Reform des § 142 StGB – Herabstufung der Unfallflucht nach reinen Sachschäden zur Ordnungswidrigkeit

 

Das BMJ plant, den Straftatbestand der Unfallflucht zu reformieren. Um nicht das Strafrecht zum Schutz zivilrechtlicher Ansprüche einzusetzen, soll das unerlaubte Entfernen vom Unfallort bei Sachschäden nur noch als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden. Eine Vielzahl von Verbänden wurden daher um eine Stellungnahme bis zum 23. Mai 2023 gebeten. Die veröffentlichten Stellungnahmen finden Sie hier

Bereits 2018 haben die Experten des Arbeitskreises III des 56. Verkehrsgerichtstages diesbezüglich Empfehlungen ausgesprochen (die komplette Dokumentation des 56. Verkehrsgerichtstages finden Sie hier): 

„Arbeitskreis III
Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort

  1. Die strafrechtlichen und versicherungsvertragsrechtlichen Regelungen zum unerlaubten Entfernen vom Unfallort führen zu gewichtigen Rechtsunsicherheiten. Dadurch können Verkehrsteilnehmer überfordert werden. Vor diesem Hintergrund erinnert der Arbeitskreis daran, dass § 142 StGB ausschließlich dem Schutz Unfallbeteiligter und Geschädigter an der Durchsetzung berechtigter und der Abwehr unberechtigter Schadensersatzansprüche dient.
  2. Der Arbeitskreis empfiehlt mit überwiegender Mehrheit dem Gesetzgeber zu prüfen, wie eine bessere Verständlichkeit des § 142 StGB erreicht werden kann, insbesondere durch eine Begrenzung des Unfallbegriffs auf Fortbewegungsvorgänge und eine Präzisierung der Wartezeit bei Unfällen mit Sachschäden bei einer telefonischen Meldung, etwa bei einer einzurichtenden neutralen Meldestelle.
  3. Der Arbeitskreis fordert mit überwiegender Mehrheit den Gesetzgeber auf, die Möglichkeiten der Strafmilderung oder des Absehens von Strafe bei tätiger Reue in § 142 Abs. 4 StGB zu reformieren. Dabei sollte die Begrenzung auf Unfälle außerhalb des fließenden Verkehrs entfallen und die Regelung auf alle Sach- und Personenschäden erweitert werden.
  4. Der Arbeitskreis fordert mit knapper Mehrheit, dass das unerlaubte Entfernen vom Unfallort bei Sachschäden nicht mehr im Regelfall zu einer Entziehung der Fahrerlaubnis führt. Die Worte »oder an fremden Sachen bedeutender Schaden entstanden« in § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB sollten gestrichen werden. Der Arbeitskreis empfiehlt, bis zu einer gesetzlichen Änderung einen Regelfall der Entziehung der Fahrerlaubnis nur noch bei erheblichen Personen- und besonders hohen Sachschäden (ab 10.000 EUR) anzunehmen.
  5. Der Arbeitskreis hält es für notwendig, den Inhalt der auf das Verbleiben an der Unfallstelle bezogenen versicherungsvertraglichen Aufklärungsobliegenheit den strafrechtlichen Pflichten nach § 142 StGB entsprechend zu verstehen. Er fordert die Versicherer auf, dies durch unmittelbare Bezugnahme auf § 142 StGB in den AKB klarzustellen.“

Im Januar 2024 hat sich der Arbeitskreis V des 62. Verkehrsgerichtstages mit der Frage „Weniger Strafe bei Unfallflucht?“ beschäftigt und folgende Empfehlungen ausgesprochen: 

  1. Der Arbeitskreis ist einheitlich der Auffassung, dass die Vorschrift des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) reformiert werden sollte. Angesichts der Komplexität der Vorschrift sind Verkehrsteilnehmer und Geschädigte vielfach überfordert. Der Arbeitskreis empfiehlt, die Vorschrift im Hinblick auf die Rechte und Pflichten verständlicher und praxistauglicher zu formulieren.
  2. Der Arbeitskreis ist mit großer Mehrheit der Ansicht, dass auch nach Unfällen mit Sachschäden das unerlaubte Entfernen vom Unfallort weiterhin strafbar bleiben soll. Eine Abstufung solcher Fälle zur Ordnungswidrigkeit wird abgelehnt.
  3. Der Arbeitskreis empfiehlt mit großer Mehrheit die Festlegung einer Mindestwartezeit.
  4. Der Arbeitskreis empfiehlt mit großer Mehrheit, dass Unfallbeteiligte ihren Verpflichtungen am Unfallort bzw. den nachträglichen Mitwirkungspflichten auch durch Information bei einer einzurichtenden, zentralen und neutralen Meldestelle nachkommen können. Bei dieser sind die für die Schadensregulierung notwendigen Angaben zu hinterlassen.
  5. Der Arbeitskreis empfiehlt mehrheitlich erneut, die Voraussetzungen der tätigen Reue in § 142 Abs. 4 StGB zu ändern:
    a) Die Begrenzung auf Unfälle außerhalb des fließenden Verkehrs soll entfallen.
    b) Tätige Reue soll bei jeder Unfallflucht innerhalb von 24 Stunden nach dem Unfall möglich sein.
    c) Die Freiwilligkeit der nachträglichen Meldung bei der tätigen Reue sollte beibehalten werden.
    d) Tätige Reue soll zur Straffreiheit führen.
  6. Der Arbeitskreis ist mehrheitlich der Ansicht, dass das unerlaubte Entfernen vom Unfallort bei Sachschäden nicht als Regelfall für die Entziehung der Fahrerlaubnis geeignet ist. Er empfiehlt deshalb, die Regelvermutung in § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB auf die Fälle zu beschränken, bei denen ein Mensch getötet oder nicht unerheblich verletzt worden ist.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 31/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier. Die Pressemitteilung vom 16.5.2023 finden Sie hier

BGH, Urt. v. 16.5.2023 – VI ZR 116/22: Private Tagebuchaufzeichnungen stellen keine „amtlichen Dokumente“ des Strafverfahrens i.S.v. § 353d Nr. 3 StGB dar

Sachverhalt und Prozessverlauf:

Gegen den Kläger laufen wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung Ermittlungsverfahren im Rahmen dessen die Tagebücher des Klägers beschlagnahmt wurden. Die Beklagte hat Kenntnis vom Inhalt der Tagebücher erlangt, woraufhin sie wörtlich Textpassagen hieraus veröffentlichte. Gegen das vom LG Hamburg und überwiegend vom OLG Hamburg erlassene Verbot der Veröffentlichung wendet sich die Beklagte in ihrer Revision.

Entscheidung des BGH:

Die Revision hat Erfolg. Ein zivilrechtlicher Unterlassungsanspruch bestehe nicht. Hierfür müsste ein Schutzgesetz verletzt worden sein. Der in Betracht kommende § 353d Nr. 3 StGB stelle weder ein solches Schutzgesetz dar noch seien die Voraussetzungen der Strafnorm vorliegend erfüllt. § 353d Nr. 3 StGB schütze zwar auch vor einer Bloßstellung aufgrund eines Strafverfahrens. Eine abstrakte Gefährdung der Rechtsgüter genüge aber, sodass es auf eine einzelfallbezogene Abwägung nicht ankomme. Würde die Norm als Schutzgesetz angesehen werden, käme es zu einer Vorverlagerung des zivilrechtlichen Rechtsgüterschutzes. 

Der Tatbestand der Norm setzt eine „Anklageschrift oder andere amtliche Dokumente eines Strafverfahrens“ voraus. Bei den beschlagnahmten privaten Aufzeichnungen handelt es sich nicht um „amtliche Dokumente“, so der BGH. Ein weites Begriffsverständnis würde gegen Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 EMRK und Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Aus dem Wortlaut lasse sich nicht auf eine „amtlich verwahrte Dokumente“ schließen. Dies hätte der Gesetzgeber vor dem Hintergrund des sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebenen Bestimmtheitsgebotes einfügen müssen. 

KriPoZ-RR, Beitrag 30/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier. Die Pressemitteilung vom 10.11.2022 finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 10.11.2022 – 5 StR 283/22: Impfpassfälschungen sind auch nach altem Recht strafbar

Amtlicher Leitsatz:

Das Fälschen von Gesundheitszeugnissen nach § 277 StGB a.F. steht zur Urkundenfälschung nach § 267 StGB nicht im Verhältnis privilegierender Spezialität. 

Sachverhalt:

Der Angeklagte wurde vom LG Hamburg wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Darüber hinaus wurde der Angeklagte in neun Fällen wegen Urkundenfälschung angeklagt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hat der Angeklagte in diesen Fällen gegen Bezahlung Impfausweise angefertigt oder um Eintragungen ergänzt, die Impfungen gegen das SARS-CoV-2-Virus betrafen. Hierdurch konnten die Abnehmer bspw. Zugangsbeschränkungen umgehen. Das LG Hamburg sah hierin keine Verwirklichung des Straftatbestandes des § 277 StGB. Für eine Verurteilung wegen § 267 StGB ist das Gericht von einer Sperrwirkung des § 277 StGB a.F. ausgegangen und hat den Angeklagten vom Vorwurf der Urkundenfälschung freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat gegen die Entscheidung Rechtsmittel eingelegt. 

Entscheidung des BGH:

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Das LG Hamburg habe zutreffend erkannt, dass der Angeklagte sich nicht nach § 277 StGB a.F. strafbar gemacht hat. Zwar habe der Angeklagte über die Identität des Ausstellers getäuscht, indem er die Impfpässe mit einem erfundenen Namenszug und Stempel versah. Es liege jedoch kein erforderlicher Gebrauch zur Täuschung von Behörden oder Versicherungsgesellschaften vor. Der Angeklagte habe die Ausweise nur hergestellt und nicht selbst gebraucht. Auch erfülle der Einsatz in der Gastronomie oder Apotheke nicht den Adressatenkreis des § 277 StGB a.F. 

Rechtsfehlerhaft habe das LG Hamburg aber eine Verurteilung wegen § 267 StGB verneint, welches zur Aufhebung des Urteils führt. Eine Sperrwirkung liege nicht vor. Die Tatbestände des § 277 StGB a.F. und des § 267 StGB ständen nicht in einem Ausschlussverhältnis privilegierender Spezialität. Das Verhältnis zwischen § 277 StGB a.F. und § 267 StGB sei in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Der Strafsenat führt hierzu die unterschiedlich vertretenen Auffassungen an und verweist auf die bisher fehlende Entscheidung durch den BGH zum Verhältnis der Normen. Der Strafsenat führt sodann ausführlich aus, warum keine Spezialität mit privilegierendem Charakter des § 277 StGB a.F. gegenüber § 267 StGB besteht. Es fehle an einer spezifischen Rechtfertigung. Aus dem Wortlaut ergebe sich bereits keine Privilegierungswirkung. Auch systematische Argumente (strukturelle Unterschiede der Normen, das Normgefüge) sprächen gegen eine solche Annahme. § 277 StGB a.F.sei, im Gegensatz zu § 267 StGB, ein zweiaktiges Delikt und schon deshalb nicht vergleichbar. Erhebliche Wertungswidersprüche würden auftreten. Der Sinn und Zweck der Normen spreche ebenfalls aufgrund der unterschiedlichen Rechtsgüter gegen eine privilegierende Spezialität. Während § 267 StGB die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs mit Urkunden allgemein schütze (Interessen vermögensrechtlicher Art), diene § 277 StGB a.F. der Sicherung der Beweiskraft ärztlicher Zeugnisse für Behörden und Versicherungsgesellschaften (Integrität medizinischer Dokumente). Auch aus historischen Gesichtspunkten ergebe sich keine andere Wertung. 

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. 

Anmerkung der Redaktion:

Durch das Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze anlässlich der Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22.11.2021 (BGBl. I S. 4906), in Kraft getreten am 24.11.2021, wurden die Vorschriften der §§ 275 ff. StGB neu gefasst.

Prof. Dr. Hoven und Prof. Dr. Weigend berichten über die Neuregelungen der Straftatbestände zum Schutz von Gesundheitszeugnissen in KriPoZ 6/2021.

KriPoZ-RR, Beitrag 29/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 13.4.2023 – 4 StR 439/22: „E-Scooter“ als Kraftfahrzeug i.S.d. § 316 StGB

Leitsatz der Redaktion:

„E-Scooter“ stellen keine Elektrokleinstfahrzeuge oder Fahrräder („Pedelecs“) dar.

Sachverhalt:

Das LG Oldenburg hat den Angeklagten u.a. wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316 StGB verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen ist der Angeklagte mit einem „E-Scooter“ auf öffentlichen Wegen gefahren. Hierbei stand der Angeklagte unter Alkoholeinfluss (1,29 ‰), weshalb das LG Oldenburg von einer absoluten Fahruntüchtigkeit zum Tatzeitpunkt ausging. Der Angeklagte hat Rechtsmittel gegen die Entscheidung eingelegt. 

Entscheidung des BGH:

Der BGH hat die Revision des Angeklagten als unbegründet verworfen. Rechtsfehlerfrei habe die Strafkammer eine absolute Fahruntüchtigkeit angenommen. Für alle Kraftfahrer liege diese bei einem Grenzwert von 1,1 ‰. Der Angeklagte habe auch ein Kraftfahrzeug geführt. Unter Kraftfahrern zählten nach stetiger Rechtsprechung auch Fahrer von Krafträdern und Mofa. Eine Entscheidung darüber, ob auch „die neu aufgekommene Fahrzeugklasse der Elektrokleinstfahrzeuge“ unter den Begriff des Kraftfahrzeugs falle, liege hingegen noch nicht vor. Vorliegend sei dies jedoch nicht streitentscheidend. „E-Scooter“ stellen, unabhängig von der technischen Beschaffenheit, jedenfalls keine Elektrokleinstfahrzeuge dar, so der BGH. Maßgeblich sei vielmehr die Höchstgeschwindigkeit. Diese liege bei dem vom Angeklagten verwendeten „E-Scooter“ bei 25 km/h und liege damit nicht im den für Elektrokleinstfahrzeuge maßgeblichen Grenzbereich von 6-20 km/h (§ 1 Abs. 1 eKFV). Auch stelle ein E-Scooter mangels Pedale kein „Pedelec“ dar, sodass auch § 63a Abs. 2 StVZO nicht greife. 

KriPoZ-RR, Beitrag 28/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 20.12.2022 – 2 StR 232/21: Zur ausbeuterischen Beschäftigung bei Tätigkeit als Künstler

Amtlicher Leitsatz: 

Zu den Voraussetzungen der Ausbeutung durch eine Beschäftigung (hier: Tätigkeit als Künstler).

Sachverhalt:

Der Angeklagte wurde vom LG Aachen u.a. wegen Verstößen gegen das AufenthG und Ausbeutung der Arbeitskraft gemäß § 233 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen sind auf Veranlassung des Angeklagten Musiker aus Simbabwe nach Deutschland eingereist, um auf öffentlichen Plätzen aufzutreten. Der Angeklagte behielt einen Großteil der erzielten Einnahmen. Die Unterbringung der Musiker erfolgte teils in „katastrophalen“ Zuständen. Der Angeklagte legte Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein.

Entscheidung des BGH:

Die Revision des Angeklagten hatte teilweise Erfolg. Rechtsfehlerhaft habe das LG Aachen eine Verurteilung wegen Ausbeutung der Arbeitskraft angenommen. Diese setze eine ausbeuterische Beschäftigung i.S.d. § 232 Abs. 1 S. 2 StGB voraus. Nicht erfasst seien hiervon selbstständige Beschäftigungen. Darüber hinaus müsse ein auffälliges Missverhältnis bestehen. Hiervon sei auszugehen, „wenn es ins Auge springt, dass die Arbeitsbedingungen gegenüber anderen Arbeitnehmern völlig unangemessen sind.“ Ferner müsse rücksichtslos und unter Ausnutzung einer Zwangslage (ausländerspezifische Hilflosigkeit) gehandelt werden. Letzteres setze voraus, dass eine wirtschaftliche oder persönliche Bedrängnis vorliege. Existenzbedrohend müsse die Lage nicht sein. In zwei Fällen lägen diese Voraussetzungen beim Angeklagten nicht vor. Fraglich sei bereits, ob eine Beschäftigung i.S.v. § 232 Abs. 1 S. 2 StGB vorliege. Auch sei nicht hinreichend belegt, dass ein auffälliges Missverhältnis und ein rücksichtsloses Handeln vorliege. Die Anzahl der Straßenauftritte seien nicht nachgewiesen und die Einnahmen durch die Strafkammer nicht nachvollziehbar geschätzt worden, erwiesen sich vielmehr als „spekulativ“. 

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer zurückverwiesen. 

KriPoZ-RR, Beitrag 27/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 28.3.2023 – 4 StR 61/23: Eine Luftpumpe als Scheinwaffe

Leitsatz der Redaktion:

Eine Luftpumpe, die nach Art eines Gewehres eingesetzt wird, stellt eine Scheinwaffe dar.

Sachverhalt:

Das LG Essen hat den Angeklagten wegen schweren Raubes gemäß §§ 249 Abs. 1, 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen fasste der Angeklagte den Entschluss die Tasche der Geschädigten unter Drohung wegzunehmen. Hierzu hielt er der Geschädigten eine Luftpumpe nach Art eines Gewehres vor das Gesicht. Der Angeklagte beabsichtigte, dass so seinen Forderungen nachgekommen werde. Die Geschädigte und ihre Begleiterinnen erkannten nicht, dass es sich bei der Luftpumpe um keine Schusswaffe handelte und kamen den Forderungen des Angeklagten nach. Dieser nahm die Tasche an sich. Der Angeklagte legte Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein.  

Entscheidung des BGH:

Die Revision des Angeklagten wurde durch den BGH verworfen. Rechtsfehlerfrei habe das LG Essen das Vorliegen eines schweren Raubes festgestellt. Vom Qualifikationstatbestand § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB werden auch sog. (objektiv ungefährliche) Scheinwaffen umfasst, führt der Senat aus. Nicht hingegen würden hierunter Gegenstände fallen, die bereits aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes und in ihrer Eignung offensichtlich ungefährlich sind. Vorliegend sei ein solcher Fall jedoch nicht gegeben. Die verwendete Luftpumpe war gerade nicht offensichtlich ungefährlich. Ein Schlageinsatz wäre möglich gewesen. Es kam mithin nicht nur auf die Täuschung an. Der (Wort-)Sinn von § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB werde folglich nicht überschritten.

KriPoZ-RR, Beitrag 26/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier. Die Pressemitteilung vom 16.2.2023 finden Sie hier. Die Pressemitteilung vom 26.1.2023 ist hier verfügbar.

BGH, Urt. v. 16.2.2023 – 4 StR 211/22: Zur subjektiven Tatseite bei verbotenen Kraftfahrzeugrennen 

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Der Angeklagte und der frühere Mitangeklagte verabredeten sich, um ein Kraftfahrzeugrennen im Stadtgebiet durchzuführen. Auf der Gegenfahrspur beschleunigte der Angeklagte und erreichte eine Maximalgeschwindigkeit von 167 km/h. Als die Geschädigte mit ihrem Pkw unter Missachtung der Vorfahrt in die Straße einbog, führte der Angeklagte eine Vollbremsung durch und versuchte auszuweichen. Die Fahrzeuge kollidierten, woraufhin die Geschädigte im Krankenhaus verstarb. Vom LG Kleve wurde der Angeklagte wegen Mordes in Tateinheit mit verbotenem Kraftfahrzeugrennen mit Todesfolge verurteilt. Der BGH hob auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurück. Das LG Kleve hat daraufhin den Angeklagten wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge verurteilt. Die Verurteilung wegen eines vollendeten Tötungsdeliktes verneinte das LG. Ein bedingter Tötungsvorsatz habe nicht vorgelegen. Hiergegen legten die Staatsanwaltschaft und Nebenkläger Rechtsmittel ein. 

Entscheidung des BGH:

Die Revisionen, die allein das Ziel einer Verurteilung des Angeklagten wegen eines vollendeten Tötungsdeliktes hatten, haben Erfolg. Rechtsfehlerhaft habe das LG Kleve das Vorliegen eines bedingten Tötungsvorsatzes verneint. Die Ausführungen des LG zur Verneinung eines bedingten Tötungsvorsatzes ständen „in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis“ zu den Erörterungen, die das LG zur Bejahung eines bedingten Gefährdungsvorsatzes i.S.d. § 315d Abs. 2 StGB anführt. Zwar habe es zutreffend das Wissenselement des bedingten Tötungsvorsatzes bejaht. Das voluntative Element sei jedoch mit der Begründung verneint worden, weil der Angeklagte darauf vertraut habe, dass es „letztlich nicht zu einem Zusammenstoß“ kommen werde. Der bedingte Gefährdungsvorsatz i.S.d. § 315d Abs. 2 StGB sei hingegen mit der Begründung bejaht worden, dass der Angeklagte „insbesondere mit der Möglichkeit gerechnet [hat], dass andere Verkehrsteilnehmer plötzlich aus den angrenzenden Straßen auftauchen.“ Diese Ausführungen stehen im Widerspruch, so der Senat und führen zur Aufhebung des Urteils. 

Die Sache wird ur neuer Verhandlung und Entscheidung, diesmal an das LG Duisburg verwiesen.

KriPoZ-RR, Beitrag 25/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 16.3.2023 – 4 StR 252/22: Notwehrlage bei fortgesetztem Angriff 

Sachverhalt:

Der zur Tatzeit 15-jährige Angeklagte war nach den tatgerichtlichen Feststellungen in einen Streit mit seinem Stiefvater, den später Geschädigten, verwickelt. Im Vorfeld kam es zu körperlichen Übergriffen und Drohungen seitens des Geschädigten gegenüber den Angeklagten und dessen Mutter. Am Tatabend befürchtete der Angeklagte, dass es zu einer weiteren körperlichen Auseinandersetzung komme. Er ergriff deshalb ein Küchenmesser und forderte den Geschädigten auf, wegzugehen. Nachdem dieser der Aufforderung nicht nachkam, sondern dem Angeklagten ins Gesicht schlug, stach dieser mit dem Messer zunächst in den Oberbauch, anschließend in den Brustkorb. Dabei handelte er jeweils mit bedingtem Tötungsvorsatz und in Verteidigungsabsicht. Der Geschädigte verstarb. Das LG Kaiserslautern hat den Angeklagten freigesprochen. Die Messerstiche seien durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt gewesen. Die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger haben Rechtsmittel gegen die Entscheidung eingelegt. 

Entscheidung des BGH: 

Die Revisionen haben keinen Erfolg. Unter Zugrundelegung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs, führt der Senat aus, dass die Einstufungen der Messerstiche als durch Notwehr gerechtfertigt keine Rechtsfehler aufweisen. Rechtsfehlerfrei sei das LG Kaiserslautern vom Vorliegen einer Notwehrlage i.S.v. § 32 Abs. 2 StGB ausgegangen. Der hierfür erforderliche gegenwärtige, rechtswidrige Angriff des Geschädigten habe sich fortgesetzt, indem dieser in unmittelbarer Schlagdistanz zum Angeklagten geblieben sei. Mangels Feststellungen, sei dieses Verhalten nicht als Schmerzreaktion zu deuten – wie von der Staatsanwaltschaft eingewandt. Eine tatsächliche Verletzungshandlung sei für das Vorliegen eines gegenwärtigen Angriffes nicht erforderlich, sondern bestehe auch bei einem unmittelbar bevorstehenden Angriff. Ist es bereits zu einem Angriff gekommen, sei die andauernde Bedrohungslage entscheidend. Maßgeblich hierbei seien objektive Gesichtspunkte, die subjektive Befürchtung, dass ein Angriff bevorstehe, genüge nicht. Verbale Streitigkeiten seien hierfür nicht ausreichend. Hier habe das LG Kaiserslautern aber zutreffend die Ohrfeige des Geschädigten gegen den Angeklagten als Angriff gewertet. In dubio pro reo sei das LG rechtsfehlerfrei von einer objektiven Notwehrlage ausgegangen. Der BGH schließt sich den Ausführungen des LG Kaiserslautern an, wonach die Messerstiche als Notwehrhandlung auch erforderlich und geboten seien und der Angeklagte mit Verteidigungswillen handelte. Der Angeklagte habe gehandelt, um den bevorstehenden Angriff auf sich abzuwehren. Die Messerstiche seien zu dieser Verteidigung erforderlich gewesen. Auch liege keine sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts wegen eines familiären Näheverhältnisses vor. 

KriPoZ-RR, Beitrag 24/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 8.3.2023 – 1 StR 130/22: Keine Gesamtstrafenbildung trotz Gesamtstrafenlage zwischen deutschen und EU-ausländischen Verurteilungen 

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hat der Angeklagte im Jahr 2003 die Geschädigte unter Vorhalt eines Messers in seine Gewalt gebracht und mehrere Stunden lang gegen ihren Willen Geschlechtsverkehr ausgeübt. Der Angeklagte beging nach dieser Tat weitere Taten in Frankreich und vollstreckte dort 17 Jahren und neun Monate Freiheitsstrafe, bevor er im Jahr 2021 an deutsche Behörden überstellt wurde. Hier wurde der Angeklagte am 21.2.2022 vom LG Freiburg im Breisgau wegen besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Eine Gesamtstrafe mit den Strafen aus den französischen Verurteilungen wurde nicht gebildet. Der Angeklagte legte gegen die Entscheidung Rechtsmittel ein.

Entscheidung des BGH:

Der 1. Strafsenat des BGH hat die Revision des Angeklagten als unbegründet verworfen. Die fehlende Gesamtstrafenbildung sei rechtsfehlerfrei im Rahmen von Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI erfolgt. Grundsätzlich wäre gemäß § 54 Abs. 2 S. 2 StGB das zulässige Höchstmaß 15 Jahre, welches durch die Verurteilungen in Frankreich bereits überschritten worden wäre. Der EuGH führte – im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens – mit Beschluss vom 12.1.2023 hierzu jedoch aus: 

„[…] ein Mitgliedstaat nicht sicherstellen muss, dass in einem Strafverfahren gegen eine Person deren frühere Verurteilungen in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer anderen Tat mit gleichwertigen Wirkungen versehen werden wie denen, die im Inland ergangene frühere Verurteilungen nach den Vorschriften des betreffenden nationalen Rechts über die Gesamtstrafenbildung haben, wenn zum einen die Straftat, die Gegenstand des neuen Verfahrens ist, begangen wurde, bevor die früheren Verurteilungen erfolgten, und zum anderen eine im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts erfolgende Berücksichtigung der früheren Verurteilungen das mit dem genannten Verfahren befasste nationale Gericht daran hindern würde, gegen die betreffende Person eine vollstreckbare Strafe zu verhängen.“

Auch werde nicht verlangt, dass der hieraus sich ergebende Nachteil der fehlenden Gesamtstrafenbildung konkret darzulegen oder zu begründen sei. Das LG Freiburg hat, entsprechend den deutschen Regelungen, den Nachteil i.H.v. einem Jahr benannt und hierbei die Vorverurteilungen, den Zusammenhang der Tatzeitpunkte und die unterschiedlichen Rechtsgüter gewürdigt. Die Strafzumessung ist damit rechtsfehlerfrei erfolgt, so der BGH. 

Gesetz gegen digitale Gewalt

Gesetzentwürfe: 

 

Am 12. April 2023 hat das BMJ ein Eckpunktepapier zu einem Gesetz gegen digitale Gewalt veröffentlicht. Damit sollen die Rechte von Betroffenen bei Rechtsverletzungen im digitalen Raum zukünftig besser durchgesetzt werden können. Das gegenwärtige Recht werde diesem Anspruch nicht hinreichend gerecht. Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann: „Wirkungsvoller Rechtsschutz ist ein rechtsstaatliches Gebot. Wer in seinen Rechten verletzt wird, muss sich vor Gericht effektiv dagegen wehren können. Das gilt auch für Rechtsverletzungen im digitalen Raum: bei Beleidigungen im Netz genauso wie bei Bedrohungen oder Verleumdungen. Das geltende Recht bleibt hinter diesem Anspruch zurück. Betroffene haben es oft unnötig schwer, ihre Rechte selbst durchzusetzen. Oft scheitert schon eine Identifizierung der handelnden Person an fehlenden Informationen oder am Faktor Zeit. Das wollen wir ändern. Wir werden das Vorgehen gegen Rechtsverletzungen im digitalen Raum erleichtern. An den Spielregeln des demokratischen Diskurses wird das Gesetz nichts ändern. Was heute geäußert werden darf, darf auch künftig geäußert werden.“

Die Durchsetzung der Rechte Betroffener soll eine höhere Priorität erhalten als in den vergangenen Legislaturperioden. Dort wurde das Augenmerk eher auf die Verfolgung sog. Hasskriminalität gelegt. Konkret sind u.a. folgende Maßnahmen geplant: 

  • Stärkung privater Auskunftsverfahren
    Das Gesetz gegen digitale Gewalt soll das Auskunftsverfahren verbessern und über das bisher geltende Recht des TTDSG hinausgehen. Geplant ist u.a. die Möglichkeit der Herausgabe von bestehen Nutzungsdaten wie der IP-Adresse. Außerdem soll das Auskunftsverfahren im Fall einer rechtswidrigen Verletzung absoluter Rechte eröffnet sein (z.B. bei Verletzung des APR oder bei wahrheitswidrigen Nutzerkommentaren auf Bewertungsplattformen). Zur Herausgabe der Daten werden alle Anbieter von Messenger- und Internetzugangsdiensten verpflichtet und zwar schon zu einem früheren Verfahrensstadium. Die Offenlegung der IP-Adresse erfolgt dann nur gegenüber dem Gericht, welches zusätzlich ein Verbot aussprechen kann, die Bestandsdaten zu löschen. Eine Zusammenführung von IP-Adresse und Bestandsdaten zur Identifikation des Schädigers soll allerdings grundsätzlich erst bei Abschluss des Verfahrens erfolgen. Die Möglichkeit einer  einstweiligen Anordnung zur Auskunft über Bestands- und Nutzerdaten soll das Ganze bei offensichtlichen Rechtsverletzungen beschleunigen. Die gerichtliche Zuständigkeit wird beim Landgericht gebündelt werden (sog. „One-Stop-Shop- Lösung“, auch bei einem Streitwert unter 5.000 EUR soll das Landgericht für die Entscheidung über die konkreten Beseitigungs-, Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche zuständig sein). 

  • Anspruch auf eine richterlich angeordnete Accountsperre
    Bei schwerwiegenden Persönlichkeitsverletzungen soll Betroffenen unter gewissen Voraussetzungen die Möglichkeit der Erwirkung einer Accountsperre durch das Gericht eingeräumt werden. Da sich der Anspruch gegen den Diensteanbieter richtet und nicht gegen den Accountinhaber, soll dieses Instrument insbesondere für den Fall eine Verbesserung bieten, wenn der Accountinhaber nicht bekannt ist. Die Sperre wird allerdings an mehrere Bedingungen geknüpft: sie muss im konkreten Fall verhältnismäßig sein, eine Inhaltemoderation darf als milderes Mittel nicht ausreichen und es muss die Gefahr der Wiederholung schwerwiegender Beeinträchtigungen des APR durch von einem spezifischen Account veröffentlichte Inhalte bestehen. Außerdem wird die Accountsperre nur für einen angemessenen Zeitraum angeordnet werden können und nur, wenn der Diensteanbieter den betroffenen Accountinhaber zuvor auf ein anhängiges Sperrersuchen hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. 

  • Erleichterung der Zustellung 
    Die bereits geltende Pflicht zur Bestellung eines inländischen Zustellungsbevollmächtigten (§ 5 NetzDG) soll ausgeweitet werden. Mit Inkrafttreten des Digital Services Act wird das NetzDG aufgehoben. An die Stelle der bisherigen Regelung soll dann eine neue Rechtsgrundlage im Gesetz gegen digitale Gewalt treten. Sie wird dann auch die Zustellung von außergerichtlichen Schreiben erfassen. 
Die Verbände haben zu dem Eckpunktepapier bereits Stellung genommen. Die Stellungnahmen finden Sie hier

 

 

 

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