KriPoZ-RR, Beitrag 15/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 10.02.2021 – 2 BvL 8/19: Rückwirkende Vermögensabschöpfung ausnahmsweise zulässig

Amtliche Leitsätze:

  1. Die Vermögensabschöpfung nach dem Reformgesetz vom 13. April 2017 ist keine dem Schuldgrundsatz unterliegende Nebenstrafe, sondern eine Maßnahme eigener Art mit kondiktionsähnlichem Charakter (Fortführung von BVerfGE 110, 1 <13 ff.>).

  2. Die in Art. 316h Satz 1 EGStGB angeordnete Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte Rückwirkung“) ist nicht an Art. 103 Abs. 2 GG, sondern an dem allgemeinen Rückwirkungsverbot zu messen. Sie ist hier ausnahmsweise zulässig.

Sachverhalt:

Der BGH hat dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob Art. 316h Satz 1 EGStGB mit den im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und in den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes unvereinbar sei, soweit er § 76a Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 78 Abs. 1 Satz 2 sowie § 76b Abs. 1 StGB jeweils in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 in Fällen für anwendbar erklärt, in denen hinsichtlich der rechtswidrigen Taten, aus denen der von der selbständigen Einziehung Betroffene etwas erlangt hat, bereits vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Juli 2017 Verfolgungsverjährung (§ 78 Abs. 1 Satz 1 StGB) eingetreten war.

Nach der alten Rechtslage war der sog. Verfall bei Verjährung der zu den Taterträgen führenden Straftat nicht mehr anordnungsfähig. Diesen Ausschluss schaffte der Gesetzgeber mit der Reform der Vermögensabschöpfung (Inkrafttreten: 1. Juli 2017) ab, um Lücken im Gesetz zu schließen und keinen Anreiz für rechtswidrige Taten bestehen zu lassen. Dies sorgte für eine Entkoppelung der nun „selbständigen Einziehung von Taterträgen“ genannten Vermögensabschöpfung von der Verjährung der zugrundeliegenden Straftat.

Art. 316h Satz 1 EGStGB hatte daraufhin angeordnet, dass diese selbständige Einziehung von Taterträgen auch bei Delikten genutzt werden kann, die vor Inkrafttreten der Neuregelung begangen worden sind und deren Verfolgung bereits verjährt ist.

Hiergegen hatten sich die Beschwerdeführer mit der Revision zum BGH gewandt, da das LG ein Verfahren gegen die Beschuldigten zwar wegen Verjährung eingestellt hatte, dennoch allerdings bei den von den Angeklagten geleiteten nebenbeteiligten Unternehmen die Einziehung von rund 10 Millionen Euro angeordnet hatte.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG hielt den in Art. 316h Satz 1 EGStGB geregelten Fall einer echten Rückwirkung für ausnahmsweise zulässig.

Die Einziehung von Taterträgen oder deren Wert sei gerade keine Strafe im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG, sondern eine Maßnahme eigener Art mit kondiktionsähnlichem Charakter, da der einzige Zweck der Vorschrift, das Abschöpfen eines verbleibenden Vermögensvorteils sei und gerade keine Übelszufügung. Diesen Charakter habe der Gesetzgeber auch durch die Neuregelung nicht aufgeben wollen.

Da somit Art. 103 Abs. 2 GG nicht eingreife, müsse die Norm am allgemeinen Rückwirkungsverbot gemessen werden. Dieses verbiete zwar grundsätzlich eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen, kenne allerdings auch Ausnahmen bei überragenden Belangen des Gemeinwohls, die dann dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgingen und den Vertrauensschutz zurücktreten ließen.

Diese Ausnahme greife bei Art. 316h Satz 1 EGStGB, denn dieser verfolge das legitime Ziel, strafrechtswidrig erlangte Vermögenswerte trotz mangelnder Strafverfolgung nicht beim Täter zu belassen, um jegliche Anreize für Straftaten zu unterbinden. Dieses Ziel sei von überragender Belange für das Gemeinwohl.

Da andererseits auch die Vertrauensschutzposition des Einziehungsbetroffenen nicht besonders stark ausfalle, da die Tat auch trotz Verjährung noch gesellschaftlich und strafrechtlich missbilligt werde, sei der Einziehungsbetroffene insoweit auch nicht schutzwürdig.

 

Anmerkung der Redaktion:

Weitere Informationen zur Reform der Vermögensabschöpfung finden Sie hier.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 14/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 14.01.2021 – 2 BvR 2032/19: Verletzung des Gebots bestmöglicher Sachaufklärung bei Verstoß gegen § 463 Abs. 4 Satz 2 StPO

Leitsatz der Redaktion:

Bestellt das Gericht einen Sachverständigen, der nur formal in einer organisatorisch getrennten Klinik arbeitet, stellt dies einen Verstoß gegen § 463 Abs. 4 Satz 2 StPO dar, was den Begutachteten in seinem Freiheitsgrundrecht in der Ausprägung des Rechts auf bestmögliche Sachverhaltsaufklärung (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. 104 Abs. 1 Satz 1 GG) verletzt.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war vom Landgericht Freiburg – Jugendkammer wegen verschiedener Delikte verurteilt worden. Daneben war die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und von einer Jugendstrafe abgesehen worden.

Das für die Vollstreckung zuständige Amtsgericht hatte den Beschwerdeführer zur Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung angehört und festgestellt, dass das erforderliche externe Gutachten noch nicht in Auftrag gegeben war.

Gegen die Beauftragung des Sachverständigen hatte der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer keine Einwände erhoben.

Später hatte er den Arzt wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, da er herausgefunden hatte, dass der Sachverständige teils in eigener Praxis und teils in einer Klinik desselben Krankenhausverbunds gearbeitet hatte, zu der auch die Unterbringungseinrichtung des Beschwerdeführers gehört hatte. Dies hätte gegen die Vorschrift des § 463 Abs. 4 Satz 3 StPO verstoßen.

Das AG hatte nach dem Gutachten die Fortdauer der Unterbringung angeordnet. Die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde ist vom LG Landau in der Pfalz verworfen worden, da keine Bedenken dagegen bestanden hätten, den beauftragten Gutachter im vorliegenden Fall als externen Sachverständigen im Sinne vom § 463 Abs. 4 Satz 3 StPO anzuerkennen. Er sei neben seiner Tätigkeit in einem eigenen Sachverständigenbüro als Leiter der forensischen Ambulanz des Klinikums für Forensische Psychiatrie beschäftigt. Der Beschwerdeführer habe sich demgegenüber im „P.-Institut“ befunden. Der Sachverständige arbeite somit weder in dem psychiatrischen Krankenhaus, in dem sich der Beschwerdeführer befinde, noch sei er erkennbar zu irgendeinem Zeitpunkt mit dessen Behandlung befasst gewesen.

Der Beschwerdeführer hat sich durch diese Entscheidung in seinem Freiheitsgrundrecht verletzt gesehen und Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des AG und des LG erhoben.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG gab der Verfassungsbeschwerde statt. Die Entscheidungen der Fachgerichte verletzten den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.

Das Grundrecht auf Freiheit enthalte aufgrund seines Stellenwerts und der Intensität, die Eingriffe in den Schutzbereich zumeist aufwiesen, auch ein Gebot der bestmöglichen Sachverhaltsaufklärung. Dieses Gebot komme in § 463 Abs. 4 StPO dadurch zum Ausdruck, dass ein unabhängiger Sachverständiger die Notwendigkeit der Fortdauer der Maßnahmen beurteilen soll, um die Entscheidung so objektiv wie nur möglich zu fällen. Da die Einhaltung der prozeduralen Erfordernisse bei Freiheitsentziehungen gem. Art. 104 Abs. 1 GG ein Gebot von Verfassungsrang sei, komme in der Auslegung des einfachen Rechts der StPO ein besonderer grundrechtlicher Einschlag zum Tragen.

Nach diesen Maßstäben hätten die Instanzgerichte die Bedeutung und Tragweite des Erfordernisses in § 463 Abs. 4 Satz 3 StPO verkannt, so das BVerfG.

Da der Sachverständige lediglich in einer anderen Klinik beschäftigt gewesen sei, die letztlich aber nur formal vom Institut des Beschwerdeführers getrennt gewesen sei, weil sie zur selben betrieblichen Einheit gehörte und zudem ein gemeinsamer Krankenhausträger sowie eine gemeinsame Rechtsform mit gemeinsamer Leitungs- und Verwaltungsebene bestehe, sei der Sachverständige nicht als externer Gutachter im Sinne des § 463 Abs. 4 Satz 3 StPO zu werten.

Dieses Ergebnis werde von der systematischen, telexlogischen und historischen Auslegung der Norm gestützt. Auch die vorherige Zustimmung des Beschwerdeführers ändere hieran nichts, da da dieser, ungeachtet der Frage der Disponibilität der Vorschrift, jedenfalls bei Bekanntwerden der Umstände seine Zustimmung widerrufen habe.

Anmerkung der Redaktion:

Bereits 2019 hatte das BVerfG entschieden, dass das Gebot der bestmöglichen Sachverhaltsaufklärung bei psychiatrischen Unterbringungen ein besonderes Gewicht habe und deshalb Zweifeln an der Aktualität eines Gutachtens substantiiert nachzugehen ist. Mehr dazu finden Sie im KriPoZ-RR, Beitrag 16/2019.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 13/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 15.12.2020 – 3 StR 386/20: Zum hinterlistigen Überfall in § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB

Leitsatz der Redaktion:

Zumindest in den Fällen, in denen der Täter zunächst mit Verletzungsabsicht einen hinterlistigen Überfall beging und das Opfer dann bei fortwirkender Situation mit (nur noch) bedingtem Vorsatz verletzt, genügt dies für eine Strafbarkeit gem. § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB.

Sachverhalt:

Das LG Krefeld hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte den Plan gefasst, seine Exfreundin zu töten. Er hatte sich daraufhin unter einem Vorwand von ihr mit dem Auto abholen und an eine abgelegene Örtlichkeit fahren lassen. Während der Fahrt hatte er Friedfertigkeit vorgespielt.

Als der Angeklagte dann am Zielort ein dafür eingestecktes Messer gezogen hatte, hatte er seinen Tötungsvorsatz zwar aufgegeben und den Plan gefasst, das Opfer durch Drohungen zum Wiederauflebenlassen der Beziehung zu bringen. Er hatte jedoch mit dem Messer dergestalt gedroht, dass er es auf die Zeugin zufahren und erst im letzten Moment auf der Haut stoppen ließ. Dabei hatte er es für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, dass sich seine Exfreundin verletzt, was dann auch passiert war, weil sie in Panik in das Messer gegriffen hatte, um es wegzustoßen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Verurteilung durch das LG wegen gefährlicher Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs und eines hinterlistigen Überfalls.

Dazu führte der Senat aus, dass es noch nicht abschließend geklärt sei, welchen Grad an Vorsatz für eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung mittels eines hinterlistigen Überfalls nötig sei. Es fänden sich Stimmen in Literatur und Rechtsprechung, die eine Verletzungsabsicht forderten und andere, die bedingten Vorsatz ausreichen ließen.

Diese Frage habe in diesem Fall nicht komplett entschieden werden müssen, da dieser sich zweistufig ereignet habe, so der BGH. Bei Begehung des hinterlistigen Überfalls habe der Angeklagte auch mit Verletzungsabsicht, welche als Minus zur Tötungsabsicht vorhanden war, gehandelt. In dieser Situation käme es auf die unterschiedlichen Meinungen also nicht an. Die durch den hinterlistigen Überfall geschaffene Zwangslage für die Zeugin habe dann auch nach Wechsel des Vorsatzes beim Angeklagten fortbestanden.

Die vom Tatbestand geforderte kausale Verknüpfung („mittels“) zwischen listigem Überfall und Körperverletzung sei auch gegeben, wenn der Täter seine Verletzungsabsicht im letzten Moment aufgebe und das Opfer lediglich mit Eventualvorsatz verletze.

Da gerade die Irreführung die Gefahr für das Opfer erhöhe und diese in so einem Fall unabhängig davon noch fortwirke, ob der Täter das Opfer dann absichtlich oder lediglich mit Eventualvorsatz verletze, sei eine Einschränkung nicht geboten.

Auch genügte für alle anderen Varianten des § 244 Abs. 1 StGB Eventualvorsatz, sodass die Gesetzessystematik auch für diese Auslegung spreche. Zwar beschreibe § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB mit der „Hinterlist“ ein subjektives Merkmal. Dieses besondere Begehungsweise der Tat erhöhe aber letztlich, wie bei allen anderen Varianten, die abstrakte Gefährlichkeit der Tat für das Opfer, was sich der Täter auch bei bedingt vorsätzlicher Verletzung zu Nutzen mache.

 

Anmerkung der Redaktion:

Zuletzt hatte der BGH 2019 die Voraussetzungen des hinterlistigen Überfalls i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB dahingehend präzisiert, dass die List nichtmehr bei einem offenen Angriff vorliege, auch wenn der Täter hinterlistig Zutritt zur Wohnung des Opfers erhalten hatte (BGH, Beschl. v. 18.09.2019 – 2 StR 156/19).

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 12/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 14.01.2021 – 1 StR 476/20: Zum Ausnutzen einer schutzlosen Lage bei § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB

Leitsatz der Redaktion:

§ 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB ist kein Auffangtatbestand und tritt auch nicht hinter den anderen beiden Varianten auf Konkurrenzebene zurück.

Sachverhalt:

Das LG Traunstein hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung gemäß § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB in Tateinheit mit § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB verurteilt.

Dem Beschluss sind keine tatsächlichen Feststellungen zu entnehmen.

Entscheidung:

Der BGH bestätigte die tateinheitliche Verurteilung wegen beider Nummern des Tatbestands durch das LG.

Die drei Tatbestandsvarianten des § 177 Abs. 5 StGB stünden gleichrangig nebeneinander. Dann griff der Senat eine vorangegangene Entscheidung des 4. Senats auf und schloss sich dahingehend an, dass zur Beurteilung der schutzlosen Lage stets eine Gesamtbetrachtung aller Umstände zu erfolgen habe. Dies stelle sicher, dass für diese Variante ein eigener Anwendungsraum verbleibe und sie gerade nicht bei Gewaltanwendung oder Drohung durch den Täter stets mitverwirklicht sei.

Der eigenständige gesteigerte Unrechtsgehalt der Variante rechtfertige ein Zurücktreten auf Konkurrenzebene lediglich, wenn die Schutzlosigkeit der Lage auf einer vorherigen Gewaltanwendung des Täters beruhe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits am 2. Juli 2020 hatte der 4. Strafsenat des BGH entschieden, dass die vorher zur Ausnutzung einer schutzlosen Lage ergangene Rechtsprechung nicht ohne Weiteres auf den Tatbestand nach der Gesetzesänderung im November 2016 übertragbar sei. Informationen dazu finden Sie im KriPoZ-RR, Beitrag 64/2020.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 11/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 27.01.2021 – StB 44/20: Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht bei Berufsgeheimnisträgern (Wirecard-Untersuchungsausschuss)

Amtliche Leitsätze:

1. Grundsätzlich sind diejenigen Personen dazu befugt, einen Berufsgeheimnisträger von seiner Verschwiegenheitspflicht zu entbinden, die zu jenem in einer geschützten Vertrauensbeziehung stehen. Hierunter fallen im Rahmen eines Mandatsverhältnisses mit einem Wirtschaftsprüfer regelmäßig nur der oder die Auftraggeber.

2. Für eine juristische Person können diejenigen die Entbindungserklärung abgeben, die zu ihrer Vertretung zum Zeitpunkt der Zeugenaussage berufen sind.

3. Ist über das Vermögen der juristischen Person das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt worden, ist dieser berechtigt, soweit das Vertrauensverhältnis Angelegenheiten der Insolvenzmasse betrifft.

Sachverhalt:

Der zur Untersuchung der Geschehnisse im sog. Wirecard-Skandal eingesetzte Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages (Wirecard-Untersuchungsausschuss) verhängte gegen den Antragsteller, den als Zeugen geladenen Wirtschaftsprüfer der Wirecard AG, ein Ordnungsgeld in Höhe von 1000€.

Die Entscheidung begründete der Untersuchungsausschuss damit, dass der Antragsteller sich unberechtigter Weise auf sein Zeugnisverweigerungsrecht aus § 22 Abs. 1 PUAG i.V.m. § 53 StPO berufen hätte.

Er war vom Insolvenzverwalter der Wirecard AG und deren aktuellen Vorstand sowie Aufsichtsrat von seiner Schweigepflicht entbunden worden, war allerdings davon ausgegangen, dass für eine wirksame Entbindung von der Schweigepflicht bei einer juristischen Person auch eine entsprechende Erklärung der ehemaligen Organe vorliegen müsse.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob den Ordnungsgeldbeschluss auf, da zwar eine wirksame Entbindung von der Schweigepflicht vorgelegen und der Antragsteller sein Zeugnis daher unberechtigt verweigert habe, jedoch habe es an schuldhaftem Handeln seinerseits gefehlt.

Die mangels vorangegangener gerichtlicher Entscheidung als Antrag auf gerichtliche Entscheidung auszulegende Beschwerde des Antragstellers sei zulässig, da der BGH gemäß § 36 Abs. 1 PUAG für Rechtsstreitigkeiten unter Beteiligung eines Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages zuständig sei, wenn eine Zuständigkeit des BVerfG nicht gegeben sei.

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung sei auch begründet.

Zwar habe der Antragsteller sein Zeugnis ohne gesetzlichen Grund gemäß § 27 Abs. 1 PUAG verweigert. Eine wirksame Entbindung von der Schweigepflicht als Wirtschaftsprüfer habe vorgelegen. Dazu führte der Senat aus, dass grundsätzlich die Personen einen Wirtschaftsprüfer von seiner Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbinden können, die in einer geschützten Vertrauensbeziehung zu diesem stünden, also regelmäßig der Auftraggeber.

Handele es sich bei dem Auftraggeber um eine juristische Person, falle diese Kompetenz den vertretungsberechtigten Personen im Zeitpunkt der Zeugenaussage zu. Der Insolvenzverwalter sei ebenfalls berechtigt, die Entbindungserklärung abzugeben, soweit das Vertrauensverhältnis Angelegenheiten der Insolvenzmasse betreffe.

Seine Entscheidung begründete der BGH damit, dass eine explizite Regelung zu der Frage, wer eine Entpflichtungserklärung abgeben dürfe, nicht bestehe. Allerdings gebiete es der Sinn und Zweck der Verschwiegenheitsverpflichtung, dass nur derjenige eine Befreiung erteilen könne, gegenüber dem die Verpflichtung bestehe und der von ihr geschützt werden solle.

Dafür sei auf die jeweiligen berufsrechtlichen Regelungen abzustellen. Bei Wirtschaftsprüfern schütze die allgemeine berufsrechtliche Pflicht zur Verschwiegenheit aus § 43 Abs. 1 Satz 1 WPO regelmäßig nur den Auftraggeber, was diesem auch das Recht verschaffe, über die Entpflichtung zu entscheiden.

Ist der Auftraggeber eine juristische Person und sind innerhalb des berufsbezogenen Vertrauensverhältnisses natürliche Personen tätig geworden, bedürfe es deren Entbindungserklärung grundsätzlich nicht, so der BGH. Diesen Personen gegenüber schulde der Wirtschaftsprüfer kein besonderes Vertrauen allein aus dem Umstand, dass sie für die juristische Person handelten.

Der Antragsteller hätte somit das Zeugnis nicht aufgrund seiner Verschwiegenheitspflicht verweigern dürfen, er habe jedoch ohne Schuld gehandelt, da es nach gewissenhafter juristischer Prüfung bisher keine abschließende Antwort auf die oben angesprochenen Rechtsfragen gegeben habe. Damit habe er sich bei Verweigerung der Aussage in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden und könne somit nicht mit einem Ordnungsgeld belegt werden.

 

Anmerkung der Redaktion:

Der sog. Wirecard-Skandal hatte zu einer erheblichen kriminalpolitischen Diskussion und letztlich zu Reformbestrebungen hinsichtlich der Finanzaufsicht geführt. Die Bundesregierung hat daraufhin das Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität beschlossen.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 10/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 27.01.2021 – 6 StR 399/20: Verfahrensrüge bei Divergenz zwischen Hauptverhandlungsprotokoll und Urteilsurkunde ist erforderlich (a.A.: 1. Senat)

Leitsatz der Redaktion:

Weicht das verkündete Urteil laut Hauptverhandlungsprotokoll von der späteren schriftlichen Urteilsurkunde ab, stellt dies einen Rechtsfehler dar, der mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden muss und nicht von Amts wegen zu prüfen ist.

Sachverhalt:

Das LG Lüneburg hat den Angeklagten wegen Diebstahls in drei Fällen und leichtfertiger Geldwäsche in zwei Fällen nach der Sitzungsniederschrift zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.

In der schriftlichen Urteilsurkunde wird allerdings eine Verurteilung wegen Diebstahls in drei Fällen und Geldwäsche in zwei Fällen aufgeführt.

Entscheidung des BGH:

Der 6. Senat sprach sich, wie auch der 3. und der 5., für eine Erforderlichkeit der Verfahrensrüge aus.

Der Ansicht des 1. Senats, der eine solche Divergenz als einen von Amts wegen zu prüfenden Umstand ansieht, vermochte er nicht zu folgen.

Daher stellte der Senat den Schuldspruch dahingehend klar, dass eine Verurteilung wegen Diebstahls in drei Fällen und leichtfertiger Geldwäsche in zwei Fällen erfolgt ist und verweis die Sache zur erneuten Verhandlung über die Strafzumessung zurück an das LG.

 

Anmerkung der Redaktion:

Den KriPoZ-RR Beitrag zum Urteil des 1. Senats finden Sie hier: KriPoZ-RR, Beitrag 20/2020.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 09/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 10.12.2020 – 1 BvR 1837/19: BVerfG zur Verwirklichung des Rechts auf Selbsttötung

Leitsatz der Redaktion:

Aufgrund der Entscheidung des Zweiten Senats zur Unvereinbarkeit des Verbots der geschäftsmäßigen Sterbehilfe (§ 217 StGB) mit der Verfassung, sind Verfassungsbeschwerden gegen die Ablehnung der Genehmigung zum Erwerb eines tödlichen Medikaments zur Suizidierung nunmehr unzulässig aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes, wenn andere zumutbare Möglichkeiten zur Erreichung des Beschwerdebegehrens existieren.

Sachverhalt:

Ein in Hessen lebendes Ehepaar hat mit seiner Verfassungsbeschwerde gerügt, dass ihnen die Erlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG zum Erwerb jeweils einer tödlichen Dosis Natriumpentobarbital vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte versagt worden war.

Nach Ansicht der Beschwerdeführer habe sich ihr Anliegen auch nicht durch die vorangegangene Entscheidung des Zweiten Senats erledigt, da eine alternative ärztliche Verschreibung des Medikaments gem. § 13 BtMG nach dem hessischen Standesrecht für Ärzte nicht in Betracht komme und andere professionelle Angebote der Sterbehilfe in Hessen faktisch nicht existent seien. Daher sei die Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung ihrer Grundrechte erforderlich.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG wies die Verfassungsbeschwerde als unzulässig ab, da sie die Anforderungen des Subsidiaritätsgrundsatzes nicht erfülle.

Das Recht, ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, sei nach dem Urteil des Zweiten Senats nun verfassungsgerichtlich anerkannt. Dies versetze die Beschwerdeführer nun in die Lage, aktiv und bundesweit nach Möglichkeiten der professionellen Sterbehilfe zu suchen.

Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde fordere, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde und auch noch während des laufenden Beschwerdeverfahrens, sämtliche nach Lage der Sache zumutbaren Möglichkeiten und Rechtsbehelfe ausschöpfe, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren abzuwenden oder zu beseitigen. Daraus könne bei einer sich zwischenzeitlich ändernden Sach- oder Rechtslage auch eine Pflicht zur Stellung eines Abänderungsantrags nach § 80 Abs. 7 VwGO folgen sowie entsprechende Bemühungen gegenüber den zuständigen Behörden oder andere geeignete Anstrengungen jenseits formalisierter Verfahren.

Diese Möglichkeiten hätten die Beschwerdeführer nicht in Gänze ausgeschöpft, so das BVerfG.

Ihnen wäre beispielsweise zumutbar gewesen, zunächst bundesweit nach medizinisch kundigen Suizidbeihelfern und verschreibungswilligen und –berechtigten Personen zu suchen. Der Umstand, dass die Entscheidung zur Aufhebung des § 217 StGB nur ergehen konnte, weil Ärzten aufgrund des Angebots einer solchen, nach damaligem Recht strafbaren, Suizidbeihilfe eine strafgerichtliche Verurteilung drohte, mache deutlich, dass es in Deutschland zur Suizidbeihilfe fähige und berechtigte Personen gebe.

Darüber hinaus sei von einer erneuten Bemühung der Beschwerdeführer, unter diesen geänderten Vorzeichen Suizidbeihilfe zu erhalten, eine erheblich bessere Entscheidungsgrundlage zu erwarten, dank derer der Senat die nach der Entscheidung des Zweiten Senats geänderten tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland deutlich besser einschätzen könne. Genau dies sei Sinn und Zweck des Subsidiaritätsgrundsatzes.

Eine direkte Sachentscheidung unterlaufe zudem den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess, den der Zweite Senat dem Gesetzgeber zugebilligt habe.

Anmerkung der Redaktion:

Der Zweite Senat hatte mit Urteil vom 26. Februar 2020 (2 BvR 2347/15) den § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt hatte, für nichtig erklärt. Er verstoße gegen das Grundrecht eines jeden Menschen, selbst nach eigenen Maßstäben zu entscheiden, das eigene Leben zu beenden, indem er eine professionell begleitete Umsetzung dieses höchstpersönlichen Entschlusses faktisch unmöglich gemacht habe. Den KriPoZ-RR Beitrag zu diesem Urteil finden Sie hier: KriPoZ-RR, Beitrag 16/2020

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 08/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 01.12.2020 – 2 BvR 916/11: Sog. Elektronische Fußfessel ist verfassungsgemäß

Amtliche Leitsätze:

1. Die Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung unterfällt als Maßnahme der Führungsaufsicht der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für das Strafrecht gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.

2. § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO ist materiell verfassungsgemäß:

a) Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung der Möglichkeit, den Aufenthaltsort eines Weisungsbetroffenen gemäß § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO anlassbezogen festzustellen, greift weder in den Kernbereich privater Lebensgestaltung ein, noch führt sie zu einer mit der Menschenwürde unvereinbaren „Rundumüberwachung“.

b) Die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung trägt den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normenklarheit und der Verhältnismäßigkeit Rechnung.

c) 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB verstößt nicht gegen das Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Eine wesentliche Erschwerung der Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft oder der Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Lebensführung ist nicht gegeben. Die mit der „elektronischen Fußfessel“ verbundenen Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit sind jedenfalls zum Schutz der hochrangigen Rechtsgüter des Lebens, der Freiheit, der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbstbestimmung Dritter gerechtfertigt.

d) Die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung verletzt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht. § 463a Abs. 4 StPO trägt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Erhebung und Verwendung personenbezogener Daten Rechnung.

3. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Einholung eines Sachverständigengutachtens vor der Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nicht zwingend vorgeschrieben hat. Dessen Notwendigkeit kann sich im Einzelfall jedoch aus dem verfassungsrechtlichen Gebot bestmöglicher Sachaufklärung ergeben.

4. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die spezialpräventiven Wirkungen und technischen Rahmenbedingungen der elektronischen Aufenthaltsüberwachung empirisch zu beobachten und das gesetzliche Regelungskonzept gegebenenfalls den dabei gewonnenen Erkenntnissen anzupassen.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer hat sich gegen die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (sog. elektronische Fußfessel) an das BVerfG gewendet.

Diese war als Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht nach einer langen Haftstrafe ihm gegenüber angeordnet worden, was er für einen ungerechtfertigten Eingriff in sein informationelles Selbstbestimmungsrecht, das Resozialisierungsgebot, Art. 12 GG, Art. 11 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG gehalten hat.

Durch die Überwachung seines Aufenthaltsortes werde seine freie Willensbildung ausgeschaltet, da er letztlich nur noch ein Glied in einem umfassenden technisch-elektronischen Überwachungssystem sei. Zudem führe die Fußfessel zu einer sozialen Stigmatisierung, da es im engeren sozialen Kontext nicht möglich sei, die ihn als Schwerstverbrecher ausweisende Fußfessel zu verbergen.

 

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG entschied, dass die Verfassungsbeschwerden zulässig aber unbegründet seien, da weder die gerichtliche Rechtsanwendung noch die abstrakte Rechtsgrundlage zur Anordnung der Überwachung verfassungswidrig seien. Die Möglichkeit zur Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung in §§ 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB i.V.m. § 463a Abs. 4 StPO als Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht sei mit den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten des Beschwerdeführers vereinbar.

Zunächst stellte das BVerfG fest, dass der Bund für die elektronische Aufenthaltsüberwachung als Maßnahme der Führungsaufsicht die Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG habe, da sie als staatliche Reaktion an die vorangegangene Begehung einer Straftat anknüpfe.

Im Weiteren führte der Senat aus, dass ein Eingriff in die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) des Beschwerdeführers nicht gegeben sei. Dies begründete er damit, dass die Ermächtigung zur Beobachtung anlassbezogen ausgestaltet sei. Daneben sei eine Überwachung der Tätigkeit des Beobachteten gerade nicht möglich, da weder optische noch akustische Überwachung durch die Fußfessel möglich sei. Dadurch handele es sich nicht um eine sog. Rundumüberwachung, die den Einzelnen zum Objekt staatlichen Handelns mache, da lediglich der Aufenthaltsort permanent aufgezeichnet werde, was beispielsweise die Erstellung eines Persönlichkeitsprofils nichts erlaube.

Zwar stelle die Ermächtigungsgrundlage des § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB i.V.m. § 463a Abs. 4 StPO einen tiefgreifenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) dar, dieser sei jedoch gerechtfertigt und daher verfassungsgemäß. Dies folge unter anderem daraus, dass die Ermächtigungsgrundlage ihren Anwendungsbereich auf den Schutz sehr gewichtiger Rechtsgüter einschränke. Zudem müssten auch in Zukunft hinreichend schwere Straftaten zu erwarten sein und deren Begehung durch den Weisungsbetroffenen hinreichend konkret wahrscheinlich erscheinen.

Ebenfalls nicht in verfassungswidriger Weise eingeschränkt werde das Recht auf Resozialisierung des ehemaligen Gefangenen als Ausprägung des allg. Persönlichkeitsrechts. Die elektronische Fußfessel erschwere die eigenverantwortliche Lebensgestaltung oder die Wiedereingliederung in die Gesellschaft nicht wesentlich, so das BVerfG. Die Fußfessel lasse sich im Alltag verbergen und die durchaus höheren Belastungen bei intimen Kontakten seien gerechtfertigt, da auf der anderen Seite die hochrangigen Rechtsgüter des Lebens, der Freiheit, der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbstbestimmung anderer geschützt würden.

Ein ebenfalls gerechtfertigter Eingriff sei in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegeben, da die Aufenthaltsdaten zwar permanent erhoben aber nicht auf unendliche Dauer gespeichert würden. Die Löschfrist von zwei Monaten (§ 463a Abs. 4 Satz 5 StPO) und die weiteren Vorgaben in § 463a StPO sorgten im Ergebnis für die Angemessenheit der Norm im verfassungsrechtlichen Sinne.

Die Berufsfreiheit sei schon mangels objektiv berufsregelnder Tendenz nicht betroffen.

Weitere Grundrechte des Beschwerdeführers seien ebenfalls, wie das Zitiergebot, nicht verletzt.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die sog. elektronische Fußfessel zur Aufenthaltsüberwachung war am 22. Dezember 2010 durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen in das StGB eingeführt worden. Vorausgegangen war eine Verurteilung Deutschlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der die deutsche Sicherungsverwahrung von über 10 Jahren für einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gehalten hatte. Die daraus resultierende Freilassung vieler Sicherungsverwahrter führte zu einem massiven polizeilichen Überwachungseinsatz, den der Gesetzgeber durch Einführung der elektronischen Fußfessel abmindern wollte.

Mittlerweile ist ein Gesetzentwurf über den Bundesrat in den Bundestag eingebracht worden, der die Führungsaufsicht stärken soll, indem die zwangsweise Anlegung der elektronischen Fußfessel ermöglicht werden soll. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.

 

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 07/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 2 StR 241/20: Wenn der Richter zu früh aussagen muss…

Leitsatz der Redaktion:

Der Ausschluss eines Richters gem. § 22 Nr. 5 StPO hindert an der Unterschrift unter einem Urteil und macht somit zur vollständigen Absetzung einen Verhinderungsvermerk nach § 275 Abs. 2 Satz 2 StPO erforderlich.

Sachverhalt:

Das LG hat den Angeklagten wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie Beihilfe zum bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt.

Der Verfahrensrüge liegt folgendes maßgebliches Geschehen zugrunde:

Der Vorsitzende Richter im landgerichtlichen Verfahren war vor Ablaufen der Urteilsabsetzungsfrist am 14. Februar 2020 jedoch nach der letzten Fassungsberatung am 30. Januar 2020 als Zeuge zum Aussageverhalten des Angeklagten in einem Parallelverfahren vernommen worden. Nach seiner Aussage unterschrieb der Vorsitzende das Urteil am 7. Februar 2020 und gab es an die Geschäftsstelle.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil aufgrund Verstoßes gegen den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO auf.

Seine Entscheidung begründete der Senat damit, dass der vorsitzende Richter nach seiner Aussage im Parallelverfahren gemäß § 22 Nr. 5 StPO als ausgeschlossener Richter, keine weiteren richterlichen Funktionen mehr hätte wahrnehmen dürfen. Ihm sei jede weitere richterliche Tätigkeit in der betroffenen Sache verwehrt gewesen, da der Ausschluss nach § 22 StPO kraft Gesetzes im Zeitpunkt seiner Entstehung für die Zukunft wirksam werde.

Somit sei dem Vorsitzenden eine rechtskonforme Herstellung der Urteilsgründe nicht mehr möglich gewesen. Eine solche Verhinderung aus Rechtsgründen hätte durch den Vorsitzenden oder in diesem Fall durch den dienstältesten Richter gemäß § 275 Abs. 2 Satz 2 StPO unter dem Urteil vermerkt werden müssen. Da dieser Vermerk gefehlt habe, sei das Urteil nicht innerhalb der Absetzungsfrist (§ 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 StPO) vollständig zu den Akten gelangt, was den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO begründe.

Somit sei das Urteil aufzuheben gewesen. Es komme nicht darauf an, dass der betreffende Richter zwischen seiner Aussage und dem Unterzeichnen der Urteilsurkunde tatsächlich keinen Einfluss auf den Inhalt der Urkunde genommen habe, da § 22 StPO alle Personen von der weiteren Mitwirkung ausschließe, bei denen auch nur eine abstrakte Gefahr der Voreingenommenheit bestehe.

 

Anmerkung der Redatkion:

Dass ein Urteil, unter dem ein erforderlicher Verhinderungsvermerkt fehlt, aufzuheben ist, hatte der BGH bereits 2002 entschieden: BGH, Beschl. v. 21.10.2002 – 5 StR 433/02.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 06/2021

Die Entscheidungen im Original finden Sie hier und hier.

BVerfG, Beschl. v. 08.12.2020 – 1 BvR 149/16 & 1 BvR 117/16: Unzureichende Befassung der Fachgerichte mit dem Vorwurf der menschenunwürdigen Gefangenenunterbringung

Leitsatz der Redaktion:

Ein Richter hat sich persönlich und in hinreichender Tiefe sowie bei ungeklärten Rechtsfragen auch im Hauptsacheverfahren mit der Behauptung zu befassen, ein Gefangener werde im Strafvollzug menschenunwürdig untergebracht.

Sachverhalt:

Im Verfahren 1 BvR 149/16 hatte das LG Augsburg einen Prozesskostenhilfeantrag des Beschwerdeführers mit der Begründung abgelehnt, seine Amtshaftungsklage gegen den Freistaat Bayern aufgrund menschenunwürdiger Unterbringung im Strafvollzug habe keine Aussicht auf Erfolg. Dies hatte das LG damit begründet, dass der Beschwerdeführer sich bei Haftantritt schriftlich mit einer Unterbringung in einer Gemeinschaftszelle einverstanden erklärt hatte und einen Verlegungsantrag in eine Einzelzelle hätte stellen können. Die unter Beweisangebot abgegebene Behauptung des Häftlings, auch die Unterbringung in der Einzelzelle verstoße gegen die Menschenwürde, da in diesem Zellenblock ein 23-stündiger Einschluss in eine 7,8 m2 große Zelle erfolge, war vom LG ungeachtet der in diesem Zusammenhang bestehenden ungeklärten Rechtsfragen abgewiesen worden. Diese Entscheidung war vom OLG München bestätigt worden.

Im zweiten Verfahren (1 BvR 117/16) hatte das LG Augsburg ebenfalls einen PKH-Antrag für eine Amtshaftungsklage gegen den Freistaat Bayern abgelehnt. Dieser Beschluss war jedoch vom OLG München aufgehoben worden. Die daraufhin erhobene Klage des Beschwerdeführers war dann vom LG mit Endurteil abgewiesen worden. Das Urteil stammte von einem anderen Richter, als demjenigen, der im PKH-Verfahren entschieden hatte, hatte aber im Wortlaut dem Ablehnungsbeschluss geglichen. Es hatte ohne weitere Begründung ausgeführt, dass das rechtliche Gehör des Klägers nicht verletzt sei. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und eine Verletzung des Willkürverbots.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG hob die angegriffenen Entscheidungen auf.

Das LG habe im ersten Verfahren, das Recht auf Rechtsschutzgleichheit nicht gewährleistet. Indem es Rechtsfragen, die noch nicht höchstrichterlich geklärt seien, in das Prozesskostenhilfeverfahren vorgelagert habe, habe es dem Beschwerdeführer die Erfolgsaussichten seiner Klage von vornherein abgesprochen, ohne die betreffenden Fragen in hinreichender Tiefe im Hauptsacheverfahren zu erörtern.

Ob ein täglich 23-stündiger Einschluss in einen Einzelhaftraum mit einer Größe von knapp 7,8 m² mit der Menschenwürdegarantie vereinbar ist, sei gesetzlich nicht eindeutig geregelt und in der Rechtsprechung bislang nicht geklärt. Diese für die Beurteilung des Begehrens des Beschwerdeführers maßgebliche Rechtsfrage habe nicht in das Prozesskostenhilfeverfahren vorverlagert werden dürfen, sondern hätte einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren bedurft, die es dem Beschwerdeführer auch ermögliche, sie gegebenenfalls einer höchstrichterlichen Klärung zuzuführen, so das BVerfG.

Im zweiten Verfahren hätten der Beschluss und das Endurteil des LG den Beschwerdeführer in seinem Recht auf rechtliches Gehör und in der Gewährleistung des allgemeinen Willkürverbots verletzt.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör sichere den Bürgern zu, dass sie angehört würden, dass ihre vorgetragenen Tatsachen und Ansichten zur Kenntnis genommen würden und dass sich das Gericht mit ihnen auseinandersetze. Indem der Richter im landgerichtlichen Hauptsacheverfahren die Beweiserhebung zur tatsächlichen Zellengröße des Inhaftierten für entbehrlich erklärt hat, habe er keine hinreichende Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Beschwerdeführers erkennen lassen, so das BVerfG. Denn die Frage, ob die dem Beschwerdeführer zustehende anteilige Zellengröße über oder unter 4m2 liege, habe im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK eine wesentliche Bedeutung. In rechtlicher Hinsicht sei nicht ersichtlich, dass das Gericht das Vorbringen des Beschwerdeführers, sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und diverser Obergerichte sei seine Haftunterbringung menschenunwürdig gewesen, in dem gebotenen Maße zur Kenntnis genommen und ernsthaft erwogen habe. Dies stelle aufgrund des offensichtlichen Verschließens vor der Argumentation des Beschwerdeführers gleichfalls einen Willkürverstoß dar, so das BVerfG.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits 2013 hatte der EGMR entschieden, dass bestimmte Mindestanforderungen an Zellengröße und Beschaffenheit aufgrund der Menschenwürde nicht unterschritten werden dürfen. Eine höchstrichterliche Entscheidung in Deutschland zur Konkretisierung dieser Vorgaben fehlt bislang. Das Urteil des EGMR finden Sie hier.

 

 

 

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