Abstract
Die sog. „Raser-Fälle“ werfen ein Schlaglicht auf die gegenwärtige Kultur der Strafrechtspflege in Deutschland sowie ihre Wahrnehmung im In- und Ausland. Sie zeigen, wie Strafrecht instrumentalisiert werden, aber zugleich auch selbst bereit sein kann, sich instrumentalisieren zu lassen. Obwohl von den Rasern statistisch (!) nur eine geringe Gefährdung ausgeht, ist es interessierten Diskursteilnehmern u.a. in Politik, Presse, Strafverfolgung gelungen, ein geradezu groteskes Bedrohungsszenario zu zeichnen.
Dahinter erscheint der Wunsch, eine Gefährdung der Gesellschaft zu postulieren, hiergegen Härte zu zeigen und sich auf diese Weise als Beschützer von „Recht und Ordnung“ zu profilieren. Scheinbare, jedenfalls empirisch nicht validierte, Gefährdungslagen, sollen es rechtfertigen, bewährte Kategorien des Strafrechts und des Prozessrechts preiszugeben, da diese einer vermeintlich gerechten Bestrafung der häufig schon von vornherein als solcher feststehenden „Mörder“ im Wege stehen. Differenzierte und individualschützende „Formen“ des materiellen und prozessualen Rechts werden demgegenüber als „Förmelei“ empfunden, die sich im Interesse der Mehrheit der „billig und gerecht denkenden“, der man sich zugehörig fühlt, durchaus dehnen und biegen oder auch ganz vernachlässigen lassen. Ist der zu entscheidende Fall nur evokativ genug und erscheint die richtige Bewertung als selbstverständlich, stehen dem als Friedensstörer ausgemachten Verdächtigen ggf. nicht mehr alle der „schützenden Formen“ zu. Diese „Formen“ aber sind – hier lässt sich eine Linie ziehen von Zachariaes „Handbuch des Gemeinen Strafprozesses“ aus dem Jahr 1868 und Jherings Vortrag zum „Kampf ums Recht“ 1872 bis zu Gerhard Jungfers „Strafverteidigung“ von 2016 –der entscheidende Schutz vor willkürlicher Strafverfolgung. Zwei Punkte stehen im Zentrum der Analyse: Lässt es sich rechtfertigen, die kategoriale Trennung von Vorsatz und Fahrlässigkeit zu verwässern, um in einzelnen Fällen eine als notwendig empfundene harte Strafe verhängen zu können und darf man den Beweis der inneren Tatsachen durch Wahrscheinlichkeitsaussagen auf der Basis eigener Plausibilitätsvorstellungen ersetzen? Daneben wird aufgezeigt, wie gefährlich es für die Wahrheitsermittlung ist, wenn inhaltliche Vorprägungen, fehlerhafte Evidenzannahmen und Richtigkeitserwägungen zur Grundlage der Erhebung und Würdigung von Beweisen gemacht werden; wie kognitive Dissonanzen zu Wahrnehmungsverzerrungen und diese zu unbewusst fehlerhaften Entscheidungen führen können.
I. Einleitung – Strafrecht als Symbol gegen indifferente Bedrohungsgefühle
Verbotene Rennen mit Kraftfahrzeugen im innerstädtischen Bereich sind kein neues Phänomen.[1] Deren strafrechtliche Aufarbeitung ist jedoch erst ab 2016 in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit geraten. Der Grund lag gewiss in einer zeitlichen Koinzidenz verschiedener Fälle u.a. in Köln, in der Schweiz, in Hamburg, Berlin und in Bremen. Statistisch lässt sich nichts für einen Anstieg entsprechender Fälle nachweisen[2], gleichwohl entstand ein massiver Druck auf die Gerichte, nicht zu milde zu urteilen.[3] Im sich entwickelnden Bundestagswahlkampf war das Thema für die meisten Parteien bestens geeignet, Emotionen zu wecken und mit dem Ruf nach harten Strafen Punkte bei der Wählerschaft zu verbuchen und – man muss es zumindest vermuten – den sog. „rechten Rand“ nicht nur der AfD zu überlassen. Auch das BMJV konnte sich diesem Zeitgeist nicht völlig entziehen und erließ fast schon im ad-hoc Verfahren ein Gesetz gegen verbotene Kraftfahrzeugrennen im Straßenverkehr. Dieses Gesetz allerdings ist trotz einiger handwerklicher Mängel ein richtiger Ansatz. Denn es führt zur Schließung genau der Lücke im Bereich der Freiheitsstrafe,[4] welche einige – in der Retrospektive vielleicht vorschnell – dazu veranlasste, das Strafrecht dem als solchem empfundenen (oder erhofften) überwiegenden Willen der Bevölkerung entsprechend zu interpretieren. Dies mag, wenn man an die sittenbildende Kraft des Strafrechts glaubt, die spontan richtige Reaktion auf die „hässlichen Fälle“ sein, stellt aber die sehr viel wichtigere Funktion des Strafrechts als Mittel der individuellen sozialen Intervention an einer entscheidenden Stelle in Frage. Gerade die soziale, im besten Fall integrative, Funktion des Strafrechts gerät in dem Wunsch, schnell „klare Kante zu zeigen“ aus dem Blick.[5] Was man hier erlebt, ist eine Erscheinungsform des symbolischen Strafrechts. Nicht der Erlass eines Gesetzes, sondern die einzelne Entscheidung, die im Einzelfall besonders hoch zugemessene Strafe, wird zum Symbol, das an die Allgemeinheit gerichtet wird.[6] Wie so häufig, wird es sehr viel mehr Mühe bereiten, die unreflektierte Preisgabe eines Differenzierungspotentials und die damit verbundene Ausweitung des Strafrechts soweit wieder einzugrenzen, dass die Fälle auf der Grenzlinie von Vorsatz und Fahrlässigkeit wieder und weiterhin adäquaten Lösungen zugeführt werden können.[7]
Glücklicherweise hat der 4. Senat am 1.3.2018 deutlich gemacht, dass in jedem einzelnen Fall der Beweis für das Vorliegen der objektiven und subjektiven Merkmale erbracht werden muss.[8] Gleichwohl zeigen die ersten Reaktionen aus dem Lager der – vermutlich nur fürs Erste enttäuschten – Befürworter eines möglichst harten Durchgreifens, dass die Argumente des BGH die Diskussion nicht ohne weiteres werden einfangen können.[9]
Man kann eben nicht den einen, besonders krassen, Fall zwischen den Kategorien transzendieren, ohne die Kategorie neu zu definieren. Tatsächlich wird, wer dies gleichwohl unternimmt, die „eine“ Ausnahme auch weiterhin i.d.R. mit dem Kriterium der Evidenz[10] zu rechtfertigen suchen. Die scheinbare Evidenz verschiebt sich damit jedoch von der Wahrnehmungs- auf die Bewertungsebene.[11] Evident ist dann vor allem, was dem Wertenden als richtig erscheint, also der subjektive Wertmaßstab.[12] Damit ist der wissenschaftstheoretische Begründungsrahmen des Evidenzkriteriums gesprengt. Zudem wird der zentrale Baustein eines rechtsstaatlichen Schuldstrafrechts in Frage gestellt – die individuelle Schuld des Täters, welche notwendig voraussetzt, sich einen Einblick in die Täterpsyche gerade dort zu verschaffen, wo das Verhalten besonders irrational und unverständlich erscheint. Dies mag zu einer milderen Sanktion führen oder aber auch zu einem sehr viel längeren Freiheitsentzug etwa im Fall der Sicherungsverwahrung. Fatal ist es in jedem Fall, die eigenen Wertmaßstäbe zu verabsolutieren und auf dieser Basis einer von entsprechenden festen Verhaltenserwartungen getrübten Wahrnehmung zu entscheiden.[13]
II. Die Fälle
Nachfolgend werden zwei der verschiedenen sog. „Raser-Fälle“ miteinander verglichen und bewertet. Beide Fälle werfen eine Fülle von Problemen des materiellen Strafrechts und des Prozessrechts auf. Insbesondere im Bereich der Tatsachenfeststellung, der Beweiswürdigung und Argumentation stellen sich Fragen der Methodik. Daneben sind auch Grundfragen der Kriminalpolitik berührt. Viele der hier angelegten Probleme wurden in der bisherigen Diskussion nicht oder nicht ausreichend kenntlich gemacht. Das Ziel dieses Beitrags ist es, die Probleme zumindest zu benennen. Gerade die dogmatischen Fragen werden häufig nur aufgeworfen. Eine im engeren Sinne wissenschaftlich-dogmatische Auseinandersetzung kann und will der Beitrag nicht leisten, da ansonsten jeder Rahmen gesprengt würde oder eine sehr begrenzte Auswahl hätte getroffen werden müssen. Daher wird die Diskussion an dieser Stelle auch nicht systematisch aufgebaut, sondern eher punktuell angeregt, gewissermaßen im Sinne eines wissenschaftlichen Essays, gelegentlich eines wissenschaftlichen Feuilletons. Dieser Stil ist bewusst gewählt, um die Vielzahl der Fragen sowie die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge, die einer Auseinandersetzung wert wären, darzustellen. Der Grund für diese Auswahl ist, dass diese beiden Fälle 2017 nahezu zeitgleich im Abstand von vier Wochen entschieden wurden und parallel dem 4. Strafsenat zur Entscheidung vorgelegt wurden. Die Hauptverhandlungen in Karlsruhe fanden Anfang Februar (Berlin) und Anfang März (Bremen) 2018 statt. Beide Fälle wurden am 1.3.2018 entschieden. Zudem weisen diese beiden Fälle in tatsächlicher Hinsicht, gerade die Beweisanzeichen für Gegenstand und Reichweite des Vorsatzes betreffend, signifikante Unterschiede auf. Die zentrale Frage ist jedoch, ob diese Unterschiede eine kategoriale rechtliche Differenzierung rechtfertigen. Der zweite – Berliner – Fall steht im Zentrum der Analyse, da hier mit der Verurteilung wegen Mordes die Anforderungen an einen Tötungsvorsatz soweit herabgesetzt wurden, dass man durchaus von einer Zeitenwende in der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit hätte sprechen können, wenn das Urteil vom BGH bestätigt worden wäre. Die Diskussion wäre damit zugunsten der sog. „Möglichkeitstheorie“ entschieden worden, die dem Berliner Urteil de facto zugrunde liegt. Die stattdessen bemühte sog. „Wahrscheinlichkeitstheorie“ kann keine Kriterien anbieten, anhand derer sich ein konkreter Wahrscheinlichkeitswert feststellen ließe. Sie bleibt damit eine Spielart der Möglichkeitstheorie.[14] Tatsächlich wird in den meisten Fällen, in denen von „Wahrscheinlichkeit des erkannten Erfolgseintritts“ als kognitivem Kriterium die Rede ist, das Evidenzkriterium in dem vorstehend beschriebenen, methodisch fehlerhaften Sinne einer normativen Offensichtlichkeit, die sich ihrerseits wesentlich aus der Vorprägung der bewertenden Person speist, angewendet.[15]
1. Der „Bremer Fall“[16]
Der Angeklagte betrieb einen Blog auf YouTube, auf dem er Videos einstellte, die mit einer Helmkamera beim Motorradfahren aufgenommen und von ihm live kommentiert wurden. Als Technikfan lebte er rund um Motorräder und verbrachte einen großen Teil seiner Zeit damit, auf dem Motorrad zu fahren und dies zu dokumentieren. In der Regel versuchte er zu nächtlichen Zeiten im Stadtgebiet von Bremen andere Motorradfahrer, vor allem aber Fahrer hochmotorisierter Autos, zu eher kurzen Wettrennen auf den Straßen zu bewegen. Ihm ging es primär darum, aus jugendlichem Übermut und Vernarrtheit in die Technik zu demonstrieren, dass er ein deutlich überlegener Fahrer war. Fehler der anderen wurden kommentiert, auch allerdings das Verhalten unbeteiligter Verkehrsteilnehmer, wenn diese sich oder ihn in Gefahr brachten. So beschrieb er bspw. einen Fußgänger, der ohne sich näher umzuschauen, auf die Straße zu laufen drohte, als so hilflos, dass er ihn jederzeit „zerlegen“ könne, erklärte dann aber, wie man als geübter Fahrer in diesen Situationen Unfälle vermeide – sowie, dass insbesondere ungeübte Fahrer nicht versuchen sollten, mit hohen Geschwindigkeiten durch die Stadt zu fahren. Zum verfahrensgegenständlichen Unfall kam es, als der Angeklagte zur Nachtzeit kurz sein Motorrad auf hohe Geschwindigkeit beschleunigte und dabei die erlaubte Geschwindigkeit massiv überschritt (max. 150 km/h). Danach ließ er das Motorrad „rollen“. Dabei näherte er sich einer Ampel. Obwohl die Fußgängerampel zum fraglichen Zeitpunkt auf „rot“ zeigte und andere Fußgänger stehen blieben, überquerte ein älterer männlicher Fußgänger unvermittelt die Straße. Der Fußgänger war zum Tatzeitpunkt im Bereich der einschränkten Schuldfähigkeit erheblich alkoholisiert. Der Angeklagte fuhr zu diesem Zeitpunkt bereits langsamer (unter 100 km/h) und konnte nicht mehr ausweichen, obwohl er nachweisbar nochmals seine Geschwindigkeit deutlich verminderte. Er traf den Fußgänger bei einer Geschwindigkeit von (nicht mehr als) 63 km/h mit tödlichen Folgen. Der Angeklagte selbst erlitt schwere Verletzungen, das Motorrad hatte einen Totalschaden.
Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen Mordes – aus Habgier, besonders niedrigen Beweggründen und mit gemeingefährlichen Mitteln. Das LG konnte keinen Tötungsvorsatz feststellen und verurteilte den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung zu 2 Jahren und 9 Monaten Freiheitsstrafe. Die Generalstaatsanwältin in Bremen hat die Sache dem Generalbundesanwalt (GBA) vorgelegt mit dem Bemerken, dass die Revision der Staatsanwaltschaft auf Weisung des Senators für Justiz und Verfassung durchgeführt werden solle. Der GBA lehnte es ab, der Revision beizutreten und beantragte Abweisung.[17]
2. Der „Berliner Fall“[18]
In der Nacht des 1.2.2016 trafen sich die beiden Angeklagten auf dem Kurfürstendamm und verabredeten mittels Gesten und lauten Motorengeräuschen, ein Autorennen den Ku’damm entlang bis zur Tauentzienstraße durchzuführen. Die beiden Angeklagten fuhren mit ex-trem überhöhter Geschwindigkeit und unter Missachtung von Verkehrszeichen in Richtung Gedächtniskirche. Die rund dreieinhalb Kilometer lange Strecke rasten die Angeklagten mit einer Geschwindigkeit bis zu 170 km/h entlang unter teilweiser Missachtung roter Ampeln. An der Kreuzung zur Nürnberger Straße kam es schließlich zu einem tödlichen Unfall. Ein mit deutlichen Abstand zu anderen Fahrzeugen noch bei grüner Ampelphase in die Kreuzung einfahrender Jeep wurde von dem Audi des einen Angeklagten quasi durchstoßen und rund 70 m weit geschleudert. Der Fahrer des Jeeps erlag noch am Unfallort seinen Verletzungen. Durch die Wucht des Aufpralls kollidierte der Audi des einen Angeklagten auch mit dem Mercedes des anderen Angeklagten, wobei durch die beiden Kollisionen Fahrzeugteile durch die Luft geschleudert wurden und im Umkreis von 70 m verstreut lagen. Die beiden Angeklagten erlitten lediglich leichte Verletzungen, die in seinem Fahrzeug mitfahrende Freundin des einen Angeklagten erlitt schwere Verletzungen. Die Angeklagten waren Fans hochmotorisierter Fahrzeuge und verwendeten den größten Teil ihrer Freizeit und ihres Geldes auf ihre Autos. In einem Fall stellte die Anklage fest, habe einer der Angeklagten seiner Freundin verboten, sich im Auto zu schminken, damit der Innenraum nicht beschmutzt werde.
Das LG verurteilte die beiden Angeklagten wegen Mordes mit gemeingefährlichen Mitteln in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Die Kammer kam also anders als im Bremer Fall zu dem Ergebnis, die Angeklagten hätten mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt.
3. Die Urteile des 4. Strafsenats[19]
Die beiden Entscheidungen des 4. Strafsenats befassen sich mit etlichen der hier angesprochenen grundsätzlichen Fragen. Explizit bestätigt wird die Bedeutung des voluntativen Vorsatzelements als rechtlich unverzichtbar und beweisbedürftig. In die richtige Richtung weist im Berliner Fall die Begründung, die Kammer habe den Tötungsvorsatz methodisch fehlerhaft in der Konstellation des sog. „dolus subsequens“ angenommen.[20] Indem der Senat unterstreicht, dass die Handlungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt bzw. der Vorsatz zum Handlungszeitpunkt vorliegen muss, setzt er ein Zeichen gegen die Ersetzung von Tatsachenfeststellungen durch Zuschreibungen und für die Notwendigkeit einer Beweiserhebung auch zu subjektiven Tatsachen. Hier genau sieht der Senat auch die Qualität des Bremer Urteils sowie die „offensichtlichen“ Defizite der Berliner Entscheidung: „Die Verurteilung wegen Mordes konnte keinen Bestand haben, weil sie auf einer in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaften Grundlage ergangen ist. Der vom Landgericht Berlin festgestellte Geschehensablauf trägt schon nicht die Annahme eines vorsätzlichen Tötungsdelikts. (…) Davon abgesehen leidet auch die Beweiswürdigung der (Berliner) Strafkammer zur subjektiven Seite der Tat unter durchgreifenden rechtlichen Mängeln (…) Das Landgericht (Bremen) hat die subjektive Tatseite vielmehr auf der Grundlage einer umfassenden und sorgfältigen Gesamtschau aller hierfür maßgeblichen Umstände des Einzelfalles bewertet.“[21]
Die Tatgerichte müssen sich also weiterhin der Mühe unterziehen, den Vorsatz deliktsspezifisch festzustellen. Objektive und subjektive Tatsachen sind zu beweisen, nicht bloß als wahrscheinlich anzunehmen. Die Gerichte müssen insbesondere Zeitpunkt und Zusammentreffen der objektiven und subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen darlegen. Damit wurde die Bedeutung des Koinzidenzprinzips nochmals unterstrichen. Es erfolgt eine klare Stellungnahme zum Verhältnis von kognitivem und voluntativem Schuldelement; ebenso zum Verhältnis von Verletzungs- und Gefährdungsvorsatz. Damit ergibt sich, dass selbstverständlich auch ein „Raser-Fall“ vorstellbar ist, der unter § 211 StGB subsumiert werden kann. Es kommt – und das ist die entscheidende Botschaft des 4. Senats[22] – darauf an, welche Beweise konkret für das Vorliegen eines spezifischen Tötungsvorsatzes zum Tatzeitpunkt vorliegen.
III. Struktur, Gegenstände und Ziele der Analyse
Dieser Beitrag versteht sich nicht als Besprechung der genannten Gerichtsurteile. Vielmehr geht es um eine Urteilsanalyse im weiteren Sinne. Ihr Gegenstand sind mögliche methodische Schwächen und Auslegungsdefizite, nicht zuletzt aber auch das Auftreten und mögliche Gründe für Wahrnehmungsverzerrungen, welche zu einer einseitigen Interpretation und Bewertung von Beweisen und Indizien führen können sowie dazu, Fakten gänzlich zu ignorieren.
Dabei muss man sich der Natur einer Urteilsbegründung bewusst sein. Feststellungen und Gründe eines Urteils müssen – wie eine Erzählung – in sich geschlossen und schlüssig sein. Daher wird man im Allgemeinen dazu neigen, erst auf zweiter Argumentationsebene darzulegen, warum alternative Deutungsmöglichkeiten nicht gleichermaßen überzeugend sind. Gleichwohl zwingt § 261 StPO dazu, diese zu würdigen. Auch wenn also eine Urteilsbegründung naturgemäß nicht die Objektivität eines Gutachtens haben muss, so lassen sich doch aus dem was gesagt wird, wie es gesagt wird und vor allem daraus, was ggf. nur angedeutet oder gar nicht gesagt wird, Rückschlüsse auf potentielle methodische Defizite ziehen.[23] Teilweise liegen diese auch offen zutage. Bei alledem erzählt auch dieser Beitrag eine Geschichte, denn es geht darum, potentielle methodische Fehler in der Urteilsentstehung, Argumentation und Begründung kohärent darzustellen. Die Urteile sind insoweit Mittel zum Zweck. Bei aller Kritik handelt es sich doch um methodisch durchschnittliche Urteile. Nachfolgend steht der eigentlich problematische Berliner Fall im Vordergrund. Er dient gleichsam als Schablone, vor deren Hintergrund einige Aspekte des Bremer Falls diskutiert werden.[24]
IV. Der rechtpolitische Rahmen
1. Der ursprüngliche rechtspolitische Hintergrund – Strafrahmen und Symbolik
Die Mordanklagen sind in beiden Fällen auf den beschränkten Strafrahmen des Tatbestands der fahrlässigen Tötung zurückzuführen. Wenn § 222 StGB maximal 5 Jahre Freiheitsstrafe androht, so muss dieser Strafrahmen auch für fahrlässige Mehrfachtötungen ausreichend sein. D.h. die realistische Straferwartung in Fällen wie den vorgenannten liegt bei 3 – 4,5 Jahren. Dies erscheint vor allem der Presse und Öffentlichkeit viel zu wenig angesichts der Leichtsinnigkeit und vor allem Sinnlosigkeit von Autorennen, welche keinerlei gesellschaftlichen Nutzen haben. Das Berliner Urteil wurde daher auch als Hilferuf an den Gesetzgeber[25] verstanden, eine Interpretation, welcher das Gericht soweit ersichtlich nicht entgegengetreten ist. Man kann sich fragen, ob ein solches Signal richtigerweise über die Verurteilung zu lebenslanger Haft transportiert werden sollte.[26] Allerdings lässt sich auch die Vermutung entnehmen, dass die Richter vielleicht anders geurteilt hätten, wenn es den neuen § 315d StGB (unten 2.) schon gegeben hätte.
Wenn diese Intention tatsächlich die Beweiswürdigung beeinflusst haben sollte, so würden verschiedene methodische Probleme zusammentreffen. Im Ergebnis läge dem Urteil eine spezifische Form des symbolischen Strafrechts zugrunde: Einerseits zeigt sich das Urteil selbst als Symbol des Wunsches der Kammer, derartige Abweichungen von der allgemein erwarteten Verhaltensnorm besonders sichtbar zu sanktionieren, also ein Symbol der Härte zur Beruhigung der Bevölkerung. Andererseits zeigt sich aber auch eine Botschaft an den Gesetzgeber, den juristischen – und wohl auch medialen Druck von den Gerichten zu nehmen. Da es bei diesen primär generalpräventiv ausgerichteten Signalen insoweit nicht auf die konkreten Befindlichkeiten der Angeklagten ankommt, war die Versuchung groß, konkrete Tatsachen u.a. durch Wahrscheinlichkeitsannahmen und Verhaltenserwartungen zu substituieren. Dass beides zwar nachvollziehbare aber keine legitimen Strafzumessungserwägungen sind, die überdies zu fehlerhaften Beweiswürdigungen und Schlüssen führen können, wird nachfolgend näher dargelegt.[27]
Wäre ein Tötungsvorsatz begründbar, sind Autos oder Motorräder nach insoweit einhelliger Rechtsprechung in fast allen Fällen als sog. „gemeingefährliches Mittel“ im Sinne des Mordtatbestands anzusehen. D.h. der Täter kann kaum steuern, wie viele Opfer er letztlich verursachen wird. Wäre das getroffene Fahrzeug im Berliner Fall ein voll besetzter Kleinbus gewesen, hätte es möglicherweise 5-6 Opfer gegeben. Zu beeinflussen war das für die Angeklagten im Tatzeitraum des Tötungsdelikts nicht (mehr). Damit ist die Strafrahmenalternative zu „bis zu 5 Jahren“ nur noch „lebenslang“, da § 211 StGB anwendbar wäre. Hier hätte die Reform der Tötungsdelikte Abhilfe schaffen können.[28] Der relativ gelungene Entwurf des BMJV scheiterte aber aus politischen Gründen, da den Koalitionsparteien angesichts einer angenommenen punitiven Stimmung in der Bevölkerung der Mut fehlte, die verfassungsgerichtlich seit Jahren abgesicherte Vollzugspraxis gesetzlich auszugestalten.[29]
2. Der aktuelle rechtspolitische Hintergrund – § 315d StGB als milderes Gesetz i.S.d. § 2 Abs.3 StGB?
Eine Lösung des Strafrahmenproblems schafft der neue § 315d StGB – Verbotene Rennen mit Kraftfahrzeugen.[30] Auch dieser ist ein typisches Produkt der hektischen Strafgesetzgebungsphase vor dem Ende der vergangenen Legislatur und technisch nicht vollends geglückt.[31] Wenigstens würde die Norm im Berliner Fall prima vista auch bei „nur“ fahrlässiger Verursachung des Todes eine Strafe bis zu 10 Jahren ermöglichen.[32] Auf diese Weise ist die oben beschriebene Sanktionslücke zwischen § 222 StGB und §§ 212/211 StGB geschlossen. Damit ist gewissermaßen nachträglich ein zentraler Grund für die Anwendung des Mordtatbestands entfallen.
Nicht nur materiell-strafrechtlich, sondern auch verfassungsrechtlich interessant ist allerdings, ob nicht die zwischenzeitliche Einführung eines milderen Gesetzes im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens zu berücksichtigen wäre. Das Rückwirkungsverbot („nullum crimen sine lege scripta“) des § 1 StGB greift wegen § 2 StGB nicht bei begünstigenden Gesetzesänderungen ein.[33] Allerdings gilt entspr. § 2 Abs. 3 StGB das mildere Gesetz, wenn das Gesetz, welches bei Begehung der Tat galt, bis zur letztinstanzlichen Entscheidung geändert wird.
Führt jedoch der zwischenzeitlich eingeführte § 315d StGB tatsächlich zur Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB? Was unter „Gesetz“ i.S. des § 2 StGB zu verstehen ist, ist umstritten, Konsens besteht dahin, dass der Begriff weit ausgelegt werden kann.[34] Milder ist ein Gesetz, wenn sich bei Kontinuität des Unrechtstypus die Rechtsfolge zugunsten des Täters verändert.[35] Dieses vage Kriterium kann so interpretiert werden, dass § 2 Abs. 3 StGB anwendbar ist, wenn „durch die inhaltliche Veränderung das auf die konkrete Sachverhaltskonstellation bezogene Ver- oder Gebot, das hinter den Straftatbeständen steht, dieselbe Aussage (…) für den Täter trifft“.[36] Ein Problem liegt darin, dass kein bestehendes Gesetz verändert oder aufgehoben und durch ein neues ersetzt wurde.[37] § 2 StGB kann also überhaupt nur dann zur Anwendung kommen, wenn man das darin enthaltene Meistbegünstigungsprinzip so versteht, dass die für ein bestimmtes Verhalten geltenden Gesetze in Bezug auf ihre Rechtsfolge zusammen zu bewerten sind. Da die Konstellation einer neuen zusätzlich anwendbaren Norm zwischen Abs. 1 und Abs. 3 liegt, wird nachfolgend die Anwendbarkeit des Abs. 3 zunächst hypothetisch unterstellt, da eine Straflosigkeit nach Abs. 1 eine vollständige Ersetzung voraussetzen würde, wohingegen hier nur eine modifizierende Ergänzung vorliegt.
Zunächst ist § 2 Abs. 3 StGB auf die Herbeiführung des Todes, nicht die Durchführung des Rennens zu beziehen. Im Verhältnis zu § 222 StGB ist § 315d StGB kein milderes Gesetz. Zwar ist er in der Rechtsfolge gegenüber § 211 StGB eindeutig ein milderes Gesetz, jedoch sind die Anwendungsvoraussetzungen nicht identisch. D.h., wenn man davon ausginge, es liege ein Tötungsvorsatz vor, spielt die Neueinführung des § 315d StGB im Prinzip keine Rolle.
Anders sähe es hingegen aus, wenn auf die übergreifende Bewertungsgrundlage für die Zurechnung des Todeserfolgs abzustellen wäre, also §§ 211und 315d StGB nicht als einander ausschließende Alternativen zu betrachten wären. Würde § 2 Abs. 3 StGB in dieser Weise Ausdruck des Meistbegünstigungsprinzips sein, müsste die Frage in der Revisions- oder Folgeinstanz[38] bewertet werden. Wiederum könnte man daran denken, dass das Urteil hierauf im Strafausspruch nicht beruhen kann, wenn § 211 StGB zur Anwendung gelangt, weil sich an der lebenslangen Freiheitsstrafe nichts ändert. Gleichwohl würde damit eventuell der Grundgedanke der Meistbegünstigung aus rein formalen Gründen missachtet. Denn es ist gerade nicht auszuschließen, dass die Beweiswürdigung zum Vorsatz im Urteil anders ausgefallen wäre, wenn dem Gericht eine Vorschrift zur Verfügung gestanden hätte, welche explizit Anwendung finden soll auf extrem gefährliches Verhalten im Straßenverkehr in der besonderen Situation eines verbotenen Rennens mit Kraftfahrzeugen (§ 315d Abs. 1 Nr. 2 i.V. Abs. 5 Alt. 1 StGB – Berliner Fall). Ähnliches gilt bzgl. des Versuchs, grob verkehrswidrig und rücksichtslos eine „höchstmögliche“ Geschwindigkeit zu erreichen (§ 315d Abs. 1 Nr. 3 i.V. Abs. 5 Alt. 1 StGB).[39] Daher könnte es dem Sinn des § 2 Abs. 3 StGB zuwiderzulaufen, die neuen Gesetze als nicht entscheidungserheblich einzuordnen. Diese Gesetze wurden gerade geschaffen für Situationen wie den Berliner oder den Bremer Fall.[40] Wenn dem so ist, dann kann wohl auch nicht ausgeschlossen werden, dass die neuen tatsächlichen Feststellungen sich auf die Annahme eines Tötungsvorsatzes ausgewirkt hätten. Gleichwohl: So sinnvoll es mit Blick auf den Ausgangspunkt der Diskussion um die „Raser-Fälle“ erschiene, § 315d StGB ggf. in der neuen Tatsacheninstanz anzuwenden, wäre dies eine weitreichende Neuinterpretation des § 2 Abs. 3 StGB. Sie würde auch nicht nur meistbegünstigend wirken. Denn für den Fall, dass die neue Kammer keinen Tötungsvorsatz feststellen kann, wäre der anwendbare Strafrahmen anderenfalls der des § 222 StGB.
V. Mittäterschaft
1. Die zeitliche Dimension des Vorsatzes (1)
Im Berliner Fall spielt die Frage der Mittäterschaft der Teilnehmer eines Autorennens eine spezifische Rolle, im Bremer Fall gibt es nur einen Täter.
a) Mittäterschaft bei nicht konvergenten Delikten und strukturell notwendiger Beteiligung einer weiteren Person
Wenn beide Fahrer wie vom Berliner Gericht angenommen, als Mittäter gehandelt hätten, hätten sie auf der Basis eines gemeinsamen Tatentschlusses das Opfer in funktionalem Zusammenwirken töten müssen. Wiederum ist es von zentraler Bedeutung, objektiv wie subjektiv zwischen dem Rennen und der Tötung zu differenzieren. Komplex ist die Frage, ob, und wenn ja, wann überhaupt ein solcher gemeinsamer Plan bei zwei Akteuren entstehen kann, die nicht mit- sondern gegeneinander agieren. Denn die hier vorliegende Konstellation ist nicht die eines Konvergenzdelikts.[41]
Liest man juristische Stellungnahmen in der Tagespresse, ist die Sache offensichtlich ganz einfach: „Da es sich bei den Rennteilnehmern um Mittäter handelt, genügt es, wenn die Fahrer einen Unfall durch den jeweils anderen für möglich halten und sich damit abfinden“.[42] Tatsächlich ist diese Aussage aber, vermutlich der Gedrängtheit des Mediums geschuldet, redundant. Gleichwohl mag sie auf den ersten Blick vielleicht sogar für juristisch geschulte Leser überzeugend wirken. Jedoch geht es bei § 25 Abs. 2 StGB um die Zurechnung objektiver Tatbeiträge. Erst auf dieser Basis lässt sich der jeweilige Vorsatz der Beteiligten sowie ggf. ein gemeinsamer Tatentschluss bestimmen. Zudem wird wieder der Entschluss zum Rennen mit dem zur Tötung verquickt. Wie der Alleintäter muss auch jeder Mittäter für sich den Erfolg „wollen“ bzw. in Kauf nehmen. Will man nur, dass ein anderer den Erfolg herbeiführt, liegt ein Gehilfenvorsatz näher.[43] Versucht man das Ganze auf dem Boden der sog. „Tatherrschaftslehre“ zu lösen, zeigt sich zudem noch deutlicher, dass nicht der Tatvorsatz dem Mittäter zugerechnet wird, sondern der funktionale objektive Beitrag.
Die Rechtsprechung verlangt entweder ein eigenes Interesse an der Tat oder die Vorstellung der Beherrschung des Tatgeschehens („Wille zur Tatherrschaft“). So scheint der BGH in einigen Fällen für die Mittäterschaft auch auf Kriterien der Tatherrschaft abzustellen.[44] Dagegen wird in anderen Fällen auf die Interessentheorie zurückgegriffen und das Eigeninteresse als Voraussetzung der Mittäterschaft in den Vordergrund gestellt.[45]
Freilich muss es diesen Entschluss selbst im Hinblick auf das Rennen erst einmal nachweisbar geben. Im Berliner Fall fuhren die Täter ein verbotenes Autorennen. Dies bedingt einerseits, dass es einen weiteren Fahrer gibt, andererseits haben beide nicht dasselbe Ziel. Jeder will selbst als erster die Ziellinie überfahren, muss also schneller als der andere sein und den Sieg beim Rennen nur für sich erreichen wollen. Auch bei einem olympischen 100m Sprint wird man nicht ernsthaft formulieren, die Athleten wollten mittäterschaftlich das Rennen gewinnen. Vielmehr ist die Grundstruktur hier kompetitiv. Wer gewinnen will, kann aber nicht für sich zugleich den Unfall in Kauf nehmen, der einen Sieg unmöglich macht.[46] Wer lediglich (hypothetisch) in Kauf nehmen würde, dass der Gegner den Unfall verursacht, weil er dann selbst gewinnen kann, hätte keinen eigenen Tötungsvorsatz, sondern wiederum, wenn überhaupt, Gehilfenvorsatz.[47] Es fehlt also bereits an der Zurechnungsgrundlage eines Tötungsdelikts in Mittäterschaft.
Aber selbst, wenn man diese Hürde einstweilen beiseiteschiebt, bleiben weitere Fragen zu klären. Da sich diese Struktur in Bezug auf das Wollen ersichtlich auch auf das Eintreffen an bestimmten Wegpunkten auf der Strecke auswirkt, sind beide Punkte relevant. Bei einer insoweit nicht konvergenten Tatausführung stellt sich objektiv, vor allem aber subjektiv, die Frage, ob zwei Täter, die „kompetitiv“ gegeneinander ein Rennen fahren, Mittäter im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB sein können. Nur dann wäre im Berliner Fall dem Angeklagten, der selbst das Opfer mit seinem Pkw nicht traf, der Todeserfolg zuzurechnen. Auch diesbezüglich wird allerdings in der Tagespresse erläutert, warum das kein Problem ist: „Hier wird man kaum argumentieren können, dass der Täter auf die sichere Fahrweise eines ihm weitgehend unbekannten Kontrahenten vertraut hat“.[48] Soll also, auch wenn ein Fahrer selbst von seiner Fahrweise überzeugt war und für sich davon ausging, jeden Unfall vermeiden zu können, ihm im Wege des § 25 Abs. 2 StGB ein Tötungsvorsatz „zugerechnet“ werden, weil er nicht gleichermaßen darauf vertrauen konnte, dass der Kontrahent ebenso fahrtüchtig war, also vielleicht weniger „sicher“ Unfälle vermeiden konnte? Die zentralen methodischen Einwände seien nur kurz aufgezählt: (1) Es fehlt eine Feststellung dazu, welche Vorstellung beide vom Fahrvermögen des anderen hatten. (2) Liegt dem die Überlegung zugrunde, wer glaube, er sei der bessere Fahrer und werde gewinnen, vertraue in Bezug auf das eigene Verhalten darauf, dass alles gut gehen werde, könne dasselbe aber nicht hinsichtlich des Gegners, so spricht dies doch gerade gegen einen eigenen Tötungsvorsatz. (3) Mittäterschaft bedeutet Zurechnung fremder Tatbeiträge. Dies geschieht hier gerade nicht. Vielmehr wird dem einen Fahrer kein objektiver Tatbeitrag zugerechnet, sondern gleichsam eine Vorstellung bezüglich der Fähigkeiten des anderen unterschoben, für die es keine Anhaltspunkte gibt. Schon gar nicht dafür, dass der andere eher eine Kollision in Kauf genommen habe – oder gibt es einen allgemeinen Regelsatz, dass, wer weniger gut fährt, eher einen Unfall in Kauf nimmt? Wenn ja, dann wird der Straßenverkehr künftig ein sehr heikles Unterfangen. Demnach (4) wird hier die Mittäterschaft quasi auf den Kopf gestellt. Wenn für sich betrachtet jeder geglaubt hat, er könne einen Unfall vermeiden, so kann aus dieser Fahrlässigkeit nicht über § 25 Abs. 2 StGB Vorsatz werden, selbst wenn jeder einen dolus eventualis bzgl. der Erfolgsherbeiführung durch den anderen hätte. Mittäterschaft wirkt nicht vorsatzbegründend für den Fahrlässigkeitstäter. Der 4. Senat stellt glücklicherweise auch insoweit klar heraus, dass es überdies wiederum an der deliktsspezifischen Begründung des Tatenschlusses fehlt: „Aus den Urteilsfeststellungen ergibt sich nämlich nicht, dass die Angeklagten ein Tötungsdelikt als Mittäter begangen haben. Dafür wäre erforderlich, dass die Angeklagten einen auf die Tötung eines anderen Menschen gerichteten gemeinsamen Tatentschluss gefasst und diesen gemeinschaftlich (arbeitsteilig) ausgeführt hätten. Die Verabredung, gemeinsam ein illegales Straßenrennen auszutragen, auf die das Landgericht abgestellt hat, hat einen anderen Inhalt und reicht für die Annahme eines mittäterschaftlichen Tötungsdelikts nicht aus. Vielmehr hat es insoweit nur darauf verwiesen, dass „ein Kräftemessen mittels eines Autorennens/Stechens naturgemäß ein von einer gemeinsamen Tatherrschaft getragenes Verhalten“ (UA 49) darstellt. Die erforderliche Anknüpfung dieser Erwägungen an ein vorsätzliches Tötungsdelikt findet sich im Rahmen der Prüfung der Mittäterschaft nicht. Dass die Angeklagten den Entschluss gefasst hätten, einen anderen durch gemeinschaftliches Verhalten zu töten, lässt sich dem Urteil an keiner Stelle entnehmen.“[49]
b) Zeitpunkt der Fassung eines deliktsspezifischen gemeinsamen Tatenschlusses
Wie sich die Fassung des gemeinsamen Tatentschlusses zur Tötung anderer Menschen – deliktsspezifisch! – darstellen könnte, ist ein komplexes Zurechnungsproblem.[50] Hinzu kommen Fragen im Bereich der spontanen Fassung eines Tatplans. Hierfür wäre zunächst ein Indiz für den relevanten Zeitpunkt zu benennen. Da soweit erkennbar vor dem Beginn des Rennens keine nachgewiesene Kommunikation stattfand, kommt ein früherer Zeitpunkt nicht in Betracht.[51] Zwar kann ein gemeinsamer Tatplan auch sehr spontan gefasst werden. Jedoch bedingt gerade eine beschränkte, häufig nonverbale Kommunikation, dass der Hinzutretende (der sich der Aufforderung, mitzumachen, anschließt) den wesentlichen Sachverhalt erfasst. Das mag man für das Rennen an sich wohl zugeben. Eine vergleichbare Entschlussfassung im Hinblick auf die – zu diesem Zeitpunkt nicht, bzw. wenn überhaupt, nur am Rande des Bewusstseins vorhandene Vorstellung, dass andere Menschen an Leib oder Leben gefährdet werden könnten, ist in concreto nicht vorstellbar. Gerade durch die spontane Entschlussfassung zum Rennen werden weitergehende Reflektionen über ein tragisches Ende unwahrscheinlicher. Die Kammer hat sich ohnehin weitgehend darauf beschränkt, den Entschluss zum Rennen zu begründen. Die zwingend notwendige Differenzierung zum Tötungsvorsatz erfolgt nicht. Damit verschiebt sich der Zeitpunkt, zu welchem ein Tatentschluss zur Tötung gefasst werden konnte, auf konkrete Situationen während des Rennens. Selbst wenn man die Erkenntnis des ersten der beiden Fahrer als Zeitpunkt möglicher Zurechnung annehmen würde, muss die Unfallsituation in irgendeiner Weise visualisiert worden sein. Zu diesem Zeitpunkt war es nicht mehr möglich, den Erfolgseintritt durch Ausweichen zu verhindern. Hierbei handelt es sich nicht um eine „Spitzfindigkeit“ der Senatsvorsitzenden, „die nicht über das eigentliche Problem hinwegtäuschen“ könne.[52] Im Gegenteil ist es notwendig, zu differenzieren, zu präzisieren – und Tatsachen festzustellen.
2. Ersetzung des Vorsatznachweises im Einzelfall durch probabilistische Zuschreibung
Diese Notwendigkeit zu differenzieren, gerät aus dem Fokus, wenn der Zeitpunkt der Entschlussfassung im Hinblick auf die Todesherbeiführung nicht präzisiert wird. Hierfür wiederum ist, wie nachfolgend genauer dargelegt wird, u.a. ursächlich, dass der Vorsatz auf ein kognitives Element im Sinne einer generalisierenden Vernünftigkeitsannahme reduziert wird (i.S. eines allgemein vorausgesetzten Wissens). Dann aber geht es nicht um eine subjektive Tatsache, deren Vorliegen zum Tatzeitpunkt beweisbedürftig ist.[53] Ebenfalls mitursächlich ist, dass eine deliktsspezifische Differenzierung des Vorsatzes nicht konsequent durchgehalten wird. Dass die Berliner Fahrer vorsätzlich ein Autorennen durchführten, ist aufgrund weitgehend erkennbarer Tatsachen und einer insoweit zur Überzeugungsbildung geeigneten Beweiswürdigung argumentativ gut abgesichert. Nur: Gegenstand der Diskussion ist der Vorsatz, einen anderen Menschen zu töten. Die Beweise für das eine sind in der Mehrzahl nicht einmal schwache Indizien für das andere. Es bedarf also deliktsspezifischer Feststellung, Beweiswürdigung und rechtlicher Argumentation. Statt aber, wie deshalb notwendig, den (Er-) Kenntnisstatus der Fahrer zum Tatzeitpunkt zumindest mit konkreten Indizien abzusichern, schreibt die Kammer den Fahrern bestimmte Eigenschaften zu, die nach ihrer Ansicht bspw. Fahrer hochmotorisierter Autos üblicherweise haben und schlussfolgert hieraus, was die beiden Angeklagten zum Tatzeitpunkt für einen Erkenntnishorizont gehabt haben sollten.
Derartige Eigenschaften weisen Personen üblicherweise bereits weit im Vorfeld des eigentlichen tatbestandlichen Verhaltens auf. Damit wird das Wesen des Vorsatzes in extremer Weise modifiziert, generalisiert und normativiert. Wie sich erweisen wird, transzendiert das zeitlich gebundene Faktum Vorsatz zu einer probabilistischen Prognose. Wahrscheinlichkeitsaussagen sind zwar nützlich zum Verständnis oder zur Modellierung komplexer Systeme, denn oftmals können keine bestimmten Sachverhalte festgestellt werden. Allerdings können in diesen Fällen i.d.R. nur absolute oder relative, genaue oder ungefähre Wahrscheinlichkeitsbewertungen angegeben werden; es sind also nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich darüber, was rechnerisch zu erwarten wäre. Solche Aussagen ermöglichen im Allgemeinen keine Bestimmung von Einzelfällen, vielmehr handelt es sich um statistische Aussagen über regelmäßig stattfindende Ereignisse.[54] Ganz konkret: Die Beweisfrage „nahmen die Fahrer zum relevanten Zeitpunkt in Kauf?“ wird ersetzt durch „nehmen Fahrer ein solches Ereignis üblicherweise mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit in Kauf?“.
Dementsprechend ist diese Vorgehensweise zur Bestimmung des konkreten Tatvorsatzes ungeeignet, denn sie ermöglicht lediglich eine statistische Aussage über die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Ereignis eintreten könnte. Sie ist aber gerade nicht zur Vorhersage konkreter Einzelereignisse verwendbar.[55] Methodisch schließt dies auch eine Reproduktion des konkreten Ereignisses aus. Daran ändert sich auch nichts, wenn man sich in (fehlerhafter) Anwendung des Evidenzkriteriums darauf beruft, die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit mit der Möglichkeitstheorie durchführen zu wollen.[56] Die Begründungsebene der Wahrscheinlichkeit ist eine ganz andere. Während man dort behauptet, wer mit x% Wahrscheinlichkeit erkenne, dass ein Erfolg eintreten werde, handele vorsätzlich, heißt es hier, mit y% Wahrscheinlichkeit lag statistisch gesehen Vorsatz vor. Das Ergebnis kann immer nur lauten: Mit der Wahrscheinlichkeit von z% hat der Angeklagte vorsätzlich gehandelt.[57] Darauf ein Urteil zu stützen, wäre ein Verstoß gegen den Grundsatz in-dubio-pro-reo.
3. Die zeitliche Dimension des Vorsatzes und ihre Bedeutung für das Schuldprinzip – „dolus antecedens“, „dolus subsequens“ und „Koinzidenzprinzip“
Die Ersetzung festzustellender konkreter Tatsachen durch Zuschreibung probabilistischer Aussagen führt zu einem weiteren Problem, das auch in der Berliner Entscheidung angelegt ist. Die statistische Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Bewusstseinszustands kann nicht hinreichend situationsspezifisch erfolgen. In Ermangelung von Vergleichsfällen kann man nicht sagen, „alle Teilnehmer an verbotenen Rennen, bei denen Menschen zu Tode kommen“, sondern allenfalls „wer unvernünftig schnell fährt“ oder „wer an einem solchen Rennen teilnimmt“. Dieses Bewusstsein, selbst wenn es allgemein vorhanden wäre, kann man aber nicht ohne weiteres auf die Unfallsituation extrapolieren, solange es keine konkreten Indizien gibt. Dementsprechend muss man die Erwartung, der Täter werde die kognitiven und voluntativen Elemente des Vorsatzes zum Tatzeitpunkt aufgewiesen haben, in die Vorstellung eines situationsübergreifenden Vorsatzkontinuums abwandeln. Das führt jedoch allenfalls zu einem latenten Vorsatz, für den u.U. zu keiner Zeit des Versuchs- und Vollendungsstadiums festgestellt werden kann, dass er zumindest kurzfristig aktualisiert wurde. An dieser Stelle ist nochmals in Erinnerung zu rufen, dass es um die tatbestandliche Ausführung der Tötung geht, nicht um die des Rennens! Der Zeitraum ist aber in den vorliegenden Konstellationen aufgrund der späten Erkennbarkeit des späteren Opfers und der hohen Geschwindigkeit extrem verengt. Schließt man in dieser Konstellation aus Indizien für Phasen vor oder nach der tatbestandlichen Ausführung auf einen Tatvorsatz, so hat man tatsächlich im ersteren Falle einen „dolus antecendes“[58], im zweiten einen „dolus subsequens“[59] begründet. Beides sind keine Vorsatzformen im Sinne des Strafrechts.[60] Sie stellen eine Verletzung des Koinzidenz- oder Simultaneitätsprinzips dar, welches besagt, dass alle Strafbarkeitsvoraussetzungen zu einem Zeitpunkt innerhalb des Versuchs- oder Vollendungsstadiums (tatbestandlichen Ausführungsstadiums) zusammentreffen müssen. Nur dann kann bei methodisch korrekter Subsumtion eine strafbare Handlung vorliegen.[61] Näheres unter VII.3, IX.
VI. Das Vorsatzproblem – das voluntative Element als notwendiges Abgrenzungskriterium zwischen Tötungs- und (Lebens-) Gefährdungsvorsatz
In beiden Fällen stellt sich die zentrale Frage, ob die Angeklagten während des Autorennens den Tod anderer Menschen zumindest billigend in Kauf nahmen. Jeweils bestand objektiv ein erhebliches Risiko dafür, dass ein Unfall zugleich zu schwersten Verletzungen oder zum Tod auch der Angeklagten selbst führen könnten. Suizidale Neigungen konnten in keinem Fall festgestellt werden.
1. Erkennen und Wollen
Kann man sich also auf ein solches Rennen einlassen ohne zugleich den eigenen Tod oder schwere Verletzungen in Kauf zu nehmen? Kann man, anders gewendet, weder eigene Verletzungen noch die Beschädigung des eigenen Fahrzeugs in Kauf nehmen, wohl aber gleichzeitig einen Unfall und den Tod anderer Verkehrsteilnehmer? Als Kontrollfrage sei ein etwas anders gelagerter Fall gebildet, welcher exakt dasselbe Problem aufwirft: Wer an einer wenig übersichtlichen Stelle bei Rot als Fußgänger die Straße quert, sollte wissen, dass jederzeit ein Fahrzeug die Stelle erreichen kann und trotz ordnungsgemäßer Fahrweise zu einem Ausweichmanöver gezwungen werden kann, durch welches unkalkulierbare Sachschäden entstehen können aber gleichermaßen das Leben des ausweichenden Autofahrers beendet werden kann. Kann ein solcher Fußgänger die Straße überqueren, ohne einen Vorsatz zur Sachbeschädigung, Körperverletzung oder Tötung?
Nach gängiger Definition besteht der Vorsatz aus einem Element des Wissens um den möglichen Erfolg – dem kognitiven Element.[62] Daneben ist es aber auch erforderlich, den Erfolg der Tötung mit einem Element des Wollens herbeizuführen, dem voluntativen Element.[63]
Dass es in der vorliegenden Konstellation nicht denkbar ist, ein voluntatives Element gleichermaßen pro Tötung und contra Selbstgefährdung oder Fahrzeugbeschädigung im aktiven handlungsleitenden Bewusstsein aufzuweisen, scheint deshalb bei tatsachenorientierter Betrachtung eindeutig zu sein. Denn der Tod eines Unbeteiligten kann hier nur durch Verletzung der eigenen Rechtsgüter, die erhalten werden sollen, herbeigeführt werden. Daher kann ein Tötungsvorsatz in Fällen wie dem vorliegenden nur dann angenommen werden, wenn das voluntative Vorsatzelement von seiner tatsächlichen und beweiszugänglichen Grundlage abgelöst und durch einen Wertungs- und Zuschreibungsakt ersetzt wird. Dies wäre nur dann anders, wenn man Indizien dafür finden würde, dass die Fahrer eigene Verletzungen bis hin zum Tod und die Beschädigung oder Zerstörung der Fahrzeuge in Kauf genommen hätten.[64] Dafür aber gibt es in der Begründung keine unmittelbaren Beweise oder Indizien. Dementsprechend musste die Kammer das voluntative Vorsatzelement in tatsächlicher Hinsicht zumindest teilweise durch einen Wertungsakt substituieren.
Im Kern geht es bei dem juristisch-rationalen Teil der Diskussion der „Raser-Fälle“ darum, dass dieses voluntative Element des Vorsatzes preisgegeben werden könnte, wenn die Annahme eines Tötungsvorsatzes auf rechtlich zutreffenden Erwägungen fußt.[65] Dies hätte weitreichende Auswirkungen auf die Dogmatik und vermutlich auch auf die Verurteilungspraxis bei Tötungsdelikten. Denn eine solche Verkürzung des Vorsatzes würde die gesamte Grenzlinie zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit verschieben. Was wären die Konsequenzen:
2. Lebensgefährdung und Tötung
Der sogenannte „Gefährdungsvorsatz“ wäre nicht mehr sinnvoll zu begründen, eine Differenzierung zwischen vorsätzlich lebensgefährdendem Verhalten und vorsätzlich todesverursachendem Verhalten ließe sich nicht mehr durchführen. Denn wer (kognitiv) erkennen würde, oder bei realistischer Einschätzung der Lage erkennen müsste (dazu gleich), dass sein Verhalten möglich oder wahrscheinlich den Tod eines anderen Menschen herbeiführen kann, handelte in jedem Fall vorsätzlich. Diesen Schluss befürworten die Vertreter der Mordanklagen in unseren Fällen, explizit oder inzident.[66] Der 4. Senat tritt dem zu Recht entgegen.[67]
Tatbestände wie § 224 Nr. 5 (gefährliche Körperverletzung durch lebensgefährdendes Verhalten) oder auch §§ 315c StGB (Straßenverkehrsgefährdung) und der o.g. neu eingeführte § 315d StGB sind dadurch gekennzeichnet, dass sie in vollem Umfang vorsätzlich begangen werden und doch niemals zu einer Verurteilung nach §§ 212, 211 StGB führen würden. Weil sich der Vorsatz nur auf eine Gefährdung fremden Lebens bezieht, nicht aber auf dessen Auslöschung. In der Regel befassen sich die Täter gar nicht mit dem Umstand, dass das Opfer sterben könnte, obwohl sie alle tatsächlichen Umstände ihres Tuns erfassen. Dabei beschreibt § 224 Nr. 5 StGB eine an sich noch komplexere Situation: Das Zusammentreffen eines Verletzungsvorsatzes im Hinblick auf die körperliche Integrität mit einem bloßen Gefährdungsvorsatz bzgl. des Lebens – und dies nicht „bloß“ im Rahmen eines Autorennens, sondern bei einer gezielten Verletzungseinwirkung auf den Körper, etwa bei Messerstichen.[68] Bemerkenswerterweise hat der Gesetzgeber in der neuen Vorschrift zu verbotenen Rennen mit Kraftfahrzeugen, in § 315d Abs. 2 StGB, erneut explizit einen Lebensgefährdungsvorsatz normiert.[69] Wendet man die Möglichkeitstheorie an und verzichtet zugleich auf das voluntative Vorsatzelement, so kann diese Differenzierung nicht mehr abgebildet werden. Hierin liegt eine der systematischen Schwächen der Konstruktion.
3. Indizienbeweis und Schlussfolgerung
Die Protagonisten dieses Ansatzes[70] verweisen auf vermeintliche forensische Notwendigkeiten: Da niemand in die Köpfe der Angeklagten hineinsehen könne, müsse gerade bei Tötungsdelikten, bei denen verständig verteidigte Angeklagte in aller Regel von Ihrem Schweigerecht Gebrauch machen, ohnehin von äußeren Indizien auf das innere Wollen geschlossen werden.[71] Daher spiele in der Praxis nur das kognitive Element eine Rolle. Falsch, weil eben Vortat- und Nachtatverhalten, mündliche und schriftliche Äußerungen, Emails und Chats, sehr wohl etwas dazu sagen können, ob der Angeklagte innerlich der Tötung des Opfers oder anderer Menschen im Zusammenhang mit seinem Verhalten ablehnend oder neutral bzw. zustimmend gegenüberstand. Falsch auch deshalb, weil Urteilsfeststellungen bislang differenziert zu beiden Aspekten Ausführungen, verknüpft mit der Würdigung entsprechender Beweise, enthalten müssen. Hätten sich Urteile bislang nur mit der Wissensseite begnügt, hätten sie aufgehoben werden müssen. Die Bedeutung der Erhebung von Beweisen für das voluntative Element betont d 4. Senat: „Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Elemente im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen.“[72]
Richtig, weil es in der Tat darum geht, Indizien für das konkrete voluntative Bewusstsein zum Tatzeitpunkt zu finden. Indizien aber werden definiert als „Tatsachen, aus denen positive oder negative Schlüsse auf Haupttatsachen gezogen werden können. Primäre Indizien sind die sog. fundierenden Tatsachen: Sachverhalte oder Sachverhaltsmomente, die der Tatrichter selbst in der Hauptverhandlung wahrnimmt und im Urteil in deskriptiven Sätzen wiedergibt, also Bekundungen und Verhalten von Zeugen, Darlegungen von Sachverständigen, der Wortlaut von Urkunden, die Beschaffenheit von Gegenständen der Augenscheinseinnahme, die Erklärungen und das Agieren des Angeklagten, die Abfolge von Fragen oder Vorhalten und Antworten. (…) Aus den primären Indizien zieht das Tatgericht Folgerungen zum Vor- oder Nachteil des Angeklagten.“[73] Wie dies korrekt erfolgen kann, zeigt der 4. Senat am Bremer Urteil: „Das Landgericht hat die subjektive Tatseite vielmehr auf der Grundlage einer umfassenden und sorgfältigen Gesamtschau aller hierfür maßgeblichen Umstände des Einzelfalles bewertet und ist rechtlich beanstandungsfrei zu der Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte trotz der von ihm erkannten Gefahr, durch seine Fahrweise andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden, darauf vertraute, dass alles gut gehen und niemand zu Tode kommen werde. Zur Begründung hat es u.a. darauf verwiesen, dass der Angeklagte bei Wahrnehmung des Fußgängers sofort eine Vollbremsung einleitete und für ihn als Motorradfahrer ein Unfall mit der Gefahr schwerer eigener Verletzungen verbunden war, was neben der ausführlich und nachvollziehbar begründeten Fehleinschätzung der eigenen Fahrfähigkeiten deutlich dafürsprach, dass er glaubte, einen Unfall vermeiden zu können.“[74]
Was von den Protagonisten der Berliner Entscheidung vorgeschlagen wird, ist jedoch, die Erhebung von konkreten Indiztatsachen zu überspringen und gleich zum Schlussfolgern überzugehen. Da dies mangels entsprechender Beweiserhebung nicht aus konkreten Tatsachen geschehen kann, wird aus normativen Erfahrungssätzen gefolgert. Dieser methodische Fehler würde nicht dazu führen, dass das voluntative Element gleichsam aus dem kognitiven destilliert wird, wie es dieser Ansatz suggeriert. Es wird vielmehr durch normative Erwartungen substituiert und verliert damit seinen Charakter als subjektive Tatsache, die den individuellen Beschuldigten kennzeichnet.
VII. Die Verknüpfung von voluntativem Vorsatzelement und psychologischem (voluntativem) Schuldmoment
Ganz entscheidend ist, dass die voluntative Seite des Vorsatzes eng mit dem psychologischen Schuldmoment verknüpft ist. Ohne an dieser Stelle tiefer in dessen höchst interessante Dogmatik eintauchen zu können, lässt gerade ein völlig irreales Wollen oder Nichtwollen entscheidende Schlüsse auf die psychische Konstitution des möglichen Täters zu.
1. Das psychologische (voluntative) Schuldmoment
Das psychologische Schuldmoment ist nicht zu verwechseln mit dem sog. „psychologischen Schuldbegriff“. Letzter bezeichnete um die vorletzte Jahrhundertwende die „subjektive Beziehung des Täters zum Erfolg“.[75] Er unterschied Vorsatz und Fahrlässigkeit als Schuldarten, die damals sog. „Zurechnungsfähigkeit“ (Schuldfähigkeit) wurde zur Voraussetzung der Annahme von Schuld.[76] Psychologische Schuldmomente hingegen finden sich in den meisten materiellen Schuldbegriffen.[77] Sie sind in gewisser Weise notwendige Korrektive zur normativ unterstellten Willensfreiheit. Definiert man mit dem frühen BGH[78] „Schuld als Vorwerfbarkeit“, fußt diese auf der Annahme, der Mensch sei auf freie, verantwortliche und sittliche Selbstbestimmung angelegt und könne sich grds. normgemäß verhalten. Man fragt nach Anhaltspunkten dafür, dass die Fähigkeit des Täters der normativen Erwartung entsprechend, d.h. anders als kriminell, handeln zu können, eingeschränkt war. Es geht also um die Fähigkeit zu normgemäßen Verhalten.[79] Ist diese Fähigkeit pathologisch, konstitutionell oder situativ aufgehoben oder eingeschränkt, so liegt ein Schuldausschluss nach §§ 17 und 20 StGB bzw. die Feststellung eingeschränkter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) nahe. Frister hat dies in stärkerer Verknüpfung mit einer konkreten Willensfreiheit bezeichnet als die „Fähigkeit zu einer hinreichend differenziert-strukturierten Willensbildung“, so dass man danach fragen muss, ob die Eigenschaft einer Person „sich in einer Art und Weise zu entscheiden, die nicht signifikant hinter dem allgemeinen, in unserer Gesellschaft erreichten Differenzierungsniveau zurückbleibt“.[80] Dieses von Frister so bezeichnete „voluntative“ Schuldelement ist dann die Voraussetzung der individuellen Strafbarkeit. Fehlt es, kommen nur schuldunabhängige Sanktionen in Betracht. Wer auf diese notwendige individuelle Betrachtung zugunsten eines generellen normativen Maßstabs verzichtet, bewegt sich in Richtung eines rein generalpräventiv ausgebildeten Schuldbegriffs.[81]
2. Die Feststellung des voluntativen Vorsatzelements und der Schluss auf das psychologische (voluntative) Schuldmoment
Anlass zu dessen Feststellung, i.d.R. im Wege einer psychiatrischen/psychologischen Begutachtung, besteht aber nur dann, wenn der Täter sich anders als normativ erwartet verhalten hat. An dieser Stelle kommt eine Reminiszenz an den psychologischen Schuldbegriff ins Spiel, denn – soweit man bei allen Unterschieden im Einzelnen im Grundsatz der finalen Handlungslehre folgen will – stellen sich Vorsatz und Fahrlässigkeit als unterschiedliche Ausprägungen des Unrechtsbewusstseins auf der Tatbestandsebene dar und sind insoweit untrennbar mit der Schuld verknüpft, daher kann man immer noch von Schuldformen i.w.S. sprechen.[82] Dementsprechend stellt sich das voluntative Vorsatzelement als eine Art tatbestandlicher Spiegelung des psychologisch – voluntativen Schuldmoments dar.
Auf der Vorsatzebene ist der „Wille“ (der motivatorische Antrieb) des Täters beweismäßig zu ermitteln, unabhängig davon ob dieser vernünftig erscheint oder nicht. Auf der Schuldebene ist zu überprüfen, ob das, was sich tatsächlich als motivatorischer Antrieb des tatbestandlichen Verhaltens herausgestellt hat, auch auf einer im oben dargestellten Sinne „freien“ Entscheidung beruht. Heißt, es gibt eine methodisch zentrale Differenzierung zwischen der Frage, ob der Täter einen Erfolg im Sinne eines spezifisch normwidrigen Verhaltens herbeiführen wollte (voluntatives Vorsatzelement) und der Frage danach, ob er den Erfolg erkennen konnte, weil er dazu über die notwendigen (Er-) Kenntnisse verfügte (kognitives Vorsatzelement) auf der einen Seite. Auf der anderen Seite stehen die Frage, ob der Täter auch erkennen konnte, dass sein Verhalten Unrecht war (Einsichtsfähigkeit) und die Prüfung, ob er sich darüber hinaus im pathologischen Sinne anders hätte steuern können (psychologisch-voluntatives Schuldelement) und an ihn deshalb die allgemeinen Erwartungen gestellt werden können (Vorwerfbarkeit). Konkret bedeutet dies, dass zunächst zwei Prüfungsschritte auf der tatbestandlichen Seite des Unrechtsbewusstseins zu vollziehen sind, bevor über die Schuld ein Urteil möglich ist. Denn erst, wenn geklärt ist, ob es an der voluntativen oder der kognitiven Seite des Vorsatzes fehlt (oder an beiden), wird die notwendig differenzierte Wertung auf der Schuldebene möglich: Konnte diesem konkreten Täter das konkrete Zurückbleiben hinter den allgemein zu erwartenden Maßstäben vorgeworfen werden?
Zur Verdeutlichung: Wenn es in unseren Beispielsfällen so ist, dass die Fahrer zwar die notwendigen Kenntnisse besaßen, um sich zu erschließen, dass bei ihrem Verhalten der Tod anderer Menschen ins Kalkül gezogen werden musste,[83] gibt es aber keine Anhaltspunkte dafür (bzw. Anhaltspunkte, die dagegen sprechen, s.u.), dass sie bei der Tatbegehung (des Tötungsdelikts!) überhaupt nur daran dachten, dass diese Gefahr sich verwirklichen könnte, so wird eng mit dem voluntativen Vorsatzelement. Es geht dabei nicht um die notwendige Tatsachenkenntnis, sondern um eine konkrete Reflexionsleistung. Jeweils jedoch ist das Ergebnis dasselbe – zum Zeitpunkt der Tat fehlte das Bewusstsein. In beiden Fällen stellt sich sodann die Frage, ob es den Tätern vorgeworfen werden kann, die notwendigen Kenntnisse nicht erlangt zu haben bzw. nicht über den Erfolgseintritt reflektiert zu haben – schuldhaft fahrlässiges Verhalten.[84]
3. Der Verlust der Individualisierung des Strafrechts – Ersetzung der beweisbedürftigen subjektiven Tatsache „Vorsatz“ durch generalisierende Plausibilitätserwägungen
Knüpft man strafrechtliche Verantwortlichkeit nur am Kognitiven, am Wissen an, so misst man auch das Voluntative immer am Maßstab des Vernünftigen und legt tendenziell zugrunde, was eigener Ansicht nach vernünftige Menschen wissen sollten und was nach verallgemeinertem eigenem Maßstab vernünftig – und richtig – erscheint. Man bewertet also nicht, was dieser Täter zum Tatzeitpunkt erkannte und wie weit er reflektierte, sondern stellt lediglich das Zurückbleiben des äußeren Verhaltens hinter den (eigenen) verallgemeinerten Anforderungen fest. Der entscheidende Zwischenschritt in Bezug auf den konkreten Täter in der konkreten Situation fehlt.
So formulieren es Kubiciel und Hoven[85] dann auch konsequent und explizit: „Wenn der Täter die dem Rennen innewohnenden Gefahren erkannt und dennoch gehandelt hat, so kann er nicht einwenden, er habe das eine (Rennen) gewollt, das andere (Schädigung Dritter) hingegen nicht.[86] Dieser in sich widersprüchlichen Einlassung eines „psychologischen Akrobaten“[87] zu folgen hieße, ihm die Eigenschaft als vernünftige Person abzuerkennen[88] und ihm dennoch die Definitionsmacht darüber zu verleihen, welche Aspekte des von ihm gewollten Ganzen rechtsverbindlich sein sollen und welche nicht.“[89]
Auch wenn es ein hehrer Anspruch ist, den Täter als einen Vernünftigen zu ehren (die Formulierung erinnert – nicht von ungefähr – an Hegels Straftheorie, die – nicht von ungefähr – eine generalpräventive Legitimierung von Strafe darstellt[90]), so hat dies wenig mit Tatsachenfeststellung zu tun. Sofern der Täter sich unvernünftig verhält, ist das die Tatsache, wenn er unvernünftiger Weise vertraut, die subjektive Tatsache. Dies kann durch Indizien festgestellt oder widerlegt sein, ggf. gilt der Grundsatz in dubio pro reo. Dagegen kann wiederum nicht aus dem Vorsatz zum Rennen unmittelbar der Vorsatz zur Tötung gefolgert werden. Die Argumentation unternimmt in Bezug auf die Tötung einen Schluss vom Sollen aufs Sein. Daher geht es an dieser Stelle auch nicht darum, danach zu fragen, ob der Täter Rechtsverbindlichkeit definiert. Dies ist nicht einmal ansatzweise eine Frage, die methodisch im Bereich des Vorsatzes verortet wäre. Hier werden schlicht normative und tatsächliche Aspekte miteinander vermengt und daraus entsteht – wie kaum anders zu erwarten – kognitiv dissonant und methodisch defizitär eine Evidenzwertung. Vor dem Ziel der generalpräventiv-symbolisch legitimierten Vergeltung[91] wird der Täter zum Objekt einer staatlichen Reaktion, die letztlich an die Bevölkerung adressiert ist. Botschaft: Wer sich unvernünftig verhält, wird bestraft. Ob das objektiv grell Unvernünftige aus der subjektiven Täterperspektive indes nur im Hintergrund stand und keine für die Motivation zur Tat relevante Rolle spielte, ist vor diesem an den, wie auch immer definierten, Bedürfnissen einer virtuellen Allgemeinheit orientierten Ansatz zur Legitimation des Strafrechts wenig entscheidend.[92]
Ein humanes, an individueller Gerechtigkeit ausgerichtetes Strafrecht misst aber nicht nur am Maßstab des Vernünftigen, sondern muss danach trachten, auch den Unvernünftigen verstehen zu wollen. Die meisten Gewalttaten sind irrational, unvernünftig, so wie es konstitutiv oder situativ die meisten Straftäter sind. Wer sie aber erst- oder resozialisieren will, muss zuerst einmal versuchen sich in ihre Irrationalität einzufühlen, um zu sehen, wie sich die Tat aus dieser Perspektive darstellt, die eben gerade nicht die eigene, als evident vernünftig gesetzte, ist. Nur dann wird man die Ursache und Motivation abweichenden Verhaltens begreifen und ihr eventuell etwas entgegensetzen können. Ein Strafrecht, das darauf verzichtet, ist von seiner Ausrichtung her spezialpräventiver Elemente weitgehend entkleidet. Weil die (mediale und politische) Symbolhaftigkeit in den Vordergrund tritt, verliert es seine Sensibilität und integrative Funktion. Wo es generalpräventive Reflexe[93] mit Wahrscheinlichkeitserwägungen bedient und Vorsatz mit indifferenten Gefährdungsgefühlen vermengt, entsteht Raum für Hybris im Strafrecht.
VIII. Methodische Probleme der Annahme eines Eventualvorsatzes
Innerhalb dieses so vorgezeichneten Rahmens werfen die Argumente zur Begründung des Eventualvorsatzes weitere methodische und dogmatische Probleme auf:
1. Methodisch fehlerhafte Wahrscheinlichkeitsannahme
Ausgangspunkt der Argumentation im Berliner Fall ist die Begründung für das Wissen um den möglichen Tod des Opfers. Da das kognitive Element zugleich das voluntative Element unwiderleglich indizieren soll, muss dieses Wissen differenziert und vor allem zum Tatzeitpunkt präsent sein. Methodisch fehlerhaft wird jedoch gleich zu Beginn der Argumentation das „Wissenselement“ des subjektiven Tatbestands tragend damit begründet, dass „sich die Gefährlichkeit der Handlung mit der Länge der gefahrenen Strecke kontinuierlich erhöhte, da damit auch die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls zunahm.“[94]
Hierin liegt ein Verstoß gegen wissenschaftliche Denkgesetze.[95] Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls war nämlich an jeder Kreuzung auf der Unfallstrecke potentiell gleich hoch[96], keineswegs wurde sie kontinuierlich durch die Länge der gefahrenen Strecke erhöht. Strenggenommen – wenngleich zynisch anmutend – war die Unfallwahrscheinlichkeit an jeder Kreuzung aufgrund des Überquerens der Kreuzung mit drastisch erhöhter Geschwindigkeit gegenüber einem solchen mit einfacher Geschwindigkeit sogar herabgesetzt. Jedenfalls findet aber eine Kumulation der Wahrscheinlichkeiten hier entgegen der Ansicht der Kammer nicht statt. Dies wird anhand eines einfachen Beispiels deutlich: Wer tausend Mal einen Würfel wirft, hat beim 1000. Wurf auch keine größere Chance darauf, eine Sechs zu würfeln, als beim 1. Wurf. Wer eine lange Strecke entlangfährt und hierbei zehn rote Ampeln überfährt, wird an der 10. Ampel nicht mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Unfall herbeiführen als bei der 1. Ampel. Die Wahrscheinlichkeit muss stattdessen für jede Gefahrensituation neu beurteilt werden. Dies entspricht dem sog. „Bernoulli-Prozess“.[97] Die Kammer hat diesen elementaren Grundsatz der Mathematik offensichtlich verkannt und hiermit ihrer Beurteilung des Wissenselements des Tötungsvorsatzes einen Verstoß gegen wissenschaftlich anerkannte Grundsätze zugrunde gelegt. Die Behauptung, das Autorennen stelle einen Fall des Russisch-Roulette dar, ist wissenschaftlich nicht haltbar.[98] Dort verringert sich mit jedem Schuss die Anzahl der verbleibenden leeren Kammern. Die Chance zu überleben, verschlechtert sich immer weiter zu Lasten des Schützen. Dagegen werden an jeder Ampel, die Karten aufs Neue gemischt und neu ausgegeben. Dieser Denkfehler zeigt eindrücklich, welch erhebliche Verzerrungsgefahren bei Begründungen mit dem Kriterium der Evidenz auf der methodologisch falschen Ebene der Tatsachenbewertung drohen.[99] Offenbar ein Fall kognitiver Dissonanz,[100] denn Ausgangspunkt ist die Erwartung, es müsse die für den „krassen“ Fall angemessene Strafe begründet werden. Da diese nicht nur ca. 4-5 Jahre sein darf, muss der Mordvorsatz begründet werden. Die Prüfhypothese hätte lauten müssen: „Liegt tatsächlich ein Tötungsvorsatz vor.“ Stattdessen war sie vermutlich: „Wie lässt sich der Tötungsvorsatz begründen?“
2. Fehlinterpretationen auf Basis unzutreffender Wahrscheinlichkeitsannahmen
In gewisser Weise logisch folgerichtig (bzw. folgefalsch) wird der Tötungsvorsatz dann ausschließlich für den Moment des Rennens positiv festgestellt, in dem die Angeklagten in den Kreuzungsbereich des Kollisionsortes einfuhren. Für keine vorausgehende Phase des Rennens wird auch nur festgestellt, die Fahrer könnten zumindest das Bewusstsein einer Kollision mit einem in eine Kreuzung einfahrenden Fahrzeugführer entwickelt haben, sowie, dass diese wahrscheinlich tödlich ausgehen werde. Das Urteil enthält sich jeder Beurteilung des Geschehens vor dem Zusammenstoß und belässt es dabei, dass jedenfalls zu diesem Zeitpunkt der Vorsatz gegeben sei. Eine Folgerung, die sich maßgeblich auch aus der Zuschreibung eines Wissens um sich vermeintlich immer weiter steigernde Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes speist, welche das Urteil entgegen wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten der Beurteilung fehlerhaft zugrunde legt. Tatsächlich hätte man über eine Reihe vorhergehender Versuche nachdenken müssen. Dabei handelt es nicht um einen Taschenspielertrick,[101] sondern vielmehr hätte sich die Argumentation schon viel früher mit der Frage des Versuchsbeginns des Tötungsdelikts auseinandersetzen müssen. Dabei wäre offenkundig geworden, wie eng der Zeitraum der tatbestandlichen Ausführung war. Der vorstehend beschriebene Fehler verleitete aber zu der Annahme, man könne das Geschehen von hinten aufrollen, da hier die mögliche Tötung am tiefsten ins Bewusstsein gedrungen sein müsste.[102]
Durch diese fehlerhafte Annahme in ihrer eigenen Erwartung gefangen, verstellt sich die Kammer zudem den Blick auf ein entscheidendes Kriterium des subjektiven Tatbestands: das persönliche Erleben des Teilnehmers eines illegalen Rennens. Tatsächlich hatten die Angeklagten den Weg bis zur Kollision trotz äußerst hoher Geschwindigkeiten und Missachtung von Verkehrsregeln ohne eine festgestellte, von ihnen als konkret gefährlich erlebte, Situation zurückgelegt. Insofern ergäbe sich das Gegenteil der mathematisch unzutreffenden höher werdenden Kollisionsgefahr: Möglicherweise vertrauten die Fahrer dadurch, dass die gefährlichen Situationen ausblieben, immer mehr darauf, die Gefahr zu beherrschen und das Ziel hinter der Nürnberger Straße ohne Zusammenstoß erreichen zu können.[103] Dieses Verdrängen möglicher Gefahren könnte sogar noch dadurch gefördert worden sein, dass die Fahrer das Ende der Rennstrecke bereits vor Augen hatten.[104] Auch hier zeigt sich bei der Berliner Kammer das Phänomen, nur diejenigen Elemente des durchaus vorhandenen Beweismaterials wahrzunehmen, welche in die Ausgangshypothese einpassen.[105]
3. Brüche in der Binnenkohärenz – Bedeutung der Tatmotivation für die Annahme eines Tötungsvorsatzes
Es liegt in der Natur dieses Befundes, dass sich Symptome in einer Tendenz zu immer kleinteiligerer Binnenkohärenz manifestieren. Dass der Bewertungsrahmen selbst nicht kohärent ist und die übergreifende Argumentation widersprüchlich werden kann, gerät dabei aus dem Blick. So heißt es, die Angeklagten hätten aus Gewinnstreben (Autorennen), angestrebter Selbstbestätigung und zwecks Demonstration der Stärke des eigenen Wagens zur Tatzeit gehandelt. Aufgrund dieser Motivation seien sie bereit gewesen, schwerste Folgen in Kauf zu nehmen, wobei sie den Tötungserfolg nicht wünschten und auch kein Tötungsmotiv gehabt hätten. Die Konsequenzen ihrer Fahrweise seien ihnen egal gewesen, denn jeder von ihnen habe aus dem Rennen als Sieger hervorgehen wollen. Sie hätten es darauf ankommen lassen und nicht mehr ernstlich darauf vertrauen können, ein Unfallgeschehen durch ihr Fahrgeschick zu vermeiden.[106]
Diese Begründungsansätze unterliegen jedoch Logikfehlern: Der Wille, das Rennen zu gewinnen und die entsprechende Bestätigung zu suchen, besser als andere fahren zu können, setzt logisch voraus, ohne Unfall „ins Ziel“ zu kommen. Der den Eventualvorsatz vermeintlich mitbegründende Satz „Diese Konsequenzen [in Form eines Unfalls] waren ihnen in diesem Moment egal und gleichgültig, denn jeder von ihnen wollte aus dem Rennen als Sieger hervorgehen“, zeigt den Widerspruch und die Unvereinbarkeit den Taterfolg um der Zielerreichung willen in Kauf zu nehmen, exemplarisch auf. Der Taterfolg schließt das Erreichen des Handlungsziels aus und kann damit unter der Prämisse der Kammer auch vom Fahrer nicht als lediglich „gleichgültig“ oder „unerwünscht“ verbucht worden sein. Der Taterfolg durfte keinesfalls eintreten, wollte der Fahrer das ihm von der Kammer attestierte Handlungsziel erreichen. Wer als Sieger hervorgehen will, dem kann es nicht gleichzeitig egal oder auch nur unerwünscht sein, ob es zu einem Unfall kommt, der das Rennen für ihn als Verlierer beendet.[107]
4. Ausschlusses eines Bewusstseins der Eigengefährdung und gleichzeitige Annahme eines Eventualvorsatzes zur Tötung Dritter
Weitere kontextuale Widersprüche entstehen im Hinblick auf den Vorsatz der Fremdgefährdung, dessen Verhältnis zur Verletzung sowie den Vorsatz der Gefährdung und Verletzung der eigenen Person sowie der Autos. Annahmen darüber, was durchschnittlich strukturierte Menschen in vergleichbaren Situationen „vernünftigerweise“ in Kauf nehmen müssen, ersetzen die Feststellung dessen, was der individuelle Angeklagte zum Tatzeitpunkt in sein Bewusstsein aufgenommen hatte.
a) Ersetzung der unvernünftigen Realitätswahrnehmung der Angeklagten durch postfaktische Vernünftigkeitsannahmen
Nur binnenkohärent ist die Annahme, dass der denknotwendige (Total-) Schaden an den Fahrzeugen der Angeklagten bei einer Kollision deren billigender Inkaufnahme nicht entgegenstehe, weil entsprechend mögliche Gedanken der Angeklagten hieran jedenfalls im „Adrenalinrausch und im „Kick“ des Rennens“ untergingen.[108] Widersprüche entstehen dann bereits, wenn es heißt, zum anderen hätten die Angeklagten eben diese Kollision mit tödlicher Wirkung – nicht für sich, aber unbeteiligte Dritte – nicht nur erkannt, sondern sich mit eben dieser abgefunden bzw. sich insoweit gleichgültig gezeigt und darüber hinaus auch die Möglichkeit des Todes für sich im Nahbereich der Kreuzung aufhaltender Personen durch umherfliegende Trümmerteile erkannt und in Kauf genommen.[109]
Damit unterstellt die Kammer hinsichtlich des Kollisionsereignisses den Fahrern zwei unterschiedliche, sich widersprechende und quasi ausschließende Bewusstseinszustände, welche indes dennoch gleichzeitig das Bewusstsein im Tatzeitpunkt geprägt hätten.
Zum einen das volle Bewusstsein um das Risiko einer für einen unbeteiligten Verkehrsteilnehmer tödlichen Kollision mit weiterer tödlicher Gefährdung Umstehender durch Trümmerteile, welche billigend in Kauf genommen wird, und zum anderen und gleichzeitig das völlige Ausblenden der denknotwendig hiermit verbundenen Eigengefährdung und Beschädigung des eigenen Autos.
Das zur Stützung dieser Erwägungen angebrachte Argument verbleibt wiederum ausschließlich im normativen Bereich der Maßstäbe des (evident) Vernünftigen. Das Argument lautet: „Diese Einwände skizzieren deren innere Befindlichkeit zutreffend dahingehend, dass sie Unfälle nicht gezielt verursachen wollen. Eine Kamikaze-Einstellung dürfte den Teilnehmern an illegalen Autorennen fremd sein. Im Kontext des bedingten Tötungsvorsatzes – und allein hierum geht es – sind derartige Bedenken hingegen nichtssagend. Das bewusste Eingehen der von ihnen im gedanklichen Mitbewusstsein zutreffend erkannten vorgenannten Risiken ist der Preis, den die Angeklagten im Berliner Raser-Fall notwendigerweise entrichten mussten, um den durch das Rennen vermittelten „Kick“ oder die durch den Sieg erstrebte Steigerung des Ansehens in der Szene erreichen zu können. Pointiert: Da das Eine ohne das Andere nicht zu haben ist, müssen sich die Angeklagten nolens volens damit abfinden, dass sich während der Wettfahrt ein Unfall mit weitreichenden Folgen sowohl für sie als auch für andere Verkehrsteilnehmer ereignen kann“.[110] Dagegen stellte das Schweizer Bundesgericht in einem vergleichbar angelegten Fall fest, bei Unfällen im Straßenverkehr könne nicht ohne weiteres aus der hohen Wahrscheinlichkeit des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolgs auf dessen Inkaufnahme geschlossen werden. Erfahrungsgemäß neigten Fahrzeuglenker nämlich dazu, einerseits die Gefahren zu unterschätzen und andererseits ihre Fähigkeiten zu überschätzen, weshalb ihnen unter Umständen das Ausmaß des Risikos der Tatbestandsverwirklichung zum Tatzeitpunkt nicht bewusst sei.[111] Einen unbewussten Eventualdolus aber gebe es nicht.[112] So wie es im Berliner Fall nicht übergangen werden durfte, dass die Angeklagten möglicherweise tatsächlich daran glaubten, dass gerade sie in der Lage wären, die Situationen zu kontrollieren, so richtig war es im Bremer Fall, darauf einzugehen, dass der Angeklagte einerseits erkannte (und fast pädagogisch vermittelte), dass ungeübte Fahrer seine Manöver nicht würden ausführen können und trotzdem realitätsfern davon überzeugt war, ihm selbst würde aufgrund seiner überragenden Fahrfähigkeiten kein Unfall passieren. In beiden Fällen stellt dies einen zentralen Bezugspunkt bei der Bewertung des Tatvorsatzes im tatsächlichen Bereich dar. Gibt es keine validen Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagten sich zum Tatzeitpunkt in Wahrheit solcher Fähigkeiten nicht sicher waren, so ist – in dubio pro reo – die realitätsferne Selbstüberschätzung der Beweiswürdigung zugrunde zu legen. Ob die fehlerhafte Wahrnehmung der eigenen Realität vorwerfbar ist, ist eine Frage der Schuld, genauer gesagt, der individuellen Fahrlässigkeit.
b) Zuschreibung von Wahrnehmungen
Im Urteil finden sich Anhaltspunkte für eine weitere ergebnisgeleitete Beweiswürdigung. Diese dürfte ebenfalls Folge kognitiver Dissonanzen sein, denn ersichtlich ist die Argumentation zu diesem Zeitpunkt bereits auf ein Ergebnis festgelegt, welches den selbst formulierten Erwartungsmaßstäben am ehesten entspricht: „Die Fahrer dieser Fahrzeuge fühlen sich in ihren tonnenschweren, stark beschleunigenden, mit umfassender Sicherheitstechnik ausgestatteten Autos geschützt, stark und überlegen wie in einem Panzer oder in einer Burg und blenden jegliches Risiko für sich selbst aus“.[113] In seltener Deutlichkeit wird eine pauschale und nicht näher begründete Annahme des Gerichts zum Bewertungsmaßstab des konkreten Falls gemacht. Ob der Angeklagte zum Tatzeitpunkt ein solches Bewusstsein hatte, wird nicht einmal indiziell dargelegt. Die Begründung gerät dann wiederum in einen kontextualen Widerspruch zu einer anderen Argumentation im Kontext der Annahme einer vorsätzlichen gefährlichen Körperverletzung: Für Beifahrerin habe, in demselben sicheren Fahrzeug sitzend, eine „konkrete Lebens- und Todesgefahr“ bestanden, welche sich zudem in tragischer Weise realisiert habe.“[114] In diesem Fall wird auch die kognitive Seite des Vorsatzes nicht mehr individuell zum konkreten Tatzeitpunkt festgestellt. Diese konkret zu beweisende Tatsache wird ersetzt durch allgemeine Betrachtungen über das Sicherheitsgefühl einer bestimmten Gruppe von Menschen (den „Fahrern dieser Fahrzeuge“). D.h. es wird – ohne hinreichende Differenzierung – einer konkreten Person in einer konkreten Situation die Eigenschaft, die einer Personengruppe generell zukommen soll, zugeschrieben, ein normativer und kein (Tatsachen feststellender) Erkenntnisakt. Der 4. Senat verneint zu Recht entsprechende Erfahrungssätze.[115] Zu der damit einhergehenden methodischen Problematik, zum einen das Unrechtsbewusstsein nicht mehr ausreichend zu differenzieren und zum anderen den Vorsatz als probabilisitsche Zuschreibung und nicht mehr als subjektive und beweisbedürftige Tatsache zu behandeln, s.o. IV.1.b) und VII.2.
5. Dogmatisch unzutreffende Parallele zu „äußerst gefährlichen Gewalthandlungen“
In ihrer Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit geht die Berliner Kammer zunächst nach einer insoweit gängigen Formel davon aus, dass es „bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen“ naheliege, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, dass Opfer könne zu Tode kommen. „Eine hohe und zudem anschauliche konkrete Lebensgefährlichkeit von Gewalthandlungen stellt mithin auf beiden Vorsatzebenen das wesentliche auf bedingten Tötungsvorsatz hinweisende Beweisanzeichen dar“.[116] Allerdings unterbleibt es hier, den entscheidenden Unterschied zu den unter diesen Begrifflichkeiten entschiedenen Konstellationen herauszuarbeiten. In sämtlichen von der Kammer insoweit angeführten Rechtsprechungszitaten hatte der jeweilige Täter sein Opfer i.d.R. konkret im Blick und das Primärziel war i.d.R. ein Angriff auf die körperliche Integrität.[117] Soweit von den äußerst gefährlichen Gewalthandlungen die Rede war, welche den Tötungsvorsatz indizieren können, handelte der jeweilige Täter in Bezug auf das Opfer in aller Regel mit direkter Verletzungsabsicht und selbstverständlich realisierte er jeweils das Opfer im Blick- und Zielfeld seiner Gewalthandlungen.[118] Daran fehlt es bei dem Autorennen in beiden Aspekten: Weder visualisierten die Täter ein Opfer noch war ihr Verhalten zielgerichtet auf eine Verletzung Dritter. Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass es hier insgesamt am voluntativen Element fehlt, wohingegen in den vorstehend genannten Beispielsfällen (i.d.R. § 224 Nr. 5 StGB) der Körperverletzungsvorsatz vorliegt (i.d.R. als dolus directus 1. Grades) und zu begründen ist, warum im Hinblick auf das Leben keine Verletzung intendiert ist. Auch diese Widersprüche entgehen im Argumentationszusammenhang des Urteils.
Die fehlende Primärintention, Dritte zu verletzen, sowie der Umstand, dass die Angeklagten in beiden Fällen spätere Opfer zu keinem Zeitpunkt gefährlichen Handlung im Sichtfeld hatten oder auch nur um dessen physische Existenz wussten, stellt eine Besonderheit dar, die zum einen das Heranziehen von Judikaten obsolet macht, in denen es bei der Frage äußerst gefährlicher Gewalthandlungen regelmäßig um die Problematik geht, ob ein Täter, der ein Opfer in den Brustraum sticht oder mit Stahlkappenstiefeln mehrfach gegen den Kopf tritt, lediglich mit Körperverletzungsvorsatz, aber ohne Tötungsvorsatz handelte.[119] Gerade das Abstellen auf diese Judikate zur Legitimation des Prüfungsmaßstabes lässt vermuten, dass diese – evidenten – Unterschiede zu der hier besprochenen Konstellation gar nicht realisiert wurden. Wiederum werden scheinbar nur die zum vorgezeichneten Begründungszusammenhang passenden Argumente übernommen.[120]
Demgegenüber weist der GBA in seiner Stellungnahme zur Revision der Staatsanwaltschaft im Bremer Fall darauf hin, dass es insbesondere bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements regelmäßig erforderlich sei, dass sich der Tatrichter mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetze und seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung sowie seine Motivation und die zum Tatgeschehen bedeutsamen Umstände – insbesondere die konkrete Angriffsweise – mit in Betracht ziehe.[121] Dabei liege zwar die Annahme einer Billigung des Todes des Opfers nahe, wenn der Täter sein Vorhaben trotz erkannter Lebensgefährlichkeit durchführt. Allein aus dem Wissen um den möglichen Erfolgseintritt oder die Gefährlichkeit des Verhaltens könne aber nicht ohne Berücksichtigung etwaiger sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebender Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das Willenselement des Vorsatzes gegeben sei.[122]
6. Vorerfahrung als Basis von Verdrängung
Als maßgeblicher vertrauensstiftender Aspekt für das tatsachenfundierte Vertrauen auf das Ausbleiben des Taterfolgs wird in der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Vorerfahrung mit bestimmten gefährlichen Handlungen herangezogen.[123] Dies gilt auch für eine Gefahrgewöhnung, die der Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes entgegenstehen kann, sofern der Täter aus seinem Vorverhalten subjektiv den Schluss gezogen haben mag, gesetzte Gefahren würden sich entgegen der Erwartung Dritter bzw. entgegen der Ratio des durchschnittlichen Betrachters dennoch nicht realisieren.
In der Beweiswürdigung des Berliner Urteils wird die Frage der Gefahrgewöhnung jedoch außen vorgelassen. Nach den Feststellungen der Kammer fuhr der Angeklagte gern schnell und missachtete nachts rote Ampeln. Er sei ein Teilnehmer an illegalen Autorennen und Stechen, steigere sein Selbstwertgefühl über sein Kfz bzw. einen sportlich riskanten Fahrstil und zeichne sich durch eine konsequente Nichtbeachtung der Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung aus.[124] Was folgt daraus für den Bewusstseinszustand zum Tatzeitpunkt? Jedenfalls kein stetig erhöhtes Gefahrenbewusstsein – was im Übrigen auch zunächst indiziell für einen Gefährdungsvorsatz wäre.
Dies macht auch der 4. Senat deutlich und knüpft im Bremer Fall an die Ansicht des GBA an, dass es von einer umfassenden und differenzierten Betrachtung zeuge, dass die Kammer sowohl die Gesamtpersönlichkeit als auch das verkehrsspezifische („egoistische“) Verhalten in ihre Betrachtung einbezogen habe.[125]
In einem vergleichbaren Schweizer Fall heißt es demgemäß in einem Gutachten: „Wer einen tiefer gelegten VW Corrado VR 6 mit verdunkelter Heckscheibe und Doppelauspuff fährt, will sein Auto nicht bei einem Unfall verschrotten. Er vertraut – in den Worten des Bundesgerichts „wenn auch oftmals rational nicht begründbar“ – darauf, dass er sein Fahrzeug beherrscht. Er wird sich daher nicht von der Strafe beeindrucken lassen, die für die Verursachung des Unfalls angedroht ist, weil er nicht mit dem Unfall rechnet. Selbst wenn er erkennt, dass zu hohe Tempi generell gefährlich sind, „weiß“ er, dass ihm nichts passieren wird“.[126]
Vermutlich bewertet das LG Berlin die eigenen Feststellungen an dieser Stelle nur noch selektiv. Denn der Täter habe nach seinen Angaben das Gefühl gehabt, immer anhalten oder ausweichen zu können, um niemanden zu gefährden. Dass er dem Tatgeschehen auch nur nahekommende konkrete Gefährdungsmomente in derartigen Situationen erlebt hätte, ist nicht festgestellt. Konkrete den Vorsatz des Angeklagten zumindest indiziell nahelegende Umstände sucht man in der Argumentation vergebens.
Zwingend wäre es hingegen gewesen, auf Indizien pro und contra einzugehen, weil ein „ernstes Vertrauen […], das in einem entsprechenden Erfahrungssatz (,dass es doch immer gut geht oder gut gegangen ist‘) eine Stütze findet“, dem Vorsatz entgegenstehen kann und allein deshalb stets der Erörterung bedarf, um rechtsfehlerfrei über die Frage des subjektiven Tatbestands judizieren zu können.[127]
Diese Auseinandersetzung war insbesondere auch angesichts des konkreten Verlaufs der angeklagten Fahrt von Rechts wegen zwingend geboten. Laut den Feststellungen hatten die Angeklagten mehrere rote Ampeln mit überhöhter Geschwindigkeit überquert, ohne dass die Kammer eine aus diesen Normverstößen konkret gefährliche Situation festgestellt hätte. Als der Fahrer die rote Ampel überquerend in den Kreuzungsbereich einfuhr, in welchem sich die tödliche Kollision ereignete, war das für ihn geltende Lichtzeichen bereits 17 Sekunden rot. Und es war wie erwähnt die letzte Kreuzung vor dem „Ziel“.
Der rechtsfehlerfreie Schluss auf einen Eventualvorsatz wäre hiernach nur dann möglich, wenn das Urteil erkennen ließe, dass die Kammer erwogen hätte, dass nicht nur einerseits bei vorhergehenden Fahrten, sondern darüber hinaus auch bei der angeklagten Tat, der Fahrer bei seinen Regelverstößen einen dahingehenden (falschen) negativen Erfahrungswert hatte, dass seine Normbrüche selbst im Falle der Rotlichtverstöße mit hoher Geschwindigkeit vermeintlich keine konkreten Gefährdungsmomente zeigten. Dies gilt insbesondere, da die Kammer sich zuvor dem Schluss der Sachverständigen Dr. Bächli-Bietry[128] angeschlossen hatte, dass die erlebte Freude bei unentdeckten Regelverstößen einen negativen Lernprozess noch besonders effektiv verstärkt habe. Wiederum scheint die normative Erwartung die Beweiswürdigung dissonant beeinträchtigt zu haben.
Gleiches gilt für die Nichtverwertung eines weiteren Indizes, welches in den Feststellungen vorhanden ist: Vor dem Fahrzeug des Opfers kreuzte 17-19 Sekunden lang kein Fahrzeug die Fahrbahn. Es hatten sich also keine sichtbaren Kfz während der Rotphase gesammelt und die größte Wahrscheinlichkeit kreuzender Fahrzeuge war zum Zeitpunkt der Kollision mithin bereits vorüber.
Im Bremer Fall wurde die Vorerfahrung des Täters demgegenüber mitberücksichtigt. Der Angeklagte hatte sich eingelassen, er habe zwar gewusst, dass seine Fahrweise gefährlich sei, aufgrund des Miterlebens von Unfällen von Bekannten. Diese seien danach jedoch einfach wieder aufgestanden. Dadurch habe sich sein Gefühl für die Gefährlichkeit verschoben. Hierauf und auf der Vielzahl der Verkehrsverstöße, die sämtlich ohne Folgen eines Unfalls geblieben sind (auch im Berliner Fall gab es vor dem Unfall viele Verkehrsverstöße, das wurde aber wohl nicht miteinbezogen), basiert die Überzeugung der Kammer von der Nachvollziehbarkeit des Verdrängens, das sie als einen Gesichtspunkt in die Gesamtbetrachtung einbezogen hat. Das Verdrängen der Gefährlichkeit heißt, dass der Angeklagte um seine gefahrenträchtige Fahrweise sehr wohl wusste, dieses Bewusstsein aber nur latent vorhanden war.[129] Ist es aber logisch folgerichtig zu argumentieren, die Verdrängung der Gefährlichkeit des Rennens impliziere das Bewusstsein des tödlichen Unfalls? Die Friktion ist offensichtlich. Dementsprechend fehlt es am präsenten Bewusstsein, einer Voraussetzung für die Bildung eines voluntativen Vorsatzelements.[130]
7. Inkohärenz des Bewertungsmaßstabs
An einer weiteren Aussage des Berliner Urteils lässt sich überdies erkennen, dass der gewählte Prüfungsmaßstab der Begründung einer Fahrlässigkeitsschuld näher verwandt ist, als dem für den Vorsatz geltenden: Bei durchschnittlicher Sinnes- und Geistesanspannung habe auch der Schnellfahrer im Ruhezustand die Möglichkeit des Insichgehens, Besinnens und der Erkenntnis. Dies wird ergänzt durch die Anmerkung, dass auch der Einzelne aus der Welt der Raserszene eine Person bleibe, die ihren Verstand benutzen könne. So richtig diese Annahmen dem Grunde nach sind, verstellen sie der Kammer den Blick auf die Prüfung des „Seins“ des Angeklagten, das sie stattdessen aus dem „Sollen“ deduzieren.
Auch diese Argumentation erscheint als rechtlich verfehlt, denn hier wird der subjektive Maßstab des Angeklagten gegen denjenigen eines gleichsam objektiven Dritten ausgetauscht, an dessen Vernunftbegabung sich die angeklagten Fahrer messen lassen müssen. Weitere Begründung erfährt der Befund eines rechtsfehlerhaften Prüfungsmaßstabs durch die Feststellung, „die Angeklagten konnten im Tatzeitpunkt gerade nicht mehr darauf vertrauen, dass alles gut gehen werde“. Dass sie tatsächlich nicht mehr darauf vertrauten, wird nicht festgestellt. Dies liegt angesichts der gleichzeitigen Untersuchungsergebnisse, wonach der Angeklagte das Gefühl habe, niemanden gefährden zu können, auch nicht auf der Hand, sondern ist kontraindiziert. Auch zu diesem Beweiszeichen verhält sich das Urteil – anders als höchstrichterlich vorgegeben – jedoch nicht.
Auch der 4. Senat kritisiert mit deutlichen Worten diese methodischen Fehler: „Davon abgesehen leidet auch die Beweiswürdigung der Strafkammer zur subjektiven Seite der Tat unter durchgreifenden rechtlichen Mängeln. Diese betreffen die Ausführungen zu der Frage, ob eine etwaige Eigengefährdung der Angeklagten im Falle eines Unfalls gegen das Vorliegen eines Tötungsvorsatzes sprechen könnte. Dies hat das LG mit der Begründung verneint, dass die Angeklagten sich in ihren Fahrzeugen absolut sicher gefühlt und eine Eigengefährdung ausgeblendet hätten. Mit dieser Erwägung ist aber nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen, dass die Angeklagten, wie das Landgericht weiter angenommen hat, bezüglich der tatsächlich verletzten Beifahrerin des einen von ihnen schwere und sogar tödliche Verletzungen als Folge eines Unfalls in Kauf genommen haben. Schon diesen Widerspruch in der Gefährdungseinschätzung der Angeklagten zu Personen, die sich in demselben Fahrzeug befanden, hat die Schwurgerichtskammer nicht aufgelöst.“[131]
8. Ersetzung des faktenbasierten voluntativen Vorsatzelements durch einen normativ zuschreibenden Vorsatzbegriff und Verletzung des Schuldprinzips
Nicht nur die höchstrichterliche Rechtsprechung, auch das in Art. 2 I, 1 I GG bzw. im Rechtsstaatsprinzip verankerte Schuldprinzip gebietet die Auseinandersetzung mit den individuell gegen den Tötungsvorsatz sprechenden Beweisanzeichen. Dieser Grundsatz verlangt, dass nicht nur Strafart und -höhe an der individuellen Schuld des Einzelnen zu messen sind. Insbesondere ist auch die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten den Schuldvorwurf einer Strafnorm verdient, sowie die Frage, ob Schuld im Strafverfahren hinreichend festgestellt ist, hieran zu messen.[132] Hieraus folgt, dass sich die Grundanforderungen an den Schuldbeweis – im vorliegenden Fall der Beweis der Vorsatzschuld in Abgrenzung zur Fahrlässigkeitsschuld – auch aus dem Schuldgrundsatz ergeben.[133]
Die Berliner Kammer entzieht sich letztlich der Last, einen individuell-begründeten Eventualvorsatz nachzuweisen, durch eine normative Zuschreibung des Vorsatzes. Ein entsprechendes Vorgehen wird auch in Teilen der Literatur favorisiert[134] und von der Kammer offenkundig, ohne indes direkt benannt zu werden, zustimmend rezipiert. Folgt man dem jedoch, geht damit zwangsläufig der Abschied von einem individuell basierten und begründeten Vorsatzbegriff zugunsten eines extern zuschreibenden einher.
Dieser von der Kammer verfolgte Ansatz einer normativen Vorsatzbegründung widerspricht nicht nur der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Er ist auch in Ansehung des Schuldprinzips verfassungsrechtlich problematisch und dogmatisch verfehlt. Die das menschliche Handeln tragenden Vorstellungen und Gedanken entsprechen eben nicht notwendig exakt den Umständen der Außenwelt oder den Vorstellungen eines vernünftigen Dritten und sind daher dem Schuldgrundsatz folgend nicht schuldbegründend an diesen Maßstäben auszurichten oder zu messen. So rücksichtslos und strafwürdig sich das Verhalten der Angeklagten in den Feststellungen der Kammer und vor allem im Taterfolg darstellt, sind unverständliche Empathiedefizite von Straftätern nicht mit Empathiedefiziten der Strafrechtsdogmatik, die sich für das individuelle Risikobewusstsein der handelnden Akteure gar nicht mehr interessiert, zu beantworten. Solche Antworten entsprächen nicht mehr dem Schuldstrafrecht.[135]
Derartigen Herangehensweisen ist indes bislang zutreffend vielfach auch in der Lehre eine Absage erteilt worden. Vogel konstatierte, dass ein normativer Vorsatzbegriff an versari in re illicita, dolus indirectus sowie dolus ex re anknüpfe und auf einem rein normativen Schuldbegriff basiere, der Schuld als normativ-objektive Wertung der Rechtsordnung und nicht als subjektiv-innerpsychische Beziehung des Täters zur Tat begreife. Dementsprechend werde (von Puppe) argumentiert, ein Täter solle nicht durch sein Wollen selbst die strafrechtliche Beurteilung seines Handelns determinieren bzw. entscheiden können. Damit aber träfe die Strafe den Täter „wegen dessen, was in den Köpfen anderer als Wertung geleistet wird“, nicht aber mehr „wegen dessen, was er selbst bösartig-bewusst oder leichtsinnig angerichtet hat.“[136]
Dies bestreitet nicht, dass ein Wertungsakt unvermeidbar ist. Wenn aber die Ermittlung der vom Täter selbst vorgenommenen Wertung und seiner Beziehung zur Tat durch diejenige des Tatrichters bereits auf der beweisrechtlichen Ebene dogmatisch zu substituieren ist, wird das Schuldprinzip in auch verfassungsrechtlich nicht hinnehmbarer Weise aufgegeben. Dementsprechend hat auch Roxin[137] ausgeführt, dass die vorsätzliche und die fahrlässige Tatbestandsverwirklichung nicht nur verschiedene Unrechtstypen darstellten, sondern dass zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit auch ein Schuldunterschied bestehe, der die weitaus höhere Bestrafung der Vorsatztat legitimiert. Eine sachgerechte Bewertung der Täterschuld erfordere daher die Einbeziehung aller schuldrelevanten Umstände und könne sich nicht mit einem einzigen – gewiss wichtigen – Kriterium wie dem der ‚Vorsatzgefahr‘ begnügen.
Neben den vorgenannten Bedenken gilt auch, dass der normativ zuschreibungsbegründende Begriff einer Vorsatzgefahr auch einfachgesetzlich verfehlt wäre, worauf u.a. Schünemann[138] zutreffend hingewiesen hat. Denn der Verzicht auf das voluntative Element des Vorsatzes kann (etwa nach der dem normativen Vorsatzbegriff verwandten Formel Herzbergs der sog. „unabgeschirmten Vorsatzgefahr“[139]) die Differenzierung des Gesetzes zwischen Gefährdung- und Verletzungsgefahr nicht nur nicht erklären, sondern müsste diese contra legem aufgeben. Gerade im Bereich des Verkehrsstrafrechts ist diese indes u. a. de lege lata in der Konzeption der §§ 315c, 315d StGB verankert.
Die Kammer reduziert damit das voluntative Vorsatzelement zu einer bloßen Beweislastregel im Sinne eines Anscheinsbeweises dahingehend, dass derjenige, der eine Handlung als erfolgsgeeignet erkenne, mit dieser den Erfolg auch herbeiführen wolle, soweit es keine entgegenstehenden Beweise gibt. Diese Reduktion einer beweisbedürftigen tatbestandlichen Voraussetzung der Strafbarkeit auf einen prozessualen Anscheinsbeweis steht im Widerspruch zum verfassungsrechtlich verankerten Schuldprinzip und modifiziert den in dubio pro reo-Grundsatz.[140]
So liegt die Annahme nahe, dass die Kammer meinte, auf die möglichst individuelle Feststellung der subjektiven Verfasstheit des Angeklagten verzichten zu können und selbige durch eine normative Vorsatzzurechnung ersetzen zu dürfen. In der Sache bleibt die Kammer der Vorstellung einer Vorsatzgefahr verhaftet und ersetzt den im Rahmen der §§ 211, 212 StGB notwendigen Erfolgsvorsatz durch einen Gefährdungsvorsatz, der jedoch den subjektiven Tatbestand des Tötungsdelikts als aliud nicht ausfüllen kann.[141]
9. „Leichtfertigkeit“
Die jüngst erneut vorgeschlagene Lösung, eine eigene Kategorie der „Leichtfertigkeit“ in den subjektiven Tatbestand einzuführen[142], ist reizvoll. Man könnte auf die vorhandene Dogmatik und Rechtsprechung zu dieser Kategorie als besonders „grober Fahrlässigkeit“ zurückgreifen.[143] Gerade im Bereich des Strafmaßes ließen sich hilfreiche Differenzierungsmöglichkeiten schaffen. Allerdings würde die Beweisfrage gerade nicht entschärft, da nun eine zusätzliche Abgrenzung durchzuführen und beweismäßig zu unterlegen wäre. Denn soll „Leichtfertigkeit“ eine echte Zwischenstufe zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz werden, sind die entsprechenden Beweise für die neue Kategorie zu finden und es ist dazulegen, warum die Täter weder fahrlässig noch vorsätzlich handelten. Einfacher wird also auf der prozessualen Ebene nichts. Auf der materiellen und Strafzumessungsebene könnte es aber zu mehr Gerechtigkeit führen.
Dem liegt die Idee einer „besonderen Vorsatznähe“[144] zugrunde, was nach Duttge[145] insbesondere dann plausibel erscheinen kann, wenn man der Leichtfertigkeit eine Auffangfunktion für Fälle eines zwar nicht nachweisbaren, aber naheliegenden Vorsatzes zumesse.[146] Zurecht wird darauf hingewiesen, dass allerdings unklar bleibe, worin diese Vorsatznähe liegen soll, wenn es jedenfalls nicht das voluntative Element sein kann, das der Leichtfertigkeit eigen sein muss. Würde hingegen ein erhöhter Grad an Erfolgswissen verlangt[147], käme das einer Beschränkung auf die bewusste Fahrlässigkeit gleich, was den gleichgültigen gegenüber einem umsichtig abwägenden Täter unberechtigt bevorzugen würde. In jedem Fall werden die Probleme der Beweisbarkeit durch die Einführung einer neuen Kategorie nicht geringer. Will man hingegen nur bei nicht beweisbarem Vorsatz eine erhöhte Strafe in der Nähe der Vorsatzstrafe finden können, so bliebe im Prinzip alles beim Alten. Man könnte bei einzelnen Tatbeständen das Merkmal aufnehmen und im Übrigen die Strafrahmenobergrenze etwa bei §§ 222 und 229 StGB heraufsetzen.
IX. Koinzidenzprinzip – die zeitliche Dimension des Vorsatzes (2)
Mehrfach wurde dargelegt, dass die Kammer konkrete Tatsachenfeststellungen im Hinblick auf das Bewusstsein der Fahrer zum Kollisionszeitpunkt durch normative Zuschreibungen und Wahrscheinlichkeitsaussagen ersetzt hat. Diese Vorgehensweise ist wie erwähnt zur Bestimmung des konkreten Tatvorsatzes ungeeignet, denn sie ermöglicht lediglich eine statistische Aussage über die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt, ist aber gerade nicht zur Vorhersage konkreter Ereignisse geeignet.[148] Daran ändert sich auch nichts, wenn man sich in (fehlerhafter) Anwendung des Evidenzkriteriums darauf beruft, die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit mit der Möglichkeitstheorie durchführen zu wollen.[149] Neben der Vermengung zweier verschiedener Inhalte des Vorsatzes (Rennen – Tötung des Opfers) und den diese Annahmen begleitenden Gefahren kognitiver Dissonanzen entstehen auch Konsequenzen bei der Bestimmung des Zeitpunkts der Vorsatzfassung – und damit für die Anwendung des Koinzidenzprinzips.
1. Der relevante Zeitpunkt – Visualisierung der Tatumstände als Voraussetzung für die Feststellung des voluntativen Vorsatzelements
Aus der Fokussierung auf das jeweilige Delikt ergibt sich ein wichtiger zeitlicher Differenzierungsaspekt: Für die Frage des Vorsatzes muss die entsprechende Disposition zum Tatzeitpunkt tatsächlich vorgelegen haben. Diese sog. „subjektive Tatsache“ muss für den Tatzeitpunkt bewiesen werden.[150]
Dies ist bei Kenntnissen, die in nicht zu ferner Vergangenheit einmal erworben wurden, regelmäßig der Fall, so dass sich die Frage eher ausnahmsweise auf die Schuldebene verschiebt. Insbesondere dann, wenn der Täter seine vorhandenen Kenntnisse konstitutionell nicht aktivieren konnte oder daran bspw. infolge übermäßiger Alkoholisierung gehindert war.
Die Frage, ob der Täter den Eintritt des Erfolgs zumindest bewusst in Kauf nimmt, ist dagegen praktisch nicht im Rückgriff auf das an sich bei dem Täter vorhandene Potential zu beantworten. Das macht die Beurteilung gerade bei schweigenden Angeklagten wie erwähnt schwierig.[151] Da es aber schlechterdings nicht auszuschließen ist, dass ein Täter im Geschwindigkeitsrausch oder infolge anderweitig übermäßiger Hormonausschüttung an die Konsequenzen seines Tuns nicht gedacht hat, muss man nach Indizien suchen.[152]
Diese dürfen aber gerade nicht aus dem Maßstab des allgemein Erwarteten normativ konstruiert werden. Es geht um faktische Anhaltspunkte dafür, dass ein Täter tatsächlich die potentiellen Folgen seines Tuns nicht reflektiert, mag dies auch noch so weit entfernt von dem sein, was wir als vernünftig erachten. Finden sich keine Anhaltspunkte, spricht vieles dafür, den Maßstab des Normalen, des für diese Personengruppe Durchschnittlichen anzulegen und einen Vorsatz mangels entgegenstehender Erkenntnisse zu bejahen.[153]
„Auf der Hand“ liegt insoweit wenig vom Bewusstseinszustand der Fahrer zum Tatzeitpunkt der Tötung des Opfers[154], denn es liegt ja gleichermaßen auf der Hand, dass man solche Rennen prinzipiell unterlassen sollte. Trotzdem fuhren sie das Rennen. Zudem führt das hier wiederum in der Bewertungsebene verwendete Kriterium der Evidenz dazu, die Differenzierung zwischen Rennen und Tötung zu verwischen. Es mag den Fahrern zwar zu einem Zeitpunkt vor Tatbegehung bewusst gewesen sein, dass sie andere Menschen würden verletzen oder töten könnten – worauf die Berliner Kammer, wenn man es genau betrachtet, mit ihren generalisieren Annahmen abstellt. Das sagt aber noch nichts darüber, wie es mit dem (dem Beweis zugänglichen) Faktum der subjektiven Tatsache des Vorsatzes zum Tatzeitpunkt bestellt ist. Dieser muss sich wie erwähnt auf die Tötung eines anderen Menschen beziehen, nicht auf das Rennen an sich.
Will man das Evidenzkriterium zulässig verwenden, so könnte man fragen, wann dieser Ausgang für die Fahrer evident gewesen sein kann, wann die Tötung eines konkretisierten Opfers ihnen frühestens möglich erschienen sein konnte. Auch wenn man sich auf das kognitive Vorsatzelement beschränken würde, setzt dies Kenntnis, wenigstens Erkennen des möglichen Erfolges voraus. In concreto bestand zu diesem Zeitpunkt aber keine Möglichkeit mehr, den Erfolg abzuwenden. Damit fehlte es an der Handlungsfähigkeit zum Zeitpunkt einer möglichen (sic!) Vorsatzfassung und damit am zeitgleichen Zusammentreffen aller Strafbarkeitsvoraussetzungen. Wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die geforderte Reflektion (wenn auch nur aus Zeitgründen) nicht erfolgte, ist dies in dubio pro reo für den konkreten Täter zu konzedieren. Dann fehlte es situationsbedingt am Vorsatz.
2. „dolus antecendes“ bzw. „dolus subsequens“
In der Sache wird im Berliner Fall aber auch an dieser Stelle das konkret auf den Täter zu beziehende Willensmoment durch generelle Wahrscheinlichkeitserwägungen ersetzt.[155] Wie oben unter VIII. dargelegt, visualisierten die Fahrer während der tatbestandlichen Ausführungshandlungen weder ein Opfer noch war ihr Verhalten bis zum Unfall zielgerichtet auf eine Verletzung Dritter. Die Kammer aber ersetzt die (auf fehlerhaften Einschätzungen beruhende) Realität der Angeklagten schlicht post factum durch eine von ihr für vernünftig gehaltene Realität (s. VIII). „Real“ und faktisch wirksam waren aber für die Herbeiführung des Todes des Opfers allein die Vorstellungen der Angeklagten zum Tatzeitpunkt. Durch die Übertragung davon abgelöster Wahrscheinlichkeitsannahmen auf den Tatzeitpunkt verletzt die Begründung zugleich das für das Schuldprinzip zentrale Koinzidenzprinzip.[156] Denn zugeschrieben wird lediglich das Vorliegen eines zu irgendeinem Zeitpunkt vor (oder nach) der Ausführung (möglicherweise, s.o. II.) gegebenen Bewusstseinszustands. Der Vorsatz muss aber vollumfänglich während der Ausführung bzw. im Versuchsstadium vorliegen – und zwar deliktsspezifisch betrachtet. Schon, wenn dies nur für das Vorbereitungsstadium festgestellt würde, läge lediglich ein „dolus antecedens“ vor. Bloße Indizien im Bereich des nachtatbestandlichen Verhaltens würden allenfalls einen „dolus subsequens“ begründen können. Beide sind keine Erscheinungsformen des Vorsatzes im Sinne des Strafrechts.[157]
Methodisch richtig wäre es, danach zu fragen, wann die Angeklagten überhaupt einen konkreten Tötungsvorsatz hätten fassen können. Bis zum eigentlichen Unfallgeschehen kam es zu keiner konkret gefährlichen Situation. Die Fahrer konnten also kein konkretes Opfer visualisiert haben. Falls doch, hätte man einen Versuch erörtern müssen. Nach den Kriterien des unmittelbaren Ansetzens kommt eine deliktsspezifische Vorsatzbildung nicht in Betracht, bevor das Opfer das (oder die) Opfer individualisiert, jedenfalls nicht bevor er den letzten Zwischenschritt vor der Tatausführung gemacht hat.[158] Aufgrund der Struktur des versuchten Delikts kommt es maßgeblich auf die Vorstellung der Fahrer an.[159] Auf der Basis des festgestellten Sachverhalts kann es – unabhängig von der Beweisbarkeit der subjektiven Tatsache – nicht zur Bildung eines Tötungsvorsatzes gekommen sein, bevor das Opfer in das Blickfeld der Fahrer geriet. Zu diesem Zeitpunkt aber war ein Ausweichen oder Bremsen nicht mehr möglich. Selbst wenn man – ohne Kenntnis der konkreten Täterpsyche – hier einen Vorsatz annehmen wollte, war der Handlungszeitpunkt vorüber. Das Erkennen der Situation kam so spät, dass es auch im Falle der (fast schon absurd anmutenden) Billigung dieses Unfalls nur noch zu einer Erscheinungsform des nachträglich gefassten Vorsatzes, eines „dolus subsequens“, reichen würde.
So sieht es auch der 4. Senat: „Der vom Landgericht Berlin festgestellte Geschehensablauf trägt schon nicht die Annahme eines vorsätzlichen Tötungsdelikts. Nach den Urteilsfeststellungen, an die der Senat gebunden ist, hatten die Angeklagten die Möglichkeit eines für einen anderen Verkehrsteilnehmer tödlichen Ausgangs ihres Rennens erst erkannt und billigend in Kauf genommen, als sie in die Unfallkreuzung einfuhren. Genau für diesen Zeitpunkt hat das Landgericht allerdings auch festgestellt, dass die Angeklagten keine Möglichkeit mehr hatten, den Unfall zu verhindern; sie seien „absolut unfähig gewesen, noch zu reagieren“. Nach diesen Feststellungen war das zu dem tödlichen Unfall führende Geschehen bereits unumkehrbar in Gang gesetzt, bevor die für die Annahme eines Tötungsvorsatzes erforderliche Vorstellung bei den Angeklagten entstanden war. Ein für den Unfall und den Tod unfallbeteiligter Verkehrsteilnehmer ursächliches Verhalten der Angeklagten, das von einem Tötungsvorsatz getragen war, gab es nach diesen eindeutigen Urteilsfeststellungen nicht.“[160]
Das Koinzidenzprinzip ist wie erwähnt ein integraler Bestandteil des Schuldprinzips, genauer gesagt der Anknüpfung der Strafe an die in der Tat zum Ausdruck kommende Schuld. Gerade dieses Prinzip verhindert die Umwandlung des Strafrechts zu einem tätertypenverhafteten, präventiven Sicherheitsrecht. Wer in dieser methodisch konsequenten Argumentation eine „wenig überzeugende Spitzfindigkeit erblickt, welche nur über die eigentlichen Probleme hinwegtäuschen soll“[161], muss sich fragen lassen, ob er genau das will – ein generalpräventives Sicherheitsrecht an der Stelle des Schuldstrafrechts.
X. Ausblick
Oben wurde dargelegt, dass eine generalisierend zugeschriebene Bewusstseinslage, in der sich möglicherweise selbst der Angeklagte zu einem Zeitpunkt X einmal befunden haben mag, nicht die Feststellung des deliktsspezifischen Tatvorsatzes ersetzen kann. Wegen der elementaren Bedeutung des Koinzidenzprinzips für das Schuldprinzip ist das voluntative Vorsatzelement eng mit dem psychologischen Schuldmoment verknüpft. Es ist für das Verständnis (nicht die Akzeptanz) von Straftaten wichtig, gerade weil es Anknüpfungspunkt für die psychologische Aufarbeitung abweichenden Verhaltens ist.
Die Argumentation im Berliner Urteil gibt Anlass, einige methodische Fehler zu vermuten, welche zur Verdeutlichung besonders hervorgehoben wurden: Wahrscheinlich basiert die rechtliche Bewertung auf einigen der oben beschriebenen Fehlschlüsse bzw. –Fehlinterpretationen, insbesondere auf Generalisierung, zeitlicher Verschiebung, methodisch unzulässiger Vermischung von konkreten Fakten und Wahrscheinlichkeiten, Vermengung von Tatsachen und Erwartungen. Dies führt zu einer fehlerhaften, auf vorgefassten Erwartungen fußenden, Auswahl und Bewertung von Beweisen u.v.a Indizien. Bestätigt wird schließlich primär die normative Erwartungshaltung. Eine von zugeschriebenen Kenntnissen unabhängige Bewertung des voluntativen Vorsatzelements ist kaum mehr möglich. Hinterfragt man jedoch nicht die mögliche Fehlerhaftigkeit der Prämissen, erscheint die Argumentation prima vista verblüffend binnenkohärent. Das führt dazu, dass die Gesamtbewertung genauso selbstverständlich, als nahezu zwangsläufig, erscheint. Im Allgemeinen gelten derartige Urteile als „revisionssicher“. Dennoch enthebt auch eine suggestive Geschlossenheit der Darstellung in den Urteilsgründen nicht davon, das Vorliegen konkreter (subjektiver) Tatsachen zum Tatzeitpunkt beweisen zu müssen. Anderenfalls beruht die Suggestion auf Zirkelschlüssigkeit.[162]
Ein Problem besteht auch in der Annahme, man könne für einen als solchen zumindest in der Wahrnehmung des Berliner Falls empfundenen „krassen“ Ausreißer von der Norm auch eine Ausnahme vom Prinzip legitimieren. Dies ist aber nicht Einzelfallgerechtigkeit, sondern Einzelfallstrafrecht im Sinne einer Abkehr von verbindlichen methodischen Kriterien.
Eine solche Argumentation erscheint nicht mehr nur als die – völlig legitime – Bewertung eines Einzelfalles, sondern vielmehr als Instrumentalisierung eines einzelnen Falles (und Beschuldigten), um bestimmte Botschaften an die Allgemeinheit zu senden. Tatsächlich ist das beschuldigte Individuum hier zumindest teilweise lediglich ein Medium, an dem Härte demonstriert wird. Symbolisches Strafrecht wird hier verwirklich als symbolische Entscheidung mit dem Ziel gegenüber der Rechtsgemeinschaft Härte bzw. Stärke zu signalisieren. Eine relativ einfache Botschaft, deren Lasten allerdings ungleich verteilt sind.[163] Frommel hat diese Form medial-symbolischen Strafrechts treffend beschrieben: „Wie sieht nun die Straftheorie aus, die zu einer hyperaktiven Mediengesellschaft passt? Das symbolische Strafrecht verzichtet zunehmend auf die bislang übliche empirische Forschung, um die spezialpräventiven Wirkungen neuer Normen zu testen, und setzt ganz auf die symbolische Funktion. Es geht um indirekte Generalprävention. Dabei wird der Nutzen einer Begrenzung des Strafrechts auf Rechtsgüterschutz systematisch unterschätzt. Unbestimmtes Strafrecht zerstört nicht nur die Legitimität, auch die systematische Stimmigkeit der jeweiligen Regelungsbereiche verschwimmt. Permanent geändertes Strafrecht wird überkompliziert, undurchschaubar und – im Einzelfall – manipulierbar. Am Ende muss die Regelungswut mit Diversion kompensiert werden, was einem Verzicht auf rechtsstaatliche Rationalität gleichkommt“.[164] Sicher unbewusst, stellt sich die Argumentation des Berliner Urteils in Teilen als Ausdruck einer manipulativen, medialen Erwartung dar. Aus dem Blick gerät bei der Fokussierung auf das Signal an die Bevölkerung nicht zuletzt die Proportionalität der Strafe.[165] Dass das ausgesandte Symbol, je mehr es sich an allgemeinen Wertungen und Wahrscheinlichkeiten bzw. Erwartungen und nicht an den feststellbaren Tatsachen des individuellen Beschuldigten orientiert, ein rein generalpräventives ist, wurde oben bereits dargelegt.
Der 4. Senat hat sich ebenfalls ausgesprochen gegen die Ablösung des Vorsatzes von der Täterpsyche und die damit verbundene Lockerung der wechselbezüglichen Struktur von subjektivem Tatbestand und Schuld als zwei systematisch miteinander oszillierender Röhren des Unrechtsbewusstseins. Dem ist der Senat explizit entgegengetreten, indem er die grundsätzliche Bedeutung des voluntativen Vorsatzelements in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht sowie die Beweisbedürftigkeit betont hat: „In rechtlicher Hinsicht ist nach ständiger Rechtsprechung bedingter Tötungsvorsatz gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement) … Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Elemente im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen.“[166] Das ist zu unterstreichen. Wenn Strafrecht eine verhaltenssteuernde Funktion haben soll, ohne bloßes Machtrecht zu sein, dann muss es beim Täter und an dessen psychischer Determinierung ansetzen, dann muss zuerst die fremde Irrationalität verstanden werden, um zu sehen, wie sich die Tat aus dieser Perspektive, die eben gerade nicht die eigene ist, darstellt. Nur dann wird man die Ursache und Motivation abweichenden Verhaltens begreifen und ihr eventuell etwas entgegensetzen können. Ein Strafrecht, das darauf verzichtet, ist kein rationales Strafrecht.
Sind Gerichte oder Ermittlungsorgane nicht bereit, die eigene schein-rationale Perspektive zumindest zeitweise zu verlassen und verzichten auf den Versuch, die Realität der Angeklagten zu verstehen, so werden sie eigenen Erwartungen erliegen. Das Streben nach Binnenkohärenz führt leicht zu kognitiven Dissonanzen. Diese führen zu Wahrnehmungsverzerrungen, jene zur Erhebung primär der in Erwartungsschemata passenden Beweise, später zu einer nur binnenkohärenten Würdigung der vorselektierten Beweise. Und all das führt unter Umständen zu einem unbewussten Fehlurteil – schlicht, weil es schon an der Bereitschaft fehlt, die eigene Perspektive auch einmal zu relativieren. Verstärkt werden diese Effekte durch eine Neigung zur fehlerhaften Verwendung der Evidenz als Wertungs- bzw. Beweiswürdigungskriterium in normativer Hinsicht. Evident erscheint, was der Erwartung entspricht, die idealtypische Scheinlösung zur Beseitigung einer kognitiven Dissonanz.[167]
Bedenklich erscheint insbesondere, dass es in der zu Ende gedachten Konsequenz dieses Ansatzes liegt, den Täter nicht zu bestrafen, weil er als das Individuum, das er ist, vorwerfbar und nachweisbar Unrecht verwirklicht hat. Die Strafe knüpft vielmehr unabhängig von der individuellen Disposition zum Tatzeitpunkt an dem objektiven Abweichen einer Verhaltenserwartung an. Und wie sich gezeigt hat, führt die Verhaftung in diesen häufig nicht offengelegten Verhaltenserwartungen sehr leicht dazu, primär danach zu schauen, „ob“ jemand sich anders als erwartet verhält, nicht mehr aber nach der individuellen Disposition, welche für diese Abweichung ursächlich sein kann. Denn diese wird durch generalisierende Zuschreibungen von kognitiven Fähigkeiten oder Bewusstseinszuständen ersetzt. Ebenso generalisierend und objektiv fällt die strafrechtliche Reaktion selbst aus. Dieses Bild ergibt sich jedenfalls mit Blick auf o.g. Presseberichte oder massenmedial platzierte Stellungnahmen. Diese propagieren relativ unverhohlen (nicht nur) gelegentlich die überlegene Wirksamkeit des harten Durchgreifens, der schärferen Bestrafung. Gerade aber hat Prittwitz zu Recht und zum rechten Zeitpunkt nochmals in Erinnerung gerufen, dass eine Strafschärfung ein untaugliches und anachronistisches Mittel der Kriminalpolitik ist: „Dass die uns umgebenden populistischen Tendenzen in Zeiten unübersichtlicher gesellschaftlicher Entwicklungen besonders anfällig sind für die Sehnsucht nach den „guten alten Zeiten“, in denen man noch richtig (hart) bestraft hat, ist keine Überraschung. Dass der Gesetzgeber dieser Sehnsucht gerne nachkommt, wenn er symbolisch und also billiger dabei wegkommt, als wenn er sich auf mehr Erfolg versprechende, aber teurere Maßnahmen einlässt, dürfte auch niemanden überraschen“.[168]
Zurück zum voluntativen Vorsatzelement: Dieses ist und bleibt ein wesentlicher Punkt, welcher die Gerichte dazu verpflichtet, sich in die Psychologie des Angeklagten einzufühlen. Es sollte schon deshalb nicht preisgegeben werden. Vielmehr ist es angebracht, den Täter unter Umständen als Unvernünftigen zu würdigen – und mit Strafe zu sanktionieren, wenn ihm dies vorwerfbar ist. Denn Kriminalität ist ja gerade gekennzeichnet durch eine Form der – nicht hinnehmbaren und vorwerfbaren – Abweichung von der Norm des allgemein als vernünftig Geltenden.
[1] Vgl. bereits: BGHSt 53, 55; Kulhanek, in: BeckOK-StGB, 37. Ed. Stand Februar 2018, § 315d Rn. 1 ff.; näher BT-Drs. 18/10145, S. 7 – Begründung zur Einführung des § 315d StGB; Kubiciel, jurisPR-StrafR 16/2016, Anm.1.
[2] Eisele, KriPoZ 2018, 32.
[3] Auch im Ausland stieß das Thema und die Reaktion der deutschen Justiz bzw. der Strafverfolgungsbehörden auf Interesse, vgl. Momsen, „Murder conviction for illegal car racers could be overturned“, DW.COM v. 27.2.2017; vgl. auch DW-TV-News v. 1.3.2018, https://share.ard-zdf-box.de/s/LIgnQd34s (zuletzt abgerufen am 6.3.2018).
[4] Vgl. Kölner Rundschau v. 1.3.2017, abrufbar unter: www.aus-aller-welt/urteil-mit-strahlwirkung-toedliches-autorennen-raser-wegen-mordes-verurteilt-25918196 (zuletzt abgerufen am 25.1.2018); kritisch Eisele, KriPoZ 2018, 32 ff.
[5] Das LG Berlin, näher s.u. II.2., spricht davon, dass kein „Raum für Schonung“ mehr vorhanden gewesen sei. Dazu Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 439 (442). Vgl. aber Preuß HRRS 2017, 23; Mitsch, DAR 2017, 70; Neumann, Jura 2017, 160; Schneider; in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 212 Rn. 32a f., spricht von einem „besonders krass gelagerten Fall“ (Berlin) und mahnt im Übrigen, die „Fälle nicht über einen Kamm zu scheren“.
[6] Vgl. dazu Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 253 ff.; Frank, ZStW 18 (1998), 734 ff. – Die Überspannung der staatlichen Strafgewalt; Momsen, KriPoZ 2018, 21 ff. m.w.N.; s.u. III, IV, VIII.
[7] Interessanterweise gab es in der Schweiz anlässlich insbesondere einer Entscheidung des Schweizer Bundesgerichts bereits 2006/2007 eine ganz ähnliche emotional aufgeladene Kontroverse, dazu Mark Schweizer, Raserurteile: Verwässerung des Eventualvorsatzes, plädoyer 2/2007, 32-39.
[8] BGH, Urt. v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17 – LG Berlin, Rn. 18,
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.pyGericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=8155
8&pos=1&anz=528 (zuletzt abgerufen am 12.3.2018).
[9] So erklärte die Vorsitzende des 4. Senats, das Urteil werde „Erwartungen enttäuschen“, wenn man die öffentliche Diskussion zu dem Fall verfolge“, Spiegel-online v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/bundesgerichtshof-revdiert-urteil-gegen-berliner-raser-a-1196050.html (zuletzt abgerufen am 2.3.2018); nach Verkündung des Urteils erkennbar abgewogener bspw. Kubiciel, LTO v. 1.3.2018, https://www.lto.de/ recht/hintergruende/h/bgh-4str39917-kudamm-raser-kein-mord-fahrlaessige-toetung-strassenverkehr/?r=rss (zuletzt abgerufen am 7.3.2018); relativ unbeeindruckt dagegen noch kurz zuvor in SZ v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/panorama/interview-am-morgen-illegale-autorennen-mord-kann-es-auch-sein-wenn-die-toe
tung-nicht-das-ziel-ist-1.3886935 (zuletzt abgerufen am 2.3.2018); differenziert nunmehr Hoven, ZEIT v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/bundesgerichtshof-raser-urteil-berlin/komplettansicht (zuletzt abgerufen am 2.3.2018).
[10] Blume, Stichwort „Evidenz“ in: Online Wörterbuch Philosophie, abrufbar unter: http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/?tx_gbwbphilosophie_main%5Betry%5D=314&tx_gbwbp
hilosophie_main%5Baction%5D=show&tx_gbwbphilosophie_mai
n%5Bcontroller%5D=Lexcon&cHash=62a19b1fce598528818a6d
ec921b3410 (zuletzt abgerufen am 25.1.2018): „Offenbarkeit, Einsichtigkeit: dient in der Philosophie zur Bezeichnung der unmittelbaren Einsicht in die Wahrheit eines Satzes oder die Richtigkeit einer Erkenntnis. Der Evidenzbegriff bildet die Grundlage der Wahrheit in Erkenntnistheorien, die ihren Ausgangspunkt nicht bei der menschlichen Gemeinschaft, sondern bei einem Subjekt und seinen geistigen Inhalten nimmt. Solch ein Subjekt, so nimmt beispielsweise Descartes an, verfügt über einen Schatz von ewigen Wahrheiten, die dem Subjekt angeboren sind (ideae innatae). Fällt der Blick des Subjekts auf eine dieser Wahrheiten, so wird sie klar und deutlich erkannt. Besitzt also ein gedanklicher Inhalt das Merkmal der Klarheit und Deutlichkeit, leuchtet er mit anderen Worten als evident ein, so ist er auch zugleich wahr. Evidenz wird damit der Wahrheit vorgeordnet, Wahr-Sein in Hinblick auf evident Erkanntwerden bestimmt.“
[11] Die Verwendung des Evidenzkriteriums auf der Wertungsebene ist häufig zu beobachten. So bspw. bei Schneider, in: MüKo-StGB, § 212 Rn. 34a: „Seit der Lederriemen-Entscheidung des Bundesgerichtshofs besteht kein Zweifel daran, dass solchermaßen agierende Täter bedingten Vorsatz aufweisen (BGHSt 7, 363). Diese basale Erkenntnis gilt es auch in den Fällen der Teilnahme an hochgefährlichen illegalen Autorennen fruchtbar zu machen.“ Der Verweis auf Kubiciel/Hoven NStZ, 2017, 442, die ihrerseits das LG Berlin in Bezug nehmen, zeigt den Methodenfehler: „Fahrer, die, teils dicht nebeneinander, über rote Ampeln hinweg durch einen belebten Teil der Stadt rasen, „lieben“ ihr Fahrzeug nicht. Sie nutzen es vielmehr in einer Weise als Mittel zu ihrer Selbstverwirklichung, die „kein(en) Raum mehr für Schonung“ zulässt, wie das LG Berlin treffend formuliert“. Soweit Indizien überhaupt erhoben wurden, weisen diese auf eine starke Affinität der Fahrer zu ihren Fahrzeugen. Das postulierte Gegenteil ist nicht „evident“ wahrnehmbar. Das subjektive Faktum auf Täterseite wird ersetzt durch die subjektive und in keiner Weise abgesicherte Wertung der Richter bzw. der Autor*innen, was es (nämlich Ihnen selbst) bedeute, das eigene Fahrzeug zu „lieben“. Eine forensische Ausnahmeregel, dass bei schweigenden Angeklagten Beweis durch Wertung zu ersetzen wäre, besteht nicht. Lediglich gewinnen Indizien gegenüber unmittelbaren Beweisen an Bedeutung (s.u. VI.3.).
[12] Insoweit stellt sich die Frage, ob die Einzelfallgerechtigkeit nicht ausnahmsweise einen absoluten Vorrang beanspruchen kann. Das Problem daran ist, dass systeminkohärente Einzelfallgerechtigkeit i.d.R. Folge einer evidenzbasierten Argumentation ist, wobei Evidenz nicht wissenschaftstheoretisch verstanden, sondern als „Offensichtlichkeit“ missinterpretiert wird. Dies öffnet die Tür für Wahrnehmungs- und Wertungsfehler (s. sogleich).
[13] Dazu ausführlich Schweizer, Kognitive Täuschungen vor Gericht – Eine empirische Studie, Zürich, 2005; ders. Comparing Holistic and Atomistic eEvaluation of Evidence, Law, Probability and Risk (2013) 1–25; Momsen/Washington, in: FS Rogall, 2018 (im Erscheinen).
[14] Zur Wissentlichkeit bei bedingtem Vorsatz pointiert Walter, KriPoZ 2018, 40 (bei genauer Betrachtung der Gesetzesformulierung straffrei); ausf. Momsen, in: SSW-StGB, 3. Aufl. (2016), § 15 Rn. 15 ff.; vgl auch BGH, Urt. v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17 – LG Berlin, Rn. 17, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document
.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=815
58&pos=1&anz=528 (zuletzt abgerufen am 12.3.2018).
[15] Dem vom LG Hamburg am 19.2.2018 abgeurteilten Fall, in dem ebenfalls auf Mord erkannt wurde, scheint ein etwas anders gelagerter Sachverhalt zugrunde zu liegen, insoweit der Fahrer das Fluchtfahrzeug offenbar bewusst in den Gegenverkehr lenkte, um die verfolgenden Polizeiwagen abzuschütteln (vgl. Welt-online v. 19.2.2018, abrufbar unter: https://www.welt.de/regionales/hamburg/article173732224/Taxi-Dieb-verursacht-Unfall-Raser-von-Hamburg-wegen-Mordes-verurteilt.html (zuletzt abgerufen am 22.2.2018). Die Gründe dieses Urteils lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor.
[16] LG Bremen, Urt. v. 31.1.2017 – 21 Ks 280 Js 39688/16 (12/16), (4 StR 311/17).
[17] Vgl. den Antrag des GBA vom 24.7.2017, S. 1.
[18] LG Berlin, Urt. v. 27.2.2017 – (535 Ks) 251 Js 52/16 (8/16), 35. Große Strafkammer.
[19] BGH, Urt. v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17 – LG Berlin, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=81558&pos=1&an
z=528 (zuletzt abgerufen am 12.3.2018).; vgl. auch Pressemitteilung v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&Datum=2018&Sort=3&nr=81300&pos=0&anz=45 (zuletzt abgerufen am 2.3.2018).
[20] A.a.O., dazu unten V.1. und IX.
[21] A.a.O.
[22] BGH, Urt. v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17 – LG Berlin, Rn.18: „Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind jedoch keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalles an (vgl. BGH, Urt. v. 15.10.1986 – 2 StR 311/86, BGHR StGB § 15 Vorsatz, bedingter 1 – Willenselement; Beschl. v. 7.3.2006 – 4 StR 25/06, NStZ 2006, 446). Dabei hat der Tatrichter die im Einzelfall in Betracht kommenden, einen Vorsatz in Frage stellenden, Umstände in seine Erwägungen einzubeziehen (vgl. BGH, Urt. v. 26.11.2014 – 2 StR 54/14, NStZ 2015, 516 (517); Beschl. v. 10.7.2007 – 3 StR 233/07, NStZ-RR 2007, 307; v. 27.8.2013 – 2 StR 148/13, NStZ 2014) http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=81558&pos=1&anz=528 (zuletzt abgerufen am 12.3.2018).
[23] Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, 1987, S. 59 ff., 121 ff.; Alfred J. Ayer, Sprache, Wahrheit und Logik, 1987, S. 117 ff., 200 ff. („Veranschaulichung der Gefahr, linguistische Propositionen in der Tatsachenterminologie auszudrücken“); Grewendorf/Ellscheid/Seibert, in: Grewendorf (Hrsg.) Rechtskultur als Sprachkultur – zur forensischen Funktion der Sprachanalyse, 1992, S. 11 ff., 275 ff., 332 ff.; Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 13 ff. (zur logischen Analyse juristischer Entscheidungen).
[24] Auch die Mordmerkmale waren umstritten. Vor allem ob neben dem Fahrzeug als „gemeingefährlichem Mittel“ auch noch „besonders niedrige Beweggründe“ oder gar, wie die Bremer Anklage aus unerfindlichen Gründen meinte, „Habgier“ vorliegen konnte. § 211 StGB wird nachfolgend jedoch keiner näheren Betrachtung unterzogen.
[25] Kölnische Rundschau v. 1.3.2017, abrufbar unter: http://www.rundschau-online.de/region/koeln/raserurteil-die-koelne…ihr-vorgehen-aendern-25941386?originalReferrer=&originalReferrer= (zuletzt abgerufen am 2.2.2018).
[26] Vgl. dazu die Statements von Schmitz, Momsen, Roxin in NZZ v. 24.1.2017, S. 36.
[27] Zu Erscheinungsformen und methodischen Problemen symbolischen Strafrechts vgl. Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 253 ff.; Frommel, in: vorgänge 212 (4/2015), S. 107 ff.; vgl. http://www.humanistische-union.de/nc/publikationen/vorgaenge/online_artikel/online_artikel_detail/back/vorgaenge-212/article/symbolisches-strafrecht/, (zuletzt abgerufen am 18.2.2018); Frank, ZStW 18, 734 ff.; Momsen, KriPoZ 2018, 21 ff. m.w.N.; s.u. IV, X.
[28] In diesem Punkt kann Hoven, FAZ-Einspruch v. 31.1.2018, abrufbar unter: http://einspruch.faz.net/einspruch-magazin/2018-01-31/a4a2340aa08d0c64f02dc90c820df411/?GEPC=s5 (zuletzt abgerufen am 1.2.2018), nur nachdrücklich zugestimmt werden.
[29] Dass diese spontan-emotional gesteuerten Strafbedürfnisse gerade für den hier zu diskutierenden Fall des bedingten Vorsatzes in der Sozialpsychologie keinen Rückhalt finden, legt überzeugend dar Walter, KriPoZ 2018, 41 mit Verweis auf Carlsmith/Darley/Robinson, Journal of Personality and Social Psychology 83, 2002, S. 284–298 (286); Robinson, Intuitions of Justice and the Utility Desert, 2013, S. 49 ff., 84; ders. und Darley, Justice, Liability and Blame, Community Views and the Criminal Law, 1995, S. 157 ff.; jew. m.w.N.
[30] Umfassend Eisele, KriPoZ 2018, 32 ff.; vgl. auch Walter, KriPoZ 2018, 40 ff.
[31] Näher Dahlke/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2017, 35 ff. u. 306 ff. und Eisele, KriPoZ 2018, 32 ff.
[32] BT-Drs. 18/10145, S. 7, 9.
[33] Satzger, in: SSW-StGB, § 1 Rn. 55; § 2 Rn. 19 ff.
[34] BGHSt 20, 177 ff.; Satzger, in: SSW-StGB, § 2 Rn. 4 m.w.N.
[35] BGHSt 26, 167 ff.
[36] Satzger, in: SSW-StGB, § 2 Rn. 21.
[37] Bei Aufhebung und Ersetzung durch eine mildere Norm würde die Folge prinzipiell Straflosigkeit sein (Abs. 1), Abs. 3 wäre nicht anwendbar, Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 28; Satzger, in: SSW-StGB, § 2 Rn. 19.
[38] BGHSt 20, 77; BGH, NJW 1999, 556; Satzger, in: SSW-StGB, § 2 Rn. 20.
[39] Vgl. oben 2.
[40] S. auch Eisele, KriPoZ 2018, 32.
[41] Geppert, Jura, 2011, 31; Murmann, in: SSW-StGB, Vor §§ 25 ff. Rn. 20.
[42] A.a.O.
[43] Dazu Joecks, in: MüKo-StGB, § 25 Rn. 6.
[44] Joecks, in: MüKo-StGB, § 25 Rn. 6, mit Verweis auf BGH, NJW 1979, 1721; NStZ 1982, 27; NStZ 1984, 413; NJW 1985, 1035; NJW 1986, 77; NStZ 1987, 224; NJW 1987, 2881; NStZ 1987, 364; NStZ 1988, 507; so auch Roxin, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2011), § 25 Rn. 27 ff., 31.
[45] Joecks, in: MüKo-StGB, § 25 Rn. 6 f., mit Verweis auf StV 1983, 501; StV 1983, 461; NStZ 1984, 423; NStZ 1985, 165; StV 1986, 384; NStZ 1990, 130.
[46] Vgl. Willumat, Strafbarkeit wegen Mordes im Fall der sog. Ku’damm-Raser – konsequente Vorsatzdogmatik oder bloßes kriminalpolitisches Statement? FU-Law-Clinic Blog v. 27.11.2017, S. 5, abrufbar unter: http://www.jura.fu-berlin.de/studium/lawclinic/blog/Blog/Beitrag_Willumat/index.html, (zuletzt abgerufen am 19.2.2018).
[47] Eine mittelbare Täterschaft kann hier nicht als Mittäterschaft gedacht werden. Überdies fehlen auch hier tatsächliche Anhaltspunkte.
[48] Hoven, FAZ – Einspruch v. 31.1.2018, abrufbar unter: http://einspruch.faz.net/einspruch-magazin/2018-01-31/a4a2340aa08d0c64f
02dc90c820df411/?GEPC=s5 (zuletzt abgerufen am 15.2.2018).
[49] BGH, Urt. v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17 – LG Berlin, Rn. 28, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=81558&po
s=1&anz=528 (zuletzt abgerufen am 12.3.2018).; vgl. auch Pressemitteilung v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm
&Datum=2018&Sort=3&nr=81300&pos=0&anz=45 (zuletzt abgerufen am 2.3.2018).
[50] Näher Murmann, in: SSW-StGB, § 25 Rn. 38 m.w.N.
[51] BGH, Urt. v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17 – LG Berlin, Rn. 3, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=81558&pos
=1&anz=528 (zuletzt abgerufen am 12.3.2018).
[52] So aber wiederum Hoven, in LTO v. 10.2.2018, abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/berliner-raserfall-bgh-zeitpunkt-vorsatz-toetung-mord-mittaeterschaft/ (zuletzt abgerufen am 15.2.2018). Weiter ist zu lesen: „Den Angeklagten im „Berliner Raser-Fall“ vergleichbar ist ein Täter, der den Stein rollt, obwohl er weiß, dass möglicherweise Menschen am Fuße des Berges stehen und dass er, wenn der Stein erst einmal rollt, keine Möglichkeit mehr haben wird, ihre Tötung zu verhindern. Ebenso wie die Rennteilnehmer weiß der Täter hier nicht, ob tatsächlich ein anderer getroffen werden wird – da dies jedoch allein vom Zufall abhängt, hofft er vielleicht auf das Ausbleiben eines Erfolges, vertraut aber nicht darauf. Alle Voraussetzungen des bedingten Vorsatzes sind damit im Zeitpunkt der Tathandlung erfüllt. Dass der Täter erst nachdem der Stein eine Weile rollt sicher weiß, dass er einen Menschen treffen wird, ändert daran nichts.“ Statt vieler naheliegender Einwände sei nur gefragt, woraus ohne weitere Nachweisbedürftigkeit folgt, dass wer auf einen Ausgang hofft, nicht auch darauf vertraut, noch dazu, wenn doch dessen Eintritt (wenn überhaupt) nur als möglich erkannt wird? Zur damit ebenfalls in Bezug genommenen Konstellation des „dolus subsequens“, s.u. 3. u. IX.
[53] Vgl. auch Walter, KriPoZ 2018, 40.
[54] Hájek, Interpretations of Probability, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, abrufbar unter: https://plato.stanford.edu/entries/probability-interpret/ (zuletzt aufgerufen am 31.1.2018).
[55] Näher: http://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/1132680 (zuletzt abgerufen am 31.1.2018).
[56] Vgl. oben II.
[57] Köller/Nissen/Rieß/Sadorf, (hrsg. BKA), Probabilistische Schlussfolgerungen in Schriftgutachten, 2004, S. 64, 68, 72.
[58] Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. (2006), § 12 Rn. 89 f.
[59] Roxin, AT I, § 12 Rn. 91.
[60] Ausf. Roxin, AT I, § 12 Rn. 89 ff; Joecks, in: MüKo-StGB, § 15 Rn. 15 f.; Vogel, in: LK-StGB, § 15 Rn. 52; Sternberg-Lieben/Sternberg-Lieben, JuS 2012, 976 (979); Duttge, in: Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl. (2017), § 15 Rn. 9 f.; Vogel, in: LK-StGB, § 15 Rn. 52 ff.; dies schließt nicht aus, dass der Täter eines (räuberischen) Diebstahls erst in dem Moment des Gewahrwerdens von Polizeikräften und der Entscheidung, auf einen von ihnen zuzufahren, erkennt und billigend in Kauf nimmt, dass er möglicherweise bereits in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe zum Diebstahl bemerkt worden war und dies zu der Polizeiaktion führte; BGH, NJW 2015, 3178. Allerdings ist ein entsprechender Nachweis erforderlich. Vgl. auch BGHSt 6, 229 ff.; BGHSt 10, 151 ff.; BGH, JZ 1983, 857 m.Anm. Hruschka, JZ 1983, 860; vgl. auch Lampe, ZStW 72 (1960), 93. Rotsch, in: FS Puppe, 2011, S. 997 (889 ff.).
[61] Joecks, in: MüKo-StGB, § 15 Rn. 15; Hruschka, JZ 1983, 860.
[62] Momsen, in: SSW-StGB, § 15 Rn. 19 ff.
[63] A.a.O., Rn. 35 ff.
[64] Sofern der Bericht in Welt-online v. 19.2.2018, abrufbar unter: https://www.welt.de/regionales/hamburg/article173732224/Taxi-Dieb-verursacht-Unfall-Raser-von-Hamburg-wegen-Mordes-verurteilt.html (zuletzt abgerufen am 2.3.2018), zutreffend ist, scheint hier ein Unterschied zwischen dem Berliner und dem Hamburger Fall zu liegen, denn dort scheint der Fahrer bewusst in den Gegenverkehr gesteuert zu sein, hätte also die für die Fassung des Tötungsvorsatzes relevante Situation zu einem handlungsfähigen Zeitpunkt vor Augen gehabt („…auf der Flucht vor der Polizei wiederholt riskante Fahrmanöver gemacht. Als er das Taxi in den Gegenverkehr lenkte, habe er billigend in Kauf genommen, dass aufgrund der hohen Geschwindigkeit Unbeteiligte bei einer Kollision „mit großer Wahrscheinlichkeit zu Tode kommen“ würden…“). In diesem Fall wäre jedenfalls die Wahrscheinlichkeitstheorie zutreffend angewendet, da das bewusste Lenken in den Gegenverkehr ein tatsächliches Indiz dafür darstellen könnte, dass der Fahrer zum Zeitpunkt der Tathandlung eine Tötung anderer Personen als möglich bzw. wahrscheinlich erkannt hat (Urteilsgründe dieses Urteils lagen bei Manuskripterstellung noch nicht vor.).
[65] Schneider, in: MüKo-StGB, § 212 Rn. 34a; Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 440 f.; Preuß, HRRS 2017, 23; Mitsch, DAR 2017, 70; Neumann, JURA 2017, 160.
[66] Schneider, in: MüKo-StGB, § 212 Rn. 34a; Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 442; LG Berlin (Fn.11), UA 64; dazu differenziert nunmehr Hoven, ZEIT v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/bundesgerichtshof-raser-urteil-berlin
/komplettansicht, (zuletzt abgerufen am 2.3.2018); vgl. auch Willumat, Strafbarkeit wegen Mordes im Fall der sog. Ku’damm-Raser – konsequente Vorsatzdogmatik oder bloßes kriminalpolitisches Statement?, FU-Law-Clinic Blog v. 27.11.2017, S. 6, abrufbar unter: http://www.jura.fu-berlin.de/studium/lawclinic/blog/Blog/Beitrag_Willumat/index.html (zuletzt abgerufen am 19.2.2018).
[67] Vgl. BGH, Urt. v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17 – LG Berlin, Rn. 19, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document
.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=815
58&pos=1&anz=528 (zuletzt abgerufen am 12.3.2018). „Dabei ist die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch für das Willenselement des bedingten Vorsatzes, vgl. BGH, Urt. v. 14.1.2016 – 4 StR 84/15, a.a.O., 80; v. 16.5.2013 – 3 StR 45/13, NStZ-RR 2013, 242 (243); Beschl. v. 26.4.2016 – 2 StR 484/14, NStZ 2017, 22 (23). Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind jedoch keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalles an (vgl. BGH, Urt. v. 15.10.1986 – 2 StR 311/86, BGHR StGB, § 15 Vorsatz, bedingter 1 – Willenselement; Beschl. v. 7.3.2006 – 4 StR 25/06, NStZ 2006, 446).“
[68] Dazu Momsen/Momsen-Pflanz, in: SSW-StGB, § 224 Rn. 34 ff.
[69] Dazu Eisele, KriPoZ 2018, 37. Näher unten VIII.4.
[70] Schneider, in: MüKo-StGB, § 212 Rn. 34a; Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 442; und auch das LG Berlin, Urt. v. 27.2.2017 – (535 Ks) 251 Js 52/16 (8/16), UA 64.
[71] Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 440.
[72] BGH, Urt. v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17 – LG Berlin, Rn. 18, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=81558&pos
=1&anz=528 (zuletzt abgerufen am 12.3.2018). vgl. BGH, Urt. v. 7.7.2016 – 4 StR 558/15, a.a.O.; v. 19.4.2016 – 5 StR 498/15, a.a.O.; v. 16.9.2015 – 2 StR 483/14, NStZ 2016, 25 (26).
[73] Vgl. nur Krehl, in: KK-StPO, 7. Aufl. (2013), § 244 Rn. 5 f.
[74] So deutlich für den Bremer Fall in der Pressemitteilung v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&Datum=2018&Sort=3
&nr=81300&pos=0&anz=45 (zuletzt abgerufen am 2.3.2018).
[75] Vgl. Roxin, AT I, § 19 Rn. 10 m.w.N.
[76] Radbruch, ZStW 24 (1904), 333, ff.; ausf. die Monographien von Löffler, Die Schuldformen des Strafrechts, 1895; Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht, 1903; vgl, auch den historischen Abriss bei Goldschmidt, in: Frank FS, Bd. 1, 1930 (Reprint 1969), S. 428 ff.
[77] Terminologie hier entsprechend Roxin, AT I, § 19 Rn. 16 ff.
[78] BGHSt 2, 200.
[79] Umfassend, Maiwald, FS Lackner, 1987, S. 149 ff.; vgl. auch Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten, 2006, S. 478 ff.
[80] Frister, MSchrKrim 1994, 316 ff.; ders., Die Struktur des voluntativen Schuldelements, 1993, S. 99 ff., 118 ff., 253; vgl. Roxin, AT I, § 19 Rn. 38.
[81] Pointiert bei Jakobs, AT, 17/18 ff. und ausf. in: Schuld und Prävention, 1976. Insoweit kein Zufall, dass Jakobs auch von den Gegnern des voluntativen Vorsatzelements in Anspruch genommen wird.
[82] BGHSt 36, 1 ff.; 39, 100 ff.; vgl. Momsen, in: SSW-StGB, § 15 Rn. 7.
[83] Eine Konstellation, in denen der Vorsatz gegeben war, weil nur die Wertung nicht erfolgte, lag etlichen sog. „Blutrachemorden“ zugrunde. Vgl. Momsen, NStZ 2003, 237 ff. – Tatsächlich ließen sich keine entsprechenden Kulturen finden, in welchen es kein Tötungsverbot gibt. Damit stellt sich bei den sog. „Ehrenmorden“ kein entsprechendes Vorsatzproblem, die rechtliche Bewertung verschiebt sich in den Bereich des § 17 StGB, ggf. der §§ 20, 21 StGB; vgl. auch Grünewald, NStZ 2010, 1 ff.
[84] Daher bleibt unerfindlich, warum teilweise angenommen wird, dass wer sich nur unvernünftig genug verhalte – wie „die Raser“ – immer exkulpiert werde, wenn auf den Nachweis des voluntativen Vorsatzelements die üblichen Beweisregeln angewendet werden; so immer noch angedeutet bei Hoven, ZEIT v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/bundesgerichtshof-raser-urteil-berlin/komplettansicht (zuletzt abgerufen am 2.3.2018).
[85] Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 440, 441 f.
[86] Jakobs, RW 2010, 283 (289).
[87] Weigend, ZStW 93 (1981), 657 ff. (669).
[88] Vgl. Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, 2009, S. 166 f., 268; Puppe, GA 2006, 65 (73).
[89] Vgl. Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, S. 392; Puppe, in: NK-StGB, 4. Aufl. (2012); § 15 Rn. 85.
[90] Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1921, §§ 99 – 101, dazu Roxin, AT I, § 3 Rn 4.
[91] Zutreffend Roxin, AT I, § 3 Rn. 8: „Gleichwohl ist die Vergeltungstheorie heute wissenschaftlich nicht mehr haltbar (…) Die metaphysische Gerechtigkeit zu verwirklichen ist der Staat als eine menschliche Einrichtung weder fähig noch berechtigt (…) Die Rückständigkeit des deutschen Strafvollzugs (…) beruht wesentlich auf dem lange Zeit dominierenden Einfluss der Vergeltungstheorie“ (…) Sühne „kann aber nicht zur Rechtfertigung der Vergeltungsstrafe dienen, weil ein derartiges Sühneerlebnis, das in Wirklichkeit nur selten vorkommt, (…) durch eine nicht vergeltende sondern helfende Strafe herbeigeführt werden kann“.
[92] Dass tatsächlich ein Delegitimierungseffekt die Folge ist, gilt sowohl für die symbolhafte Strafgesetzgebung in gleicher Weise wie für die symbolhafte Gesetzesanwendung; vgl. Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 253 ff.; Frommel, in: vorgänge 212 (4/2015), S. 107 ff.; vgl. http://www.humanistische-union.de/nc/publikationen/vorgaenge/online_artikel/online_artikel_detail/back/vorgaenge
-212/article/symbolisches-strafrecht/ (zuletzt aufgerufen am 18.2.2018); vgl. i.ü. bereits Frank, ZStW 18 (1906), 734 ff.
[93] Diesen Begriff verwendet Frommel: „Als reflexhaftes Strafrecht lässt sich eine Gesetzgebung charakterisieren, die nicht mehr Probleme lösen, sondern in erster Linie auf Skandale medienwirksam reagieren will. Sie greift reflexhaft Forderungen nach mehr Strafrecht auf und schämt sich zugleich, dass sie so agiert. Beides passt zu Politikern und Lobbyisten, die in erster Linie medienwirksam sein wollen. Strafrecht eignet sich für die Personalisierung von Problemen, weil es ohnehin seit dem 19. Jahrhundert personalisiert ist (Schuldprinzip). In einer Mediengesellschaft kann man auf diese Weise „Zeichen“ setzen. Praktisch für diejenigen, welche sich über die mittel- und langfristigen Folgen ihres Tuns erst einmal keine Gedanken machen, weil sie das Tempo der sich überstürzenden Skandale ohnehin überfordert. Beides – die Inszenierung eines Skandals und das Ingang-Setzen eines spektakulären Strafverfahrens – funktioniert nur, wenn diejenigen, die das betreiben, das komplexe Geschehen unangemessen reduzieren“; so in vorgänge 212 (4/2015), S. 107 ff., abrufbar unter: http://www.humanistische-union.de/nc/publikationen/vorgaenge/online_artikel/online_artikel_detail/back/vorgaenge
-212/article/symbolisches-strafrecht/ (zuletzt aufgerufen am 18.2.2018).
[94] LG Berlin, Urt. v. 27.2.2017 – (535 Ks) 251 Js 52/16 (8/16).
[95] BGHSt 21, 157, 159 = NJW 1967, 116; BGHR, § 261 Beweiswürdigung 2, 16; BGH, NStZ 1999, 205; 2002, 48; 2011, 338; NStZ-RR 2007, 43 (44); 2012, 369.
[96] Genau genommen differiert sie je nach der konkreten Situation an jeder Ampel, ist also bei jeder Ampel individuell zu bestimmen.
[97] Vgl. etwa Sibbertsen, Statistik, 2. Aufl. (2015), S. 284. Konstellationen wie die vorliegende sind klar von solchen abzugrenzen, in denen die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses durch die wiederholte Durchführung bei einer festen und gleichbleibenden Grundgesamtheit kumuliert wird. Eine solche Konstellation liegt etwa vor bei einem Experiment, bei dem die Wahrscheinlichkeit, mehrere Sechsen hintereinander zu würfeln, berechnet wird. Hier ergibt sich tatsächlich erst durch Kumulation der einzelnen Wahrscheinlichkeiten von jeweils 1/6 eine Wahrscheinlichkeit von 1/36 dafür, zwei Sechsen hintereinander zu würfeln (S. 219-221). Vorliegend ging es indes nicht um die Berechnung der kumulierten Wahrscheinlichkeit eines Unfalls bei einer gleichbleibenden Grundgesamtheit und mehreren Ereignissen, sondern allein um die gesteigerte Unfallwahrscheinlichkeit zum Tatzeitpunkt aufgrund der Länge der gefahrenen Strecke.
[98] Gleichwohl wird sie unkritisch von Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 442, übernommen, ebenso von Schneider, in: MüKo-StGB, § 212 Rn. 34b.
[99] S.o I.
[100] Als typischer Fehler beschrieben bei Schweizer, Beweismaß – Rationalität und Intuition, 2015, S. 83 ff. – im Übrigen darf nicht verkannt werden, dass eine Urteilsbegründung grds. eine Argumentation zu einem bestimmten Ergebnis (eine von mehreren möglichen Geschichten) darstellt, also zielorientiert aufgebaut ist. Hinweise auf Dissonanzen lassen sich aber gerade dort finden, wo die Befassung mit der möglichen Alternative nahegelegen hätte, aber nicht stattfindet. Sehr aufschlussreich analysiert von Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, 1987, 1 ff.
[101] Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 442.
[102] Die Argumentation, mit welche die Irrelevanz der Versuchsfrage begründet werden soll, ist zudem widersprüchlich: „In normativ-systematischer Hinsicht spricht gegen die Relevanz dieses sog. „Versuchsdilemmas“, dass damit zwei verschiedene, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Fragen miteinander vermengt werden. Dies zeigt sich auch daran, dass es für die Bestimmung der Versuchsstrafbarkeit in sog. Raserfällen nicht allein, ja nicht einmal vorrangig auf den bedingten Tatentschluss, sondern auf das unmittelbare Ansetzen ankommt. Hätten nämlich die Fahrer zu Beginn ihres Rennens laut ausgerufen: „Ich nehme den Tod anderer billigend in Kauf!“, stellte sich gleichwohl die Frage, ob die Versuchsschwelle bereits beim Anlassen des Motors, beim Überfahren der ersten Ampel oder beim Abbiegen eines anderen Verkehrsteilnehmers überschritten worden ist. All dies zeigt: Die hochgradig einzelfallabhängige Versuchsfrage kann keine Bedeutung für die auf einer anderen Ebene angesiedelte Vorsatzprüfung haben.“ (so Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 442). Zum einen ist der Versuch auch hier notwendiges Durchgangsstadium der Vollendung, zum anderen muss der Vorsatz als Tatentschluss gerade zum Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens vorliegen. Damit muss in identischer Weise das Zeitmoment konkretisiert werden.
[103] Was stochastisch insoweit zutreffend wäre, als immer weniger Situationen mit der jeweils immer gleich hohen Wahrscheinlichkeit „zu meistern“ waren.
[104] Auch diese Effekte dissonanter Beweisinterpretation sind aus vergleichbaren Fällen lange bekannt; vgl. Schweizer, plädoyer 2/2007, 32-39: „Im Übrigen kann bei Unfällen im Straßenverkehr nicht ohne weiteres aus der hohen Wahrscheinlichkeit des Eintritts des tatbestandsmässigen Erfolgs auf dessen Inkaufnahme geschlossen werden. Erfahrungsgemäß neigen Fahrzeuglenker dazu, einerseits die Gefahren zu unterschätzen und andererseits ihre Fähigkeiten zu überschätzen, weshalb ihnen unter Umständen das Ausmaß des Risikos der Tatbestandsverwirklichung nicht bewusst ist. Einen unbewussten Eventualdolus aber gibt es nicht (siehe Fiolka, Das Rechtsgut, Strafgesetz versus Kriminalpolitik, dargestellt am Beispiel des Allgemeinen Teils des Schweizerischen Strafgesetzbuches, des Strassenverkehrsgesetzes [SVG] und des Betäubungsmittelgesetzes [BetmG], Diss. Freiburg 2006, S. 723 ff.; Riklin in: Strassenverkehrsrechts-Tagung 2006, S. 257 ff.).“
[105] Näher und m.w.N. Momsen/Washington, in: FS Eisenberg, 2018 (im Erscheinen).
[106] LG Berlin, Urt. v. 27.2.2017 – (535 Ks) 251 Js 52/16 (8/16), UA 28, 60, 61.
[107] Vgl. Jäger, JA 2017, 786 (787).
[108] LG Berlin, Urt. v. 27.2.2017 – (535 Ks) 251 Js 52/16 (8/16), UA 65.
[109] A.a.O., UA 26.
[110] Schneider, in: MüKo-StGB, § 212 Rn. 34b; ebenso Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 441; dagegen zutr. Mitsch, DAR 2017, 70.
[111] BGE 133 IV 9, E 4.4; vgl. Schweizer, plädoyer 2017, 32 ff.
[112] „Typische Raser, «halten sich alle für kleine Schumacher». Es mag zwar strohdumm sein, aber diese Menschen glauben tatsächlich, sie hätten ihr Fahrzeug auch bei 130 Kilometern pro Stunde innerorts unter Kontrolle. Das Bundesgericht betont selber, die Annahme, der Fahrzeuglenker habe sich gegen das Rechtsgut entschieden und nicht mehr im Sinne der bewussten Fahrlässigkeit auf einen guten Ausgang vertraut, dürfe nicht leichthin getroffen werden. Selbst bei einem waghalsigen Überholmanöver vertraue der Fahrer – wenn auch oftmals rational nicht begründbar – leichtfertig darauf, es werde schon nicht zu einem Unfall kommen (BGE 130 IV 58, 65).“ – Bächli-Biétry, (Präsidentin der Schweizerischen Vereinigung der Verkehrspsychologie), zitiert bei Schweizer, plädoyer 2007, 35; vgl. auch Eisele, KriPoZ 2018, 32 f.
[113] LG Bremen, Urt. v. 31.1.2017 – 21 Ks 280 Js 39688/16 (12/16), UA 64.
[114] LG Bremen, Urt. v. 31.1.2017 – 21 Ks 280 Js 39688/16 (12/16), UA 70.
[115] Die Berliner Kammer „hat diese Annahme darauf gestützt, dass mit den Angeklagten vergleichbare Fahrer sich in ihren tonnenschweren, stark beschleunigenden und mit umfassender Sicherheitstechnik ausgestatteten Fahrzeugen regelmäßig sicher fühlten „wie in einem Panzer oder in einer Burg“. Einen Erfahrungssatz dieses Inhalts gibt es aber nicht. Ein entsprechendes Vorstellungsbild ist konkret auf die Angeklagten bezogen zudem nicht belegt. Gerade angesichts der vorliegend objektiv drohenden Unfallszenarien – Kollisionen an einer innerstädtischen Kreuzung mit anderen Pkw oder, wie die Urteilsgründe mitteilen, sogar mit Bussen bei mindestens 139 bzw. 160 km/h – versteht sich dies auch nicht von selbst.“ – BGH, Urt. v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17 – LG Berlin, Rn. 24, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&A
rt=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=81558&pos=1&anz=528 (zuletzt abgerufen am 12.3.2018); vgl. auch Pressemitteilung v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&Datum=
2018&Sort=3&nr=81300&pos=0&anz=45 (zuletzt abgerufen am 2.3.2018).
[116] LG Berlin, Urt. v. 27.2.2017 – (535 Ks) 251 Js 52/16 (8/16), UA 50 f.
[117] Schneider, in: MüKo-StGB, § 212 Rn. 34a.
[118] Vgl. Momsen/Momsen-Pflanz, in: SSW-StGB, § 224 Rn. 35 f. m.w.N.
[119] Näher Momsen, in: SSW-StGB, § 212 Rn. 8 ff.
[120] Dies wäre einem am Case Law geschulten Gericht möglicherweise nicht passiert, da in einem ersten methodischen Schritt immer die Vergleichbarkeit des Präjudizes begründet wird, vgl. https://www.law.cornell.edu/rules/fre/rule_403.
[121] Stellungnahme S. 3 mit Verweis auf BGH, NStZ 2011, 702 Rn. 34.
[122] BGH, NStZ 2011, 702 Rn. 35.
[123] Aufschlussreich BGH, NStZ 2006, 36; näher und kritisch bei Schneider, in: MüKo-StGB, § 212 Rn. 63 ff., 69 ff.; vgl. zu Bspn. auch Momsen, in: SSW-StGB, § 212 Rn. 12.
[124] LG Berlin, Urt. v. 27.2.2017 – (535 Ks) 251 Js 52/16 (8/16) UA 21, 60.
[125] Pressemitteilung v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&A
rt=pm&Datum=2018&Sort=3&nr=81300&pos=0&anz=45 (zuletzt abgerufen am 2.3.2018).
[126] Nachweise bei Schweizer, plädoyer 2007, 36.
[127] Zutreffend OLG Braunschweig, NStZ 2013, 593 Rn. 48.
[128] LG Berlin, Urt. v. 27.2.2017 – (535 Ks) 251 Js 52/16 (8/16) UA 42, 61. Die belastende Verwertung dieses Gutachtens ist angesichts der von der Gutachterin bekanntermaßen vertretenen Position (S.o. Fn. 49) wiederum kaum anders als mit kognitiver Dissonanz zu erklären. Dies wird letztlich daran deutlich, dass als Grund angegeben wird, das Gutachten sei lückenhaft, da es sich mit belastenden Indizien nicht ausreichend auseinandergesetzt habe. Dann aber dürfte das Gutachten streng genommen gar nicht herangezogen werden und nicht lediglich die der Erwartung nicht entsprechenden Folgerungen.
[129] Stellungnahme d. GBA S. 6.
[130] Vgl. BGH, StV 1987, 92 (§ 224 Nr. 5), näher Momsen, in: SSW-StGB, § 212 Rn. 5, 7, 8 ff.
[131] BGH, Urt. v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17 – LG Berlin, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=b
gh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=81558&pos=1&an
z=528 (zuletzt abgerufen am 12.3.2018), Rn. 21 ff.; vgl. auch Pressemitteilung v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm
&Datum=2018&Sort=3&nr=81300&pos=0&anz=45 (zuletzt abgerufen am 2.3.2018).
[132] BVerfGE 20, 323; 57, 250; 95, 96; 58, 159.
[133] BVerfG, NJW 2013, 1058, Rn. 54; NJW 1987, 2427; NJW 2004, 207; Eschelbach, in: MAH-Strafverteidigung, 2. Aufl. (2014), § 30 Rn. 107.
[134] Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. (2017) § 15 Rn. 24 ff.; hierzu auch Fischer, in: StGB, 63. Aufl. (2015), § 212 Rn. 12a). So meint Puppe explizit: „Das Verständnis des sog. Willenselements des dolus eventualis als factum brutum, also rein tatsächlicher psychischer Befund, den das Tatgericht anhand beliebiger Indizien, die die Psychologie oder die Lebenserfahrung zur Verfügung stellt, feststellt und dann unter den Begriff des billigenden Inkaufnehmens, sich Abfindens oder der Gleichgültigkeit subsumiert, hat sich in der Praxis nicht bewährt.“ Puppe führt insoweit aus, dass wenn nach ihrer Theorie der Täter schon nicht mit der Verteidigung gehört werde, er habe den Erfolg nicht gewollt und auch nicht gewünscht, obschon er sich gleichwohl um seines Zieles Willen für seine Herbeiführung entschieden habe, warum solle er dann mit eben einer solchen Verteidigung dahingehend gehört werden, dass die Wahrscheinlichkeit der Verknüpfung von Erfolg und Ziel um ein weniges geringer gewesen sei? Vgl. GA 2006, 65 (72).
[135] Prittwitz, in: FS Puppe, 2010, S. 830, bezeichnet sie zutreffend ihrerseits als ungerecht. Die Strafwürdigkeit des hiesigen Verhaltens ist unbestritten. Sie hat aber nicht nur jüngst den Gesetzgeber bei der Pönalisierung illegaler Autorennen auf den Plan gerufen, sondern auch die Maßstäbe in Besprechungen der hier angefochtenen Entscheidung verschoben; so etwa, wenn Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 439 (440) davon sprechen, was den Angeklagten „klar gewesen sein muss“.
[136] Vogel, GA 2006, 386 f.
[137] Roxin, in: FS Rudolphi, 2004, S. 243.
[138] Schünemann, in: FS Hirsch, 1999, S. 363.
[139] Herzberg, NJW 1987, 1461; näher Momsen, in: SSW-StGB, § 212 Rn. 48.
[140] Der Gedankengang wird übernommen von Kubiciel/Hoven, NStZ 2017, 441, die sich auf Jakobs, RW 201, 288 f. beziehen, der in genau diese Richtung argumentiert. Gleiches gilt für die in UA 51 von der Kammer übernommene These Puppes, NStZ 2016, 575 ff.
[141] So BGHSt 22, 80. Näher auch unten VII.4.
[142] Hoven, ZEIT v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/bundesgerichtshof-raser-urteil-berlin/komplettansicht (zuletzt abgerufen am 2.3.2018).
[143] Ausf. Duttge, in: MüKo-StGB, § 15 Rn. 14 ff., 190 ff.; BGHSt 20, 315 (323 ff.); BGH, GSSt 39, 100 ff.; vgl. auch Momsen, in: SSW-StGB, § 15 Rn. 61.
[144] BGH NStZ-RR 2010, 311 ff.; BGH, BeckRS 2013, 01849; Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl., 2009, § 5 Rn. 12; Lohmeyer, NJW 1960, 1798; ausführlich Duttge, in: MüKo-StGB, § 15 Rn. 192.
[145] Duttge, in: MüKo-StGB, § 16 Rn. 190 ff.
[146] Duttge, in: MüKo-StGB, § 15 Rn. 192; Arzt, in: GS Schröder, 1978, S. 11 ff.
[147] Tenckhoff, ZStW 88 (1976), 947 ff.; dazu Duttge, in: MüKo-StGB, § 15 Rn. 192.
[148] Näher http://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/1132680 (zuletzt abgerufen am 31.1.2018).
[149] Vgl. oben II.
[150] Näher Momsen, in: SSW-StGB, § 15 Rn. 17.
[151] Ausf. zu den Schwierigkeiten des forensischen Nachweises und mit umfangr. Nachweisen Momsen, in: SSW-StGB, § 15 Rn. 38 f.
[152] Das wäre nicht einmal dann anders, wenn es sich tatsächlich um „forensische Raritäten“ handeln würde, wie Schneider, in: MüKo-StGB, § 212 Rn. 23a, Fn. 117, annimmt.
[153] Joecks, in: MüKo-StGB, § 15 Rn. 15; Hruschka, JZ 1983, 860; Roxin, AT I, § 12 Rn. 91.
[154] So aber Schneider, in: MüKo-StGB, § 212 Rn. 23a.
[155] Deutliche Kritik daran bei Hans Schultz, Rechtsprechung und Praxis zum Straßenverkehrsrecht in den Jahren 1983–1987, Bern 1990, S. 94.
[156] Die konsequenteste methodische Darstellung findet sich im Lehrbuch von Hruschka, Strafrecht AT, 2. Aufl. (1988), der die von ihm methodisch korrekt als „Simultaneitätsprinzip“ gekennzeichnete zeitliche Dimension der Strafbarkeitsvoraussetzungen zum Ausgangspunkt der Strafbarkeitsvoraussetzungen wählt.
[157] Roxin, AT I, § 12 Rn. 89 ff.
[158] BGHSt 30, 363; NJW 1985, 1035; NStZ 2013, 156; NStZ 2004, 38; NStZ 1987, 20; StV 1984, 420; auf die Vornahme von Gefährdungshandlungen, welche nach der Vorstellung des Täters zumindest in einem unmittelbar räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Tatbestandserfüllung stehen, stellt der BGH, NStZ 2008, 409 ab; vgl. auch BayObLG, NJW 1990, Hoffmann-Holland, in: MüKo-StGB, § 22 Rn. 112; Kudlich/Schuhr, in: SSW-StGB, § 22 Rn. 36 ff.
[159] Hoffmann-Holland, in: MüKo-StGB, § 22 Rn. 111.
[160] BGH, Urt. v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17 – LG Berlin, Rn. 13 ff. http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.
py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=8155
8&pos=1&anz=528 (zuletzt abgerufen am 12.3.2018); vgl. auch die Pressemitteilung v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&
Art=pm&Datum=2018&Sort=3&nr=81300&pos=0&anz=45 (zuletzt abgerufen am 2.3.2018).
[161] Hoven, in LTO v. 10.2.2018, abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/berliner-raserfall-bgh-zeitpunkt-vorsatz-toetung-mord-mittaeterschaft/ (zuletzt abgerufen am 15.12.2018), nunmehr relativiert und differenziert in ZEIT v. 1.3.2018, abrufbar unter: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/bundesgerichtshof-raser-urteil-berlin/komplettansicht (zuletzt abgerufen am 2.3.2018).
[162] Dies zeigt Fischer, ZEIT v. 29.1.2018, aufs Neue sehr überzeugend auf, ungeachtet der teilweise etwas geringer ausfallenden Überzeugungskraft einiger der dort vorgestellten Thesen im Übrigen, vgl. http://meedia.de/2018/01/29/das-sternchen-system-thomas-fischers-zeit-kritische-anmerkungen-zum-medien-tribunal-gegen-dieter-wedel/ (zuletzt abgerufen am 30.1.2018).
[163] Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 253 ff., zeigt die differenzierten Verwendungen des Begriffs auf.
[164] Frommel, in: vorgänge 212 (4/2015), S. 107 ff.; vgl. http://www.humanistische-union.de/nc/publikationen/vorgaenge/online_artikel/online_artikel_detail/back/vorgaenge-212/article/symbolisches-strafrecht/ (zuletzt abgerufen am 18.2.2018).
[165] Dazu Frase/Momsen/O´Malley/Washington, Proportionality of Punishment/Sentencing, Vorträge am 18.9.2017 in Oxford und 6.4.2018 in Frankfurt a.M. (erscheint in Ambos/Duff/Roberts/Weigend (Hrsg.) Foundational Principles and Concepts of Anglo-German Criminal Law and Justice, Cambridge University Press 2018), näher: http://www.department-ambos.uni-goettingen.de/index.php/
anglo-german-dialogue (zuletzt abgerufen am 18.2.2018).
[166] BGH, Urt. v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17 – LG Berlin, Rn. 17 http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=81558&pos
=1&anz=528 (zuletzt abgerufen am 12.3.2018), mit Verweis auf BGH Urt. v. 14.1.2016 – 4 StR 72/15, NStZ 2016, 211 (215); v. 30.4.2014 – 2 StR 383/13, StV 2015, 300(301); v. 22.3.2012 – 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183(186); v. 16.10. 2008 – 4 StR 369/08, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 63.
[167] Ausf. Kahnemann, Thinking, Fast and Slow, 2012; Song Richardson/Atiba Goff, Self-Defense and the Suspicion Heuristic, Iowa Law Review, Vol. 98 (2012), 293 ff., vgl. auch Momsen/Washington, in: FS Eisenberg, 2018, (im Erscheinen), Momsen/Washington in: FS Rogall, 2018 (im Erscheinen); Momsen, KriPoZ 3/2018 (Beitrag zum Lügendetektor erscheint im Juni).
[168] Prittwitz, KriPoZ 2018, 41 ff., 47.
Lieber Carsten,
ich habe das ganze Werk noch nicht vollständig erfasst, daher hier nur – wie schon kurz besprochen – ein Gegeneinwand zum Russisch Roulette-Fall.
Du gehst hier von einem anderen Fall aus als Michael Kubiciel und ich es getan haben. Dein Einwand macht Sinn, wenn die Pistole nach dem Schuss weitergegeben und die Trommel nicht gedreht wird. Dann hast Du natürlich Recht – die Wahrscheinlichkeit verändert sich von zB 1:5 auf 1:4 auf 1:3 etc. Aber: Dreht man die Trommel nach jedem Schuss (auch eine gängige Roulette-Variante), bleiben die Chancen natürlich immer gleich.
Letztlich kommt es mir bei der Argumentation aber auf etwas anderes an. Nehmen wir folgenden Fall: D reicht dem T eine Pistole und sagt ihm, dass von 10 Kammern nur eine geladen ist. T soll auf das Bein des O schießen. Löst sich kein Schuss, so bekommt T 100 €. Verletzt der T den O jedoch, so muss T dem D 100 € zahlen. T schießt auf O und verletzt ihn. Soll T hier einer Bestrafung wegen vorsätzlicher KöV entgehen können, indem er sagt, dass er ganz sicher gewesen sei, dass bei ihm immer alles gut gehe?
Ich meine nein und ich denke, der Berliner Raser-Fall (wohlgemerkt: nicht alle!) liegt ganz ähnlich. Die Verletzung des O war dem T höchst unerwünscht (genau wie die Raser keinen Unfall wollten). Er möchte schließlich die 100 € erhalten. Gleichwohl war ihm bewusst, dass der Erfolgseintritt ausschließlich vom Zufall abhängt, er konnte den Ausgang nicht kontrollieren (oder im Sinne Herzbergs „abschirmen“). Jeder Mensch weiß, dass er auf einen Zufall nicht „ernsthaft vertrauen“, sondern immer nur vage hoffen kann. Um das Gegenteil zu begründen, müsste man den Tätern unterstellen, selbst zu minimalen Einsichten in Vernunft und Logik nicht in der Lage zu sein. Das ist eine durch nichts zu belegende psychologische Spekulation (wir können nun einmal nicht in den Kopf der Menschen gucken und es gibt auch in solchen Fällen keine Emails – es bleibt uns also nur Zuschreibung!), mit der man diesem Tätern jede Fähigkeit zu vernünftigem Denken abspricht.
In meinen Augen ist der Berliner Raser-Fall (und der Frankfurter wohl auch, da kenne ich das Urteil aber nicht genau; der Bremer hingegen nicht) dem vergleichbar. Auch hier weiß der Fahrer, dass es aufgrund seiner Geschwindigkeit und der uneinnehmbaren Kreuzung zwingend zu einem Unfall kommen wird, wenn ein anderer Fahrer die Kreuzung passiert. Auf die konkrete Wahrscheinlichkeit (ob 1:5 oder 1:20 oder, wie hier, gar nicht bestimmbar) kommt es dabei gar nicht an, solange es sich – wie Jakobs sagt – nicht um eine quantité négligeable handelt. Es geht nur um diesen einen Punkt: Der Erfolgseintritt hängt nicht mehr von Fahrfähigkeiten ab, Überschätzung spielt also keine Rolle (auch beim R.-Roulette ist es völlig egal, ob die Person ein guter Schütze ist). Es geht nur um Zufall. Und hier ist kein Raum für „ernsthaftes“ Vertrauen. Erneut: das ist der sehr konkreten Situation im Berliner Raserfall geschuldet – extrem hohe Geschwindigkeit, nicht einsehbare Kreuzung.
Viele liebe Grüße, Elisa