen verbunden sind, dürfte nicht einmal von den Aktivisten bestritten werden. Ob Lästigkeit aber mit Strafwürdigkeit gleichzusetzen ist, bedürfte einer gesetzgeberischen Befassung und ggf. eines Bekenntnisses. Dies ist nicht die Aufgabe der Rechtsprechung.

 

[1]      Duden, Dudenredaktion, Deutsches Universalwörterbuch, 10. Aufl. (2023), Stichwort „Gewalt“.
[2]      Vgl. nur Fischer, StGB, 70. Aufl. (2023), § 81 Rn. 6a.
[3]      BGHSt 41, 182 (183 ff.).
[4]      Fischer, StGB, § 240 Rn. 20a; ausf. auch Küper/Zopfs, Strafrecht BT, 11. Aufl. (2022), S. 197.
[5]      BVerfGE 104, 92 (101 ff.).
[6]      BVerfGE 104, 92 (102 f.).
[7]      BVerfGE 104, 92 (102).
[8]      Vgl. etwa LG Berlin, StV 2023, 546 (Ls.); AG Tiergarten, NStZ 2023, 239 (240 ff.) = StV-S 2023, 8 (9 f.); ausf. Arzt, Vorgänge Nr. 241 (1/2023), 113 (114 ff.); a.A. AG Tiergarten, NStZ 2023, 242 f.; Erb, NStZ 2023, 577 (578 f.).
[9]      Ähnlich Homann, JA 2023, 554.
[10]    KG, NJW 2023, 2792 (2793, Rn. 20) = NZV 2023, 461 (463).
[11]    KG, NJW 2023, 2792 (2793, Rn. 21) = NZV 2023, 461 (463).
[12]    BGHSt 18, 133 (134 ff.).
[13]    Vgl. dazu jüngst Heger, VerfBlog, 2023/6/15, S. 1 f. (pdf); ausf. auch Bosch, in: MüKo-StGB, 4. Aufl. (2021), § 113 Rn. 19; Rosenau, in: LK-StGB, 13. Aufl. (2021), § 113 Rn. 23; Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 113 Rn. 42; Barton, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts, Bd. 4, 2019, S. 889; Zöller/Mavany, Strafrecht – BT II, 2. Aufl. (2020), S. 204.
[14]    BGHSt 133 (135 f.).
[15]    Dießner, VerfBlog, 2023/6/16, S. 7 (pdf), mit Blick auf LG Berlin, Beschl. 31.5.2023 – 502 Qs 138/22.
[16]    BGHSt 65, 36 (37).
[17]    Weitere klare Fälle etwa bei Barton, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, S. 890.
[18]    Barton, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, S. 892.
[19]    Ebenso Heger, VerfBlog, 2023/6/15, S. 2 (pdf).
[20]    Dießner, VerfBlog, 2023/6/16, S. 4 (pdf).
[21]    Homann, JA 2023, 554 (555).
[22]    LG Berlin, Beschl. v. 20.4.2023 – 503 Qs 2/23 – juris, Rn. 9; AG Tiergarten, NStZ 2023, 239 (240) = StV-S 2023, 8; a.A. LG Berlin, Beschl. vom 21.11.2022 – 534 Qs 80/22.
[23]    Krit. auch Preuß, NZV 463 (464).
[24]    LG Berlin, Beschl. v. 20.4.2023 – 503 Qs 2/23 – juris, Rn. 9.
[25]    Küger/Zopfs, S. 194 m.w.N.
[26]    Zu den im Schrifttum verlangten Voraussetzungen zusammenfassend Küper/Zopfs, S. 199 f.; Rosenau, in: LK-StGB, § 113 Rn. 23; Zöller/Mavany, S. 204: „Bagatellfälle nicht erfasst“; vgl. auch Wessels/Hettinger/Engländer, Strafrecht – BT 1, 46. Aufl. (2022), S. 195 f.
[27]    Dießner, VerfBlog, 2023/6/16, S. 6 (pdf); Bohn, HRRS 2023, 225 (233); Jahn/Wenglarczyk, JZ 2023, 885 (889); Seel, HRRS 2023, 313 (315); vgl. auch Preuß, NZV 2023, 60 (66).
[28]    Homann, JA 2023, 554 (555).
[29]    Erb, NStZ 2023, 577 (580).
[30]    St. Rspr., vgl. nur BVerfGE 126, 170 (194 f.).
[31]    Brüning, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. (2019), Art. 103 Rn. 73.
[32]    BVerfGE 126, 170 (195).
[33]    Nachweise auch auf Rspr. bei Bosch, in: MüKo-StGB, § 113 Rn. 13 m.w.N.; vgl. auch Fischer, StGB, § 113 Rn. 7a; Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl. (2023), § 113 Rn. 4; Barton, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, S. 885 f.; Wessels/Hettinger/Engländer, S. 195; Zöller/Mavany, S. 203.
[34]    Bosch, in: MüKo-StGB, § 113 Rn. 13; vgl. auch Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, § 113 Rn. 15; Zöller/Steffens, JA 2010, 161 (162).
[35]    Bosch, in: MüKo-StGB, § 113 Rn. 14; vgl. auch Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, § 113 Rn. 15; a.A. Rosenau, in: LK-StGB, § 113 Rn. 20; Preuß, NZV 2023, 60 (66); dies., NZV 2023, 463 (464).
[36]    Dießner, VerfBlog, 2023/6/16, S. 6 (pdf); Bohn, HRRS 2023, 225 (233); Homann, JA 2023, 554 (555); vgl. auch Zöller/Steffens, JA 2010, 161 (163).
[37]    I.d.S. Fischer, StGB, § 240 Rn. 20.
[38]    Arzt, Vorgänge Nr. 241 (1/2023), 113 (119).

 

 

Unsere Webseite verwendet sog. Cookies. Durch die weitere Verwendung stimmen Sie der Nutzung von Cookies zu. Informationen zum Datenschutz

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen.
Wenn Sie diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwenden oder auf "Akzeptieren" klicken, erklären Sie sich damit einverstanden.

Weitere Informationen zum Datenschutz entnehmen Sie bitte unserer Datenschutzerklärung. Hier können Sie der Verwendung von Cookies auch widersprechen.

Schließen