KriPoZ-RR, Beitrag 10/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 27.01.2021 – 6 StR 399/20: Verfahrensrüge bei Divergenz zwischen Hauptverhandlungsprotokoll und Urteilsurkunde ist erforderlich (a.A.: 1. Senat)

Leitsatz der Redaktion:

Weicht das verkündete Urteil laut Hauptverhandlungsprotokoll von der späteren schriftlichen Urteilsurkunde ab, stellt dies einen Rechtsfehler dar, der mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden muss und nicht von Amts wegen zu prüfen ist.

Sachverhalt:

Das LG Lüneburg hat den Angeklagten wegen Diebstahls in drei Fällen und leichtfertiger Geldwäsche in zwei Fällen nach der Sitzungsniederschrift zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.

In der schriftlichen Urteilsurkunde wird allerdings eine Verurteilung wegen Diebstahls in drei Fällen und Geldwäsche in zwei Fällen aufgeführt.

Entscheidung des BGH:

Der 6. Senat sprach sich, wie auch der 3. und der 5., für eine Erforderlichkeit der Verfahrensrüge aus.

Der Ansicht des 1. Senats, der eine solche Divergenz als einen von Amts wegen zu prüfenden Umstand ansieht, vermochte er nicht zu folgen.

Daher stellte der Senat den Schuldspruch dahingehend klar, dass eine Verurteilung wegen Diebstahls in drei Fällen und leichtfertiger Geldwäsche in zwei Fällen erfolgt ist und verweis die Sache zur erneuten Verhandlung über die Strafzumessung zurück an das LG.

 

Anmerkung der Redaktion:

Den KriPoZ-RR Beitrag zum Urteil des 1. Senats finden Sie hier: KriPoZ-RR, Beitrag 20/2020.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 09/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 10.12.2020 – 1 BvR 1837/19: BVerfG zur Verwirklichung des Rechts auf Selbsttötung

Leitsatz der Redaktion:

Aufgrund der Entscheidung des Zweiten Senats zur Unvereinbarkeit des Verbots der geschäftsmäßigen Sterbehilfe (§ 217 StGB) mit der Verfassung, sind Verfassungsbeschwerden gegen die Ablehnung der Genehmigung zum Erwerb eines tödlichen Medikaments zur Suizidierung nunmehr unzulässig aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes, wenn andere zumutbare Möglichkeiten zur Erreichung des Beschwerdebegehrens existieren.

Sachverhalt:

Ein in Hessen lebendes Ehepaar hat mit seiner Verfassungsbeschwerde gerügt, dass ihnen die Erlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG zum Erwerb jeweils einer tödlichen Dosis Natriumpentobarbital vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte versagt worden war.

Nach Ansicht der Beschwerdeführer habe sich ihr Anliegen auch nicht durch die vorangegangene Entscheidung des Zweiten Senats erledigt, da eine alternative ärztliche Verschreibung des Medikaments gem. § 13 BtMG nach dem hessischen Standesrecht für Ärzte nicht in Betracht komme und andere professionelle Angebote der Sterbehilfe in Hessen faktisch nicht existent seien. Daher sei die Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung ihrer Grundrechte erforderlich.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG wies die Verfassungsbeschwerde als unzulässig ab, da sie die Anforderungen des Subsidiaritätsgrundsatzes nicht erfülle.

Das Recht, ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, sei nach dem Urteil des Zweiten Senats nun verfassungsgerichtlich anerkannt. Dies versetze die Beschwerdeführer nun in die Lage, aktiv und bundesweit nach Möglichkeiten der professionellen Sterbehilfe zu suchen.

Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde fordere, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde und auch noch während des laufenden Beschwerdeverfahrens, sämtliche nach Lage der Sache zumutbaren Möglichkeiten und Rechtsbehelfe ausschöpfe, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren abzuwenden oder zu beseitigen. Daraus könne bei einer sich zwischenzeitlich ändernden Sach- oder Rechtslage auch eine Pflicht zur Stellung eines Abänderungsantrags nach § 80 Abs. 7 VwGO folgen sowie entsprechende Bemühungen gegenüber den zuständigen Behörden oder andere geeignete Anstrengungen jenseits formalisierter Verfahren.

Diese Möglichkeiten hätten die Beschwerdeführer nicht in Gänze ausgeschöpft, so das BVerfG.

Ihnen wäre beispielsweise zumutbar gewesen, zunächst bundesweit nach medizinisch kundigen Suizidbeihelfern und verschreibungswilligen und –berechtigten Personen zu suchen. Der Umstand, dass die Entscheidung zur Aufhebung des § 217 StGB nur ergehen konnte, weil Ärzten aufgrund des Angebots einer solchen, nach damaligem Recht strafbaren, Suizidbeihilfe eine strafgerichtliche Verurteilung drohte, mache deutlich, dass es in Deutschland zur Suizidbeihilfe fähige und berechtigte Personen gebe.

Darüber hinaus sei von einer erneuten Bemühung der Beschwerdeführer, unter diesen geänderten Vorzeichen Suizidbeihilfe zu erhalten, eine erheblich bessere Entscheidungsgrundlage zu erwarten, dank derer der Senat die nach der Entscheidung des Zweiten Senats geänderten tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland deutlich besser einschätzen könne. Genau dies sei Sinn und Zweck des Subsidiaritätsgrundsatzes.

Eine direkte Sachentscheidung unterlaufe zudem den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess, den der Zweite Senat dem Gesetzgeber zugebilligt habe.

Anmerkung der Redaktion:

Der Zweite Senat hatte mit Urteil vom 26. Februar 2020 (2 BvR 2347/15) den § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt hatte, für nichtig erklärt. Er verstoße gegen das Grundrecht eines jeden Menschen, selbst nach eigenen Maßstäben zu entscheiden, das eigene Leben zu beenden, indem er eine professionell begleitete Umsetzung dieses höchstpersönlichen Entschlusses faktisch unmöglich gemacht habe. Den KriPoZ-RR Beitrag zu diesem Urteil finden Sie hier: KriPoZ-RR, Beitrag 16/2020

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 08/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 01.12.2020 – 2 BvR 916/11: Sog. Elektronische Fußfessel ist verfassungsgemäß

Amtliche Leitsätze:

1. Die Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung unterfällt als Maßnahme der Führungsaufsicht der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für das Strafrecht gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.

2. § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO ist materiell verfassungsgemäß:

a) Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung der Möglichkeit, den Aufenthaltsort eines Weisungsbetroffenen gemäß § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO anlassbezogen festzustellen, greift weder in den Kernbereich privater Lebensgestaltung ein, noch führt sie zu einer mit der Menschenwürde unvereinbaren „Rundumüberwachung“.

b) Die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung trägt den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normenklarheit und der Verhältnismäßigkeit Rechnung.

c) 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB verstößt nicht gegen das Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Eine wesentliche Erschwerung der Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft oder der Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Lebensführung ist nicht gegeben. Die mit der „elektronischen Fußfessel“ verbundenen Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit sind jedenfalls zum Schutz der hochrangigen Rechtsgüter des Lebens, der Freiheit, der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbstbestimmung Dritter gerechtfertigt.

d) Die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung verletzt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht. § 463a Abs. 4 StPO trägt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Erhebung und Verwendung personenbezogener Daten Rechnung.

3. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Einholung eines Sachverständigengutachtens vor der Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nicht zwingend vorgeschrieben hat. Dessen Notwendigkeit kann sich im Einzelfall jedoch aus dem verfassungsrechtlichen Gebot bestmöglicher Sachaufklärung ergeben.

4. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die spezialpräventiven Wirkungen und technischen Rahmenbedingungen der elektronischen Aufenthaltsüberwachung empirisch zu beobachten und das gesetzliche Regelungskonzept gegebenenfalls den dabei gewonnenen Erkenntnissen anzupassen.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer hat sich gegen die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (sog. elektronische Fußfessel) an das BVerfG gewendet.

Diese war als Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht nach einer langen Haftstrafe ihm gegenüber angeordnet worden, was er für einen ungerechtfertigten Eingriff in sein informationelles Selbstbestimmungsrecht, das Resozialisierungsgebot, Art. 12 GG, Art. 11 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG gehalten hat.

Durch die Überwachung seines Aufenthaltsortes werde seine freie Willensbildung ausgeschaltet, da er letztlich nur noch ein Glied in einem umfassenden technisch-elektronischen Überwachungssystem sei. Zudem führe die Fußfessel zu einer sozialen Stigmatisierung, da es im engeren sozialen Kontext nicht möglich sei, die ihn als Schwerstverbrecher ausweisende Fußfessel zu verbergen.

 

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG entschied, dass die Verfassungsbeschwerden zulässig aber unbegründet seien, da weder die gerichtliche Rechtsanwendung noch die abstrakte Rechtsgrundlage zur Anordnung der Überwachung verfassungswidrig seien. Die Möglichkeit zur Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung in §§ 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB i.V.m. § 463a Abs. 4 StPO als Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht sei mit den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten des Beschwerdeführers vereinbar.

Zunächst stellte das BVerfG fest, dass der Bund für die elektronische Aufenthaltsüberwachung als Maßnahme der Führungsaufsicht die Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG habe, da sie als staatliche Reaktion an die vorangegangene Begehung einer Straftat anknüpfe.

Im Weiteren führte der Senat aus, dass ein Eingriff in die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) des Beschwerdeführers nicht gegeben sei. Dies begründete er damit, dass die Ermächtigung zur Beobachtung anlassbezogen ausgestaltet sei. Daneben sei eine Überwachung der Tätigkeit des Beobachteten gerade nicht möglich, da weder optische noch akustische Überwachung durch die Fußfessel möglich sei. Dadurch handele es sich nicht um eine sog. Rundumüberwachung, die den Einzelnen zum Objekt staatlichen Handelns mache, da lediglich der Aufenthaltsort permanent aufgezeichnet werde, was beispielsweise die Erstellung eines Persönlichkeitsprofils nichts erlaube.

Zwar stelle die Ermächtigungsgrundlage des § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB i.V.m. § 463a Abs. 4 StPO einen tiefgreifenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) dar, dieser sei jedoch gerechtfertigt und daher verfassungsgemäß. Dies folge unter anderem daraus, dass die Ermächtigungsgrundlage ihren Anwendungsbereich auf den Schutz sehr gewichtiger Rechtsgüter einschränke. Zudem müssten auch in Zukunft hinreichend schwere Straftaten zu erwarten sein und deren Begehung durch den Weisungsbetroffenen hinreichend konkret wahrscheinlich erscheinen.

Ebenfalls nicht in verfassungswidriger Weise eingeschränkt werde das Recht auf Resozialisierung des ehemaligen Gefangenen als Ausprägung des allg. Persönlichkeitsrechts. Die elektronische Fußfessel erschwere die eigenverantwortliche Lebensgestaltung oder die Wiedereingliederung in die Gesellschaft nicht wesentlich, so das BVerfG. Die Fußfessel lasse sich im Alltag verbergen und die durchaus höheren Belastungen bei intimen Kontakten seien gerechtfertigt, da auf der anderen Seite die hochrangigen Rechtsgüter des Lebens, der Freiheit, der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbstbestimmung anderer geschützt würden.

Ein ebenfalls gerechtfertigter Eingriff sei in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegeben, da die Aufenthaltsdaten zwar permanent erhoben aber nicht auf unendliche Dauer gespeichert würden. Die Löschfrist von zwei Monaten (§ 463a Abs. 4 Satz 5 StPO) und die weiteren Vorgaben in § 463a StPO sorgten im Ergebnis für die Angemessenheit der Norm im verfassungsrechtlichen Sinne.

Die Berufsfreiheit sei schon mangels objektiv berufsregelnder Tendenz nicht betroffen.

Weitere Grundrechte des Beschwerdeführers seien ebenfalls, wie das Zitiergebot, nicht verletzt.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die sog. elektronische Fußfessel zur Aufenthaltsüberwachung war am 22. Dezember 2010 durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen in das StGB eingeführt worden. Vorausgegangen war eine Verurteilung Deutschlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der die deutsche Sicherungsverwahrung von über 10 Jahren für einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gehalten hatte. Die daraus resultierende Freilassung vieler Sicherungsverwahrter führte zu einem massiven polizeilichen Überwachungseinsatz, den der Gesetzgeber durch Einführung der elektronischen Fußfessel abmindern wollte.

Mittlerweile ist ein Gesetzentwurf über den Bundesrat in den Bundestag eingebracht worden, der die Führungsaufsicht stärken soll, indem die zwangsweise Anlegung der elektronischen Fußfessel ermöglicht werden soll. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.

 

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 07/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 2 StR 241/20: Wenn der Richter zu früh aussagen muss…

Leitsatz der Redaktion:

Der Ausschluss eines Richters gem. § 22 Nr. 5 StPO hindert an der Unterschrift unter einem Urteil und macht somit zur vollständigen Absetzung einen Verhinderungsvermerk nach § 275 Abs. 2 Satz 2 StPO erforderlich.

Sachverhalt:

Das LG hat den Angeklagten wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie Beihilfe zum bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt.

Der Verfahrensrüge liegt folgendes maßgebliches Geschehen zugrunde:

Der Vorsitzende Richter im landgerichtlichen Verfahren war vor Ablaufen der Urteilsabsetzungsfrist am 14. Februar 2020 jedoch nach der letzten Fassungsberatung am 30. Januar 2020 als Zeuge zum Aussageverhalten des Angeklagten in einem Parallelverfahren vernommen worden. Nach seiner Aussage unterschrieb der Vorsitzende das Urteil am 7. Februar 2020 und gab es an die Geschäftsstelle.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil aufgrund Verstoßes gegen den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO auf.

Seine Entscheidung begründete der Senat damit, dass der vorsitzende Richter nach seiner Aussage im Parallelverfahren gemäß § 22 Nr. 5 StPO als ausgeschlossener Richter, keine weiteren richterlichen Funktionen mehr hätte wahrnehmen dürfen. Ihm sei jede weitere richterliche Tätigkeit in der betroffenen Sache verwehrt gewesen, da der Ausschluss nach § 22 StPO kraft Gesetzes im Zeitpunkt seiner Entstehung für die Zukunft wirksam werde.

Somit sei dem Vorsitzenden eine rechtskonforme Herstellung der Urteilsgründe nicht mehr möglich gewesen. Eine solche Verhinderung aus Rechtsgründen hätte durch den Vorsitzenden oder in diesem Fall durch den dienstältesten Richter gemäß § 275 Abs. 2 Satz 2 StPO unter dem Urteil vermerkt werden müssen. Da dieser Vermerk gefehlt habe, sei das Urteil nicht innerhalb der Absetzungsfrist (§ 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 StPO) vollständig zu den Akten gelangt, was den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO begründe.

Somit sei das Urteil aufzuheben gewesen. Es komme nicht darauf an, dass der betreffende Richter zwischen seiner Aussage und dem Unterzeichnen der Urteilsurkunde tatsächlich keinen Einfluss auf den Inhalt der Urkunde genommen habe, da § 22 StPO alle Personen von der weiteren Mitwirkung ausschließe, bei denen auch nur eine abstrakte Gefahr der Voreingenommenheit bestehe.

 

Anmerkung der Redatkion:

Dass ein Urteil, unter dem ein erforderlicher Verhinderungsvermerkt fehlt, aufzuheben ist, hatte der BGH bereits 2002 entschieden: BGH, Beschl. v. 21.10.2002 – 5 StR 433/02.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 06/2021

Die Entscheidungen im Original finden Sie hier und hier.

BVerfG, Beschl. v. 08.12.2020 – 1 BvR 149/16 & 1 BvR 117/16: Unzureichende Befassung der Fachgerichte mit dem Vorwurf der menschenunwürdigen Gefangenenunterbringung

Leitsatz der Redaktion:

Ein Richter hat sich persönlich und in hinreichender Tiefe sowie bei ungeklärten Rechtsfragen auch im Hauptsacheverfahren mit der Behauptung zu befassen, ein Gefangener werde im Strafvollzug menschenunwürdig untergebracht.

Sachverhalt:

Im Verfahren 1 BvR 149/16 hatte das LG Augsburg einen Prozesskostenhilfeantrag des Beschwerdeführers mit der Begründung abgelehnt, seine Amtshaftungsklage gegen den Freistaat Bayern aufgrund menschenunwürdiger Unterbringung im Strafvollzug habe keine Aussicht auf Erfolg. Dies hatte das LG damit begründet, dass der Beschwerdeführer sich bei Haftantritt schriftlich mit einer Unterbringung in einer Gemeinschaftszelle einverstanden erklärt hatte und einen Verlegungsantrag in eine Einzelzelle hätte stellen können. Die unter Beweisangebot abgegebene Behauptung des Häftlings, auch die Unterbringung in der Einzelzelle verstoße gegen die Menschenwürde, da in diesem Zellenblock ein 23-stündiger Einschluss in eine 7,8 m2 große Zelle erfolge, war vom LG ungeachtet der in diesem Zusammenhang bestehenden ungeklärten Rechtsfragen abgewiesen worden. Diese Entscheidung war vom OLG München bestätigt worden.

Im zweiten Verfahren (1 BvR 117/16) hatte das LG Augsburg ebenfalls einen PKH-Antrag für eine Amtshaftungsklage gegen den Freistaat Bayern abgelehnt. Dieser Beschluss war jedoch vom OLG München aufgehoben worden. Die daraufhin erhobene Klage des Beschwerdeführers war dann vom LG mit Endurteil abgewiesen worden. Das Urteil stammte von einem anderen Richter, als demjenigen, der im PKH-Verfahren entschieden hatte, hatte aber im Wortlaut dem Ablehnungsbeschluss geglichen. Es hatte ohne weitere Begründung ausgeführt, dass das rechtliche Gehör des Klägers nicht verletzt sei. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und eine Verletzung des Willkürverbots.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG hob die angegriffenen Entscheidungen auf.

Das LG habe im ersten Verfahren, das Recht auf Rechtsschutzgleichheit nicht gewährleistet. Indem es Rechtsfragen, die noch nicht höchstrichterlich geklärt seien, in das Prozesskostenhilfeverfahren vorgelagert habe, habe es dem Beschwerdeführer die Erfolgsaussichten seiner Klage von vornherein abgesprochen, ohne die betreffenden Fragen in hinreichender Tiefe im Hauptsacheverfahren zu erörtern.

Ob ein täglich 23-stündiger Einschluss in einen Einzelhaftraum mit einer Größe von knapp 7,8 m² mit der Menschenwürdegarantie vereinbar ist, sei gesetzlich nicht eindeutig geregelt und in der Rechtsprechung bislang nicht geklärt. Diese für die Beurteilung des Begehrens des Beschwerdeführers maßgebliche Rechtsfrage habe nicht in das Prozesskostenhilfeverfahren vorverlagert werden dürfen, sondern hätte einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren bedurft, die es dem Beschwerdeführer auch ermögliche, sie gegebenenfalls einer höchstrichterlichen Klärung zuzuführen, so das BVerfG.

Im zweiten Verfahren hätten der Beschluss und das Endurteil des LG den Beschwerdeführer in seinem Recht auf rechtliches Gehör und in der Gewährleistung des allgemeinen Willkürverbots verletzt.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör sichere den Bürgern zu, dass sie angehört würden, dass ihre vorgetragenen Tatsachen und Ansichten zur Kenntnis genommen würden und dass sich das Gericht mit ihnen auseinandersetze. Indem der Richter im landgerichtlichen Hauptsacheverfahren die Beweiserhebung zur tatsächlichen Zellengröße des Inhaftierten für entbehrlich erklärt hat, habe er keine hinreichende Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Beschwerdeführers erkennen lassen, so das BVerfG. Denn die Frage, ob die dem Beschwerdeführer zustehende anteilige Zellengröße über oder unter 4m2 liege, habe im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK eine wesentliche Bedeutung. In rechtlicher Hinsicht sei nicht ersichtlich, dass das Gericht das Vorbringen des Beschwerdeführers, sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und diverser Obergerichte sei seine Haftunterbringung menschenunwürdig gewesen, in dem gebotenen Maße zur Kenntnis genommen und ernsthaft erwogen habe. Dies stelle aufgrund des offensichtlichen Verschließens vor der Argumentation des Beschwerdeführers gleichfalls einen Willkürverstoß dar, so das BVerfG.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits 2013 hatte der EGMR entschieden, dass bestimmte Mindestanforderungen an Zellengröße und Beschaffenheit aufgrund der Menschenwürde nicht unterschritten werden dürfen. Eine höchstrichterliche Entscheidung in Deutschland zur Konkretisierung dieser Vorgaben fehlt bislang. Das Urteil des EGMR finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 05/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 14.01.2021 – 4 StR 95/20: Alternativvorsatz

Amtlicher Leitsatz:

a) Zur rechtlichen Bewertung eines Alternativvorsatzes, wenn sich dieser auf die Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter verschiedener Rechtsgutsträger bezieht.

b) Die Verbindung eines Strafbefehlsverfahrens zu einem erstinstanzlichen landgerichtlichen Verfahren gemäß § 4 Abs. 1 StPO hat zur Folge, dass der Einspruch gegen den Strafbefehl nicht mehr zurückgenommen werden kann.

Sachverhalt:

Das LG Frankenthal hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer Strafe aus einem Strafbefehl verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte einen Hammer auf die Nebenklägerin und ihren, hinter ihr stehenden, Bruder geworfen. Dabei hatte er für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, dass der Hammer eine der beiden Personen treffen und verletzten werde. Dabei war ihm gleichgültig gewesen, welche Person letztlich verletzt wird.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Wertung des LG, nach der der Angeklagte sich in Bezug auf die Nebenklägerin wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung und hinsichtlich ihres Bruders wegen (vollendeter) gefährlicher Körperverletzung, beides tateinheitlich, strafbar gemacht habe.

Der Angeklagte habe die Verletzung bei beiden Opfern für möglich gehalten, aber auch gewusst, dass nur eine tatsächlich wird eintreten können. Dieser sog. Alternativvorsatz sei für die Annahme von zwei bedingten Körperverletzungsvorsätzen unschädlich, so der BGH.

Bereits höchstrichterlich entschieden sei, dass sich nach der Vorstellung des Täters gegenseitig ausschließende Folgen (beispielsweise sofortiger Tod oder Überleben mit schweren Folgen der Körperverletzung) Gegenstand von zwei nebeneinander bestehenden Vorsätzen sein können.

Zwar werde teilweise vertreten, dass in den Fällen des sog. Alternativvorsatzes nur einer der beiden Vorsätze zurechenbar sein könne, weil es der Täter ausgeschlossen habe, mehr als eines der in Rede stehenden Delikte zu vollenden, allerdings gebe es für eine solche Beschränkung auf nur einen zurechenbaren Vorsatz keinen Grund. Der Tatvorsatz könne auf zwei sich gegenseitig ausschließende Erfolge gerichtet sein, solange er nicht den sicheren Eintritt eines der Erfolge umfasse.

Daher sei die Aburteilung aufgrund beider Körperverletzungvorsätze durch das LG nicht rechtsfehlerhaft.

Auch die Wertung als tateinheitliche Verwirklichung sei nicht zu beanstanden, da nur auf diese Weise das erhöhte Unrecht der Tat gegenüber einer Tat, bei der sich der Vorsatz nur auf die Verletzung einer Person beziehe, im Schuldspruch zum Ausdruck gebracht werden könne.

Allerdings hob der BGH das Urteil im Strafausspruch auf, da zum einen die ausschließlich strafschärfende Wertung des zusätzlichen versuchten Körperverletzungsdelikt die Konstellation des quasi-untauglichen Versuchs außer Acht lasse. Zum anderen sei auch die nachträgliche Gesamtstrafenbildung rechtsfehlerhaft, da der Strafbefehl zum Urteilszeitpunkt noch nicht vollständig in Rechtskraft erwachsen sei und es deshalb an einer einbeziehungsfähigen Strafe i.S.d. § 55 Abs. 1 StGB gemangelt habe.

Der Angeklagte hatte gegen den vom LG einbezogen Strafbefehl fristgemäß Einspruch eingelegt, diesen jedoch nach Verbindung beider Verfahren und vor Beginn der Hauptverhandlung wieder zurückgenommen.

Da die Verbindung beider Verfahren gemäß § 4 Abs. 1 StPO dafür sorge, dass für das weitere Verfahren die Regelungen über das landgerichtliche Verfahren Anwendung fänden, habe der Angeklagte auch nicht mehr durch Einspruchrücknahme die Rechtskraft des Strafbefehls herbeiführen können, so der BGH.

Das Strafbefehlsverfahren habe mit Verbindung seine Eigenschaft als eigenständiges Verfahren verloren. Dies belaste den Angeklagten auch nicht unangemessen, da dieser vor Verbindung der Verfahren anzuhören sei und in diesem Zeitpunkt noch vom Recht der Einspruchrücknahme mit Rechtskraftwirkung Gebrauch machen könne.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits 1995 hatte der BGH entschieden, dass sich nach Tätersicht ausschließende Folgen Gegenstand von zwei nebeneinander stehenden Vorsätzen sein können (vgl. Beschl. v. 30.05.1995 – 1 StR 213/95). Diese Rechtssprechung bestätigte er mit Beschl. v. 03.07.2012 – 4 StR 126/12.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 04/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 08.12.2020 – 1 BvR 842/19: FCK BFE ≠ FCK CPS?

Leitsatz der Redaktion:

Eine strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung einer kleineren und explizit benannten Einheit der Polizei durch einen Pulloveraufdruck ist verfassungsrechtlich unbedenklich.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer hat sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen eine strafgerichtliche Verurteilung durch das AG Göttingen wegen Beleidigung gewandt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen war er als Teilnehmer einer Demonstration gegen Rechtsextremismus mit einem „FCK BFE“-Aufdruck auf seinem Pullover aufgefallen. Diese Abkürzung für „Fuck Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit“ hatte der Beschwerdeführer bewusst zur Verächtlichmachung der bei der Demo anwesenden Polizeieinheit auf seinem Kleidungsstück anbringen lassen und dort öffentlich getragen, so das AG. Gerade mit der anwesenden BFE aus Göttingen hatte der Verurteilte in der Vergangenheit verschiedene Auseinandersetzungen gehabt. Ihm war auch bekannt gewesen, dass diese Einheit bei der Demo eingesetzt würde. Nachdem er der Aufforderung, den Pullover auszuziehen, zögerlich nachgekommen war, hatte sich gezeigt, dass er darunter ein T-Shirt mit demselben Aufdruck getragen hatte.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG sah in der strafgerichtlichen Verurteilung einen gerechtfertigten Eingriff in die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) des Beschwerdeführers und sah die Verfassungsbeschwerde daher als jedenfalls unbegründet an.

Das AG habe bei seiner Verurteilung nach § 185 StGB das Grundrecht der Meinungsfreiheit im Blick gehabt und die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Herstellung praktischer Konkordanz berücksichtigt.

Insbesondere genügten die Feststellungen des Tatgerichts den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellungen zur Individualisierung potentiell beleidigender Schriftzüge auf konkrete Personen oder Personengruppen.

Daher sei das Argument des Beschwerdeführers, er beziehe sich auf keine konkrete BFE sondern allgemein auf diese Einheiten, durch die unwidersprochenen Feststellungen des AG zur konkreten Tatsituation und zur persönlichen Vorgeschichte des Beschwerdeführers zur BFE der Polizei Göttingen, als nicht tragend anzusehen.

Dies sei gerade der Unterschied zu den Entscheidungen des BVerfG zu den Schriftzügen „FCK CPS“ oder „ACAB“, da in diesen Fällen kein individueller Bezug zu einzelnen überschaubaren Einheiten habe belegt werden können und die Ausdrücke daher auch als Kritik am Kollektiv Polizei verstanden werden könnten, so das BVerfG.

 

Anmerkung der Redaktion:

Den Beschluss des BVerfG zum Ausdruck FCK CPS finden Sie hier.

Den Beschluss zum Ausdruck ACAB finden Sie hier und hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 03/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 5 StR 256/20: Zum Merkmal „Mensch“ i.S.d. §§ 211 ff. StGB bei Kaiserschnitten

Amtlicher Leitsatz:

Bei einer operativen Entbindung (Kaiserschnitt, sectio caesarea) beginnt die Geburt und damit der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB regelmäßig mit der Eröffnung des Uterus zum Zweck der dauerhaften Trennung des Kindes vom Mutterleib; dies gilt auch bei einer Mehrlingsgeburt.

Sachverhalt:

Das LG Berlin hat die Angeklagten jeweils wegen Totschlags verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen sind die Angeklagten fachlich versierte Geburtsmediziner. Die Angeklagte R als Leitende Oberärztin einer Klinik für Geburtsmedizin, der Angeklagte V als deren Chefarzt.

Im Jahr 2009 war es zu einer Zwillingsschwangerschaft der Zeugin S gekommen. Es hatte sich herausgestellt, dass einer der Zwillinge eine schwere Hirnschädigung entwickelt hatte wohingegen der andere Zwilling in seiner Entwicklung nicht beeinträchtigt gewesen war. Die Entwicklungsstörung des Fetus war derart ausgeprägt, dass sie einen Schwangerschaftsabbruch auch bis zur Geburt gem. § 218a Abs. 2 StGB gerechtfertigt hatte.

Am 11. Juni 2010 hatte sich die Zeugin für einen selektiven Fetozid entschieden. Bei diesem nur in zwei Spezialkliniken in Deutschland durchführbaren medizinischen Eingriff wird die Nabelschnur des einen Zwillings verschlossen, was zum Tod dieses Fetus führt. Danach werden im Optimalfall ein gesundes Kind und der tote Fetus geboren.

Die Zeugin hatte sich allerdings im Spezialklinikum nicht gut betreut gefühlt und deshalb vom selektiven Fetozid abgesehen.

Nach einer Untersuchung durch die Angeklagte R, hatte sich die Zeugin von dieser gut betreut gefühlt und einem Schwangerschaftsabbruch doch zugestimmt. Die beiden Angeklagten hatten daraufhin die Möglichkeiten erörtert und sich, als es zu Wehen kam, entschieden, einen Kaiserschnitt durchzuführen, bei dem zunächst der gesunde Zwilling geboren werden sollte und anschließend der andere Fetus mittels Kaliumchloridinjektion noch im eröffneten Uterus getötet werden sollte.

Den beiden Angeklagten war dabei bewusst, dass diese Verfahrensweise in Fachkreisen nicht vorgesehen ist und juristisch als Tötung eines Menschen gewertet wird. Dennoch hatten sie den Plan umgesetzt und den gesunden Zwilling per Kaiserschnitt geboren, danach den geschädigten, aber dennoch lebensfähigen Fetus, per Injektion getötet und schließlich auch diesen aus der Gebärmutter entnommen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Entscheidung des LG, da der getötete Zwilling im Zeitpunkt der Injektion bereist ein Mensch im Sinne der §§ 211 ff. StGB gewesen sei.

Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen Leibesfrucht und Mensch im Sinne des StGB sei seit jeher der Beginn der Geburt, da gerade im während des gefährlichen Geburtsvorgangs ein besonderer Schutz auch vor fahrlässigen Handlungen gegeben sein müsse.

Eine normale Geburt beginne mit dem Einsetzen der Eröffnungswehe. Bei einem Kaiserschnitt sei der maßgebliche Zeitpunkt die Eröffnung des Uterus zum Zweck der Beendigung der Schwangerschaft durch Entnahme des Kindes aus dem Mutterleib. Dies begründet der Senat damit, dass in diesem Zeitpunkt ein Abbruch der Geburt praktisch nicht mehr in Betracht komme und der Fetus damit erstmalig direkt vom Geburtsvorgang betroffen sei.

Dabei bleibe außer Betracht, ob es sich um ein oder mehrere Kinder handele. Zwar gebe es Fälle einer zeitversetzten Geburt zweier Feten, bei denen dann der Geburtszeitpunkt unterschiedlich zu bestimmen sei. Im vorliegenden Fall habe es sich jedoch um eine einzige Öffnung des Uterus mit dem letztlichen Ziel der Entnahme beider Feten aus dem Mutterleib gehandelt.

Da es sich bei den beiden Angeklagten um erfahrene Geburtsmediziner gehandelt habe, sei es auch rechtsfehlerfrei gewesen, dass das LG den Vorsatz beider Angeklagten angenommen hat.

Ebenfalls rechtsfehlerfrei habe das LG eine direkte oder analoge Anwendung des § 218a Abs. 2 StGB abgelehnt, da dieser vom Gesetzgeber plangemäß nur für Schwangerschaftsabbrüche jedoch nicht für Tötungen nach den §§ 211 ff. StGB greifen solle.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Frage, wann bei einem Kaiserschnitt der Beginn der Geburt im strafrechtlichen Sinne zu sehen ist, war bisher höchstrichterlich nicht entschieden.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 02/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 5 StR 197/20: Aufgabe der Senatsrechtsprechung zum Beruhen eines Urteils auf einem Verstoß gegen die Bescheidungspflicht des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO

Amtlicher Leitsatz:

Auf dem Unterlassen der Bescheidung eines Widerspruchs gegen das Selbstleseverfahren kann ein Urteil regelmäßig nicht beruhen, weil dieses Verfahren eine gleichwertige Alternative zum Verlesen einer Urkunde ist.

Sachverhalt:

Das LG Hamburg hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

Nach dem für das Revisionsvorbringen maßgeblichen Verfahrensgeschehen hatte der Vorsitzende am 13. Hauptverhandlungstag eine Anordnung zur Durchführung des Selbstleseverfahrens getroffen und entsprechende Unterlagen verteilt. Am darauffolgenden Verhandlungstag hatte der Verteidiger des Angeklagten einen Widerspruch gegen die Einführung der Vermerke erhoben. Über diesen erging bis zum Urteil keine Entscheidung.

Die Revision sieht in diesem Vorgehen einen Verstoß gegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO.

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf die Revision, da das für einen reversiblen Verfahrensverstoß des tatgerichtlichen Urteils erforderliche Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensfehler (vgl. § 337 Abs. 1 StPO) bei einem Verstoß gegen die Bescheidungspflicht des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO regelmäßig ausgeschlossen sei.

Dies begründete der Senat damit, dass es für ein Beruhen des Urteils auf dem Fehler nicht ausschließbar sein dürfe, dass sich der Verfahrensfehler auf die Entscheidung des Gerichts ausgewirkt habe. Im Falle des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO bedeute dies, dass bei einer alternativen Verlesung der Urkunden nach § 249 Abs. 1 StPO ein anderes Ergebnis des Gerichts denkbar sein müsse.

Da allerding nach der gesetzlichen Wertung das Verlesen von Urkunden nach § 249 Abs. 1 StPO und das Selbstlesen nach § 249 Abs. 2 StPO gleichwertige Möglichkeiten zur Einführung des Urkundsbeweises in die Hauptverhandlung darstellten, sei ein Rechtsfehler bei der Frage, welches Verfahren vom Vorsitzenden gewählt werde, regelmäßig nicht zu erwarten.

Beide Verfahren gewährleisteten die Einführung desselben Beweisinhalts in die Hauptverhandlung und beide Verfahren böten in gleichem Maße die Möglichkeit der Mitwirkung für die Verfahrensbeteiligten.

Lediglich in Ausnahmefällen sei ein Verfahrensverstoß bei Vorziehung der einen Variante gegenüber der anderen denkbar, beispielsweise bei Unfähigkeit des Angeklagten zu lesen, sodass ein Urteil regelmäßig nicht auf einem Verstoß gegen die Bescheidungspflicht des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO beruhe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Damit rückt der Senat von seiner bisherigen Rechtsprechung ab, die einen Verstoß gegen die Bescheidungspflicht aus § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO als reversibel ansah und ein Beruhen des Urteils auf diesem Fehler nicht von vornherein ausschloss (Beschl. v. 28.08.2012 – 5 StR 251/12).

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 01/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 14.10.2020 – 5 StR 229/19: Zur Einziehung des Erlangten bei der Marktmanipulation

Amtlicher Leitsatz:

1. Zur Bestimmung des erlangten Etwas im Sinne von § 73 Abs. 1 StGB in Fällen der Marktmanipulation.

2. § 100a Abs. 1 Satz 1 stopp erlaubt den Zugriff auf beim Provider zwischen- oder endgespeicherte („ruhende“) E-Mails.

Sachverhalt:

Das LG Hamburg hat die Angeklagten wegen Marktmanipulation in fünf Fällen verurteilt. Daneben hat es Einziehungsanordnungen gegen einen Angeklagten und die Einziehungsbeteiligten getroffen.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatten die Angeklagten in einem Tatkomplex handelsgestützte Marktmanipulation in Form von abgesprochenen Eigengeschäften (§ 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG) betrieben. In den übrigen Fällen hat das LG die Taten als informations- und handlungsgestützte Marktmanipulation (§ 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 WpHG) abgeurteilt. Aufgrund aller Taten hat das Tatgericht den gesamten Erlös aus den Aktienverkäufen als Tatertrag im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB angesehen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH korrigierte die Einziehungsentscheidungen, da das LG das erlangte Etwas im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB nicht zutreffend bestimmt habe.

Vermögensvorteile seien im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB und § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB durch die rechtswidrige Tat erlangt, wenn sie dem Tatbeteiligten oder Drittbegünstigten aufgrund der Verwirklichung des Tatbestandes in irgendeiner Phase des Tatablaufs zuflössen. Erforderlich sei eine Kausalbeziehung zwischen der Tat und dem Erlangen des Vermögensvorteils, sodass diese strafrechtswidrige Bereicherung in Form des messbaren Vermögensvorteils entfiele, wenn die Tat hinweggedacht würde.

Dieser Zusammenhang entfalle, wenn erst eine weitere nicht tatbestandsmäßige Handlung das Zufließen des Vermögensvorteils auslöse, so der BGH in Wiederholung seiner ständigen Rechtsprechung.

Für die Fälle der Marktmanipulation bedeute dies, dass in den Fällen des informations- und handlungsgestützten Manipulationsvorgangs der gesteigerte Wert der noch gehaltenen Aktien für eine Einziehung nach §§ 73 ff. StGB maßgeblich sei. Der in einem weiteren Schritt durch den – an sich nicht rechtswidrigen – Verkauf der Aktien generierte Erlös könne in solchen Fällen nicht herangezogen werden, da diesem der erforderliche Kausalzusammenhang fehle. Somit könne die Höhe des Einziehungsumfangs in diesen Fällen regelmäßig nach dem Veräußerungsgewinn bestimmt werden, so der BGH.

Etwas Anderes gelte in Fällen der handelsgestützten Marktmanipulation. Da hier der Zufluss des Verkaufserlöses unmittelbar auf dem die Manipulation begründenden abgesprochenen Eigenverkauf beruhe, unterliege auch der gesamte Verkaufserlös der Einziehung. Die Erwerbskosten für die Aktien blieben hierbei außer Betracht, da diese Aufwendungen in Planung der späteren Marktmanipulation gemacht würden und daher das Abzugsverbot des § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB eingreife, so der Senat.

Da das LG in allen Tatvarianten von einer Einziehung des gesamten Verkaufserlöses ausgegangen sei, seien die Einziehungsentscheidungen zu korrigieren gewesen.

Ebenfalls stellte der BGH klar, dass § 100a Abs. 1 Satz 1 StPO eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für den verdeckten Zugriff auf beim Provider bereits gespeicherte E-Mails darstelle.

Zwar könnten solche Mails auch offen nach § 94 StPO erlangt werden, allerdings werde § 100a StPO von § 94 StPO ebenso wenig ausgeschlossen, wie § 94 StPO von § 100a StPO verdrängt werde, da sich beide Ermittlungsmaßnahmen ergänzten.

Zudem sei die Anwendung des § 100a StPO nicht auf E-Mails beschränkt, die nach Anordnung der Maßnahme versandt oder empfangen würden. Dies ergebe sich schon daraus, dass solche Mails unproblematisch von § 94 StPO erfasst sein. Daher müsse der im Hinblick auf seine Anordnungsvoraussetzungen deutlich strengere § 100a StPO erst recht anwendbar sein. Gleiches bestätige ein Umkehrschluss zur sog. Quellen-TKÜ nach § 100a Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 lit. b StPO, welche eine explizite zeitliche Einschränkung vorsehe, die bei § 100a Abs. 1 Satz 1 StPO fehle.

 

Anmerkung der Redaktion:

Hinsichtlich der Einziehung hatte der BGH bereits in seinem Beschluss vom 4. November 2020 (2 StR 32/20) darauf hingewiesen, dass zur Bestimmung des tatsächlich erlangten Etwas die jeweiligen Transaktionen genau im Hinblick auf die Nutzung des konkreten Depots und gegebenenfalls einer Clearingstelle als zentralem Kontrahenten in den Blick zu nehmen sei.

 

 

 

 

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