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Nach der Reform ist vor der Reform – Zum Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht

von Prof. Dr. Joachim Renzikowski und Dr. Anja Schmidt

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Abstract
Wenige Bereiche des Besonderen Teils sind vom Gesetzgeber schon so häufig geändert worden wie der 13. Abschnitt über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Kritiker monieren seit der Entkriminalisierung durch die große Strafrechtsreform einen moralisierenden „roll back“. Davon abgesehen führen zumeist punktuelle Änderungen auf längere Sicht immer zu Verwerfungen. Umso erfreulicher ist es, dass sich in den letzten Jahren eine Expertenkommission im Auftrag des BMJV um eine kritische systematische Bestandsaufnahme bemüht hat.

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Die erkennbare Willensbarriere gem. § 177 Abs. 1 StGB

von Prof. Dr. Wolfgang Mitsch 

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Abstract
Mit der Implementierung der kryptischen „Nein heißt Nein“-Formel[1] im neuen § 177 Abs. 1 StGB hat die Gesetzgebung die Strafbarkeit aufgedrängter Sexualität erweitert. In die Rolle des tatbestandsmäßig angegriffenen Opfers gedrängt zu werden setzt keine Nötigung mehr voraus.[2] Strafbar ist bereits jeder sexuelle Übergriff gegen den erkennbaren Willen der betroffenen Person. Dieser neue Maßstab für die Bewertung unerwünschter Sexualhandlungen als Straftat bewahrt den fachlich Interessierten nicht vor Verständnis- und Auslegungsproblemen. Wer – wie der Verfasser – das Interesse theoretisierend in der behaglichen Atmosphäre des universitären Dienstzimmers oder der heimischen Gelehrtenstube ausleben kann, dem hat der Gesetzgeber damit eine Freude bereitet. Praktiker, die an der Front der Strafrechtsanwendung mit der Festlegung des subsumtionsrelevanten Norminhalts und der prozessrechtskonformen Feststellung der zu subsumierenden Tatsachen betraut sind, werden weniger begeistert sein.[3] Enttäuschung bereitet das Gesetz möglicherweise sogar denjenigen, die sich eine spürbare Ausdehnung des Strafrechts und einen korrespondierenden Zuwachs an Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts[4] erhofft haben.[5] Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass nach Ansicht des Verfassers die neue Strafbarkeitsregelung Ungereimtheiten enthält, deren Effekt auf die Reichweite des Strafrechtsschutzes gegen sexuelle Übergriffe ein strafbarkeitseinschränkender ist.

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Intransparente Ermessensausübung, erschwerter Zugang zum Recht und defizitäre Fehlurteilskorrektur

von Prof. Dr. Carsten Momsen 

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Abstract
Die Revisionsgerichte haben die Anforderungen an die Begründung einer Verfahrensrüge in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesteigert. Der vorerst letzte Schritt ist, dass Revisionsführer nicht nur vorliegende rügevernichtende Tatsachen angeben müssen, sondern die Abwesenheit hypothetischer rügevernichtender Tatsachen darzulegen haben, sog. „negative Tatsachen“. In vielen Fällen wird der Revisionsführer angehalten, Rügen nicht aufzusparen, sondern im Verfahren zu widersprechen. Bemerkt er den Verfahrensfehler erst später oder schreibt der Instanzverteidiger nicht die Revision, kommt es faktisch zu einer Beweislastumkehr für die Zulässigkeit. Ob dadurch die immer wieder behauptete Arbeitserleichterung bei den Revisionsgerichten tatsächlich eintritt, muss bezweifelt werden.

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Grenzen des polizeilichen Schusswaffeneinsatzes gegen flüchtende Strafverdächtige – Überlegungen de lege ferenda hinsichtlich präventiver Maßnahmen aus Anlass repressiv-polizeilicher Aufgabenerfüllung

von Prof. Dr. Fredrik Roggan und PK Michael Brösangk

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Abstract
Die Grundproblematik, wie weit Strafverfolgung gehen darf, erfährt eine Zuspitzung durch die Frage, ob Maßnahmen mit repressiver Zielrichtung auch mit einer zumindest konkreten Gefährdung des Lebens eines Straftatverdächtigen verbunden sein dürfen. Eben das ist der Fall, wenn und solange die geltende Rechtslage den Schusswaffengebrauch gegen flüchtende Verdächtige grundsätzlich zulässt. Die Autoren des nachfolgenden Beitrags verneinen diese Frage aus Verhältnismäßigkeitsgründen und machen einen konkreten Vorschlag zur Neuregelung.

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Gesetzentwurf zur Straffreiheit für Fahren ohne Fahrschein

Hier finden Sie folgende Stellungnahmen: 

Öffentliche Anhörung im Rechtsausschuss am 19. Juni 2023: 

Öffentliche Anhörung im Rechtsausschuss am 7. November 2018: 

 

 

 

Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Bundespolizei – Einführung einer Kennzeichnungspflicht

Gesetzentwürfe: 

 

Am 23. Oktober 2018 brachte die Fraktion Die Linke einen Gesetzentwurf zur Einführung der Kennzeichnungspflicht für Bundespolizeibeamte in den Bundestag ein (BT Drs. 19/5178). 

Die gesellschaftliche Haltung gegenüber staatlicher Macht sei in den letzten Jahren mehr und mehr davon abhängig, wie diejenigen, die sie ausüben, gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern auftreten. Insbesondere Einsätze der Bundespolizei in geschlossenen Einheiten, in denen die Beamten volle Einsatzmontur tragen und als Einzelperson nicht mehr identifizierbar seien, machten es dem Bürger schwer, individuelles Fehlverhalten überprüfen zu lassen und entspreche nicht dem Gebot der effektiven Strafverfolgung. Auch die Beamten selbst seien an einer Aufklärung der erhobenen Vorwürfe interessiert. Schließlich hinterlasse jedes Ermittlungsverfahren, das aufgrund mangelnder Identifizierung des Beamten eingestellt werden müsse den Verdacht, die Polizei habe etwas zu vertuschen und beschädige zudem den Glauben an den Rechtsstaat. Auch der EGMR habe bereits in seinem Urteil vom 9. November 2017  – Az. 47274/15 eine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte empfohlen, da das Recht auf effektive Untersuchung von Misshandlungsvorwürfen als Teil des Schutzes von Folter und Misshandlungen zu werten sei. 

Die Fraktion nimmt insbesondere den G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 zum Anlass und fordert eine generelle Kennzeichnungspflicht, die über eine taktische Kennzeichnung hinausgeht. Nach ihrer Vorstellung seien so durch Zeugenaussagen oder durch Auswertung von Bildmaterial die Polizeibeamten eindeutig identifizierbar. Die Identifizierung soll durch eine befugte Stelle innerhalb der Polizei oder Staatsanwaltschaft erfolgen. Eine erhöhte Gefährdung der Beamten, insbesondere in Bezug auf Falschbeschuldigungen, sei nach den Erfahrungen aus mehreren Bundesländern und EU-Staaten nicht zu befürchten. 

Dem Bundespolizeigesetz soll in der Umsetzung ein § 1a hinzugefügt werden, der sich in Abs. 1 mit der Einführung und Durchführung der Kennzeichnung beschäftigt, während Abs. 2 die Dauer der Speicherung regelt: 

„§ 1a – Kennzeichnungspflicht

(1) Bei geschlossenen Einsätzen müssen die Vollzugsbeamtinnen und Vollzugsbeamten der Bundespolizei eine zur Identitätsfeststellung geeignete individuelle Kennung in Form einer höchstens sechsstelligen Ziffernkom- bination deutlich sichtbar auf der Vorder- und Rückseite der Uniform und an beiden Seiten des Helms tragen.

( 2) Die Datensätze, aus denen hervorgeht, welche chiffrierte Kennzeichnung der jeweiligen Polizeivollzugs- beamtin bzw. dem jeweiligen Polizeivollzugsbeamten für den entsprechenden Einsatz zugeteilt wurde, sind nach zwölf Monaten zu löschen, wenn im Zusammenhang mit dem geschlossenen Einsatz keine dienst-, straf- oder zivilrechtlichen Verfahren gegen sie eingeleitet wurden.“

Am 17. September 2020 hat sich der Ausschuss für Inneres und Heimat in seiner Beschlussempfehlung (BT Drs. 19/22660) gegen den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke ausgesprochen. Ein ablehnender Beschluss erging durch den Bundestag schließlich am 23. Juni 2021 ohne weitere Aussprache. 

 

Gesetzentwurf zur Verbesserung der Inneren Sicherheit – Verfahrensbeschleunigungsgesetz und verbesserte Eingriffsgrundlagen der Justiz

Gesetzentwürfe: 

 

Ein Gesetzentwurf der AfD, zur Verbesserung der Inneren Sicherheit und für verbesserte Eingriffsgrundlagen der Justiz, wurde am 19. Oktober 2018 in erster Lesung im Bundestag beraten und im Anschluss zur weiteren Beratung an den federführenden Rechtsausschuss überwiesen. 

Der Entwurf der Fraktion sieht umfangreiche Änderungen im Ausländer-, Straf- und Strafprozessrecht vor. Hiervon verspricht sich die Fraktion eine effizientere Strafverfolgung und einen besseren Schutz vor Straftätern, von denen eine erhöhte Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe. Der Forderungskatalog stieß jedoch bei den anderen Fraktionen auf entschiedene Ablehnung.

Im StGB sollen die Anforderungen an eine verminderte Schuldfähigkeit und an die Strafaussetzung zur Bewährung heraufgesetzt werden. Ebenso soll die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung für die Fälle geschaffen werden, in denen ein Täter nicht durch die Maßregeln der §§ 63, 64 StGB therapierbar und weiterhin gefährlich sei.

Im Strafprozessrecht soll es nach Vorstellung der AfD künftig keine Möglichkeit mehr der Revision geben. Vielmehr soll diese durch eine Annahmeberufung ersetzt werden. Die Qualität der Strafurteile soll durch eine Änderung des GVG gesichert werden,  indem der Tätigkeitsbereich der Richter auf Probe eingeschränkt wird und die Leitung der Hauptverhandlung vor dem LG nur einem Richter mit der entsprechenden Berufserfahrung vorbehalten bleibt. Des Weiteren erfährt der Bereich der Untersuchungshaft durch den Gesetzentwurf eine Erweiterung. Diese soll künftig auch über die Fortdauer von 6 Monaten ausgedehnt werden können, wenn ein Haftgrund der Wiederholungsgefahr vorliegt. Ferner soll es:

  • ein geregeltes Analogieverbot für verbotene Vernehmungsmethoden nach § 136a StPO n.F. geben
  • Maßregelmöglichkeiten im Falle des Fernbleibens eines Zeugens zu einer polizeilichen Vernehmung eingeführt werden und
  • die Regelung des „Deals“ in § 257c StPO a.F. aufgehoben werden. 

Auch vor dem Jugendstrafverfahren macht der Entwurf der AfD keinen Halt. Dieses soll eine Angleichung an das Erwachsenenstrafrecht erfahren, indem für Heranwachsende nur noch ausnahmsweise das Jugendstrafrecht anwendbar sei. Außerdem soll das Jugendstrafrecht nicht mehr zur Anwendung kommen, wenn es sich bei der begangenen Straftat um ein Verbrechen nach allgemeinem Strafrecht handele.

Im Strafvollzugsrecht soll die schuldangemessene Sühne als weitere Vollzugsaufgabe aufgenommen werden. Ferner sollen die Anforderungen an Vollzugslockerung steigen. Hier soll insbesondere die Schwere der Schuld zu berücksichtigen sein und die Vollstreckungsbehörden mit in die Entscheidungen eingebunden werden. 

Die Änderungen im Ausländerrecht sollen nach Vorstellung der AfD dem Zweck dienen, straffällige Asylsuchende ohne Bleiberecht auszuweisen bzw. abzuschieben. So soll beispielsweise im AsylG eine Präventivhaft eingeführt werden, die solang andauern können soll, wie von dem Ausländer eine Gefahr für die Bundesrepublik oder der Allgemeinheit ausgehe. 

Roman Reusch (AfD) beklagte in der Debatte, dass die Strafjustiz nicht mehr in der Lage sei, die innere Sicherheit ausreichend zu erfüllen. So sei es eine „irrsinnige Zumutung für alle Beteiligten“, wenn durch die Revision monate- oder jahrelang geführte Verfahren wieder von vorne verhandelt werden müssten. Ferner sprach sich Reusch für einen Haftgrund für Raub und Messerattacken aus. 

Alex Müller (CDU) kritisierte den Forderungskatalog der AfD. Die Abschaffung der Revision bedeute den „Gang in den Unrechtsstaat“. Die Streichung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht und die Streichung der Resozialisierungsbemühungen der Strafvollzugsanstalten sei auf eine „reine Abschreckung“ ausgerichtet. 

FDP und SPD warfen der AfD vor, sie wolle mit den Änderungen ein „Sonderstrafrecht für Ausländer“ etablieren und strebe eine „Sippenhaft“ an. Jürgen Martens (FDP): „Die familienbezogene Erfassung von Straftätern gab es zuletzt im Dritten Reich.“ 

Auch die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen warfen der AfD mit dem Entwurf einen Angriff auf die Demokratie und den Rechtsstaat vor. Canan Bayram (Die Grünen) kritisierte, dass die AfD in der Vorlage Straf- und Verwaltungsrecht durcheinanderbringe und in Bezug auf die geplanten Änderungen im Jugendstrafrecht und Justizvollzug nicht darstelle, wie sie überhaupt mit den Folgen der Änderungen umgehen wolle.

Am 15. Januar 2020 empfahl der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz in seinem Bericht die Ablehnung des Gesetzentwurfs (BT Drs. 19/10050). Ein entsprechender Beschluss des Bundestages erging am 23. Juni 2021 ohne weitere Aussprache in abschließender Beratung. 

 

 

 

 

Referentenentwurf zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung

Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019: BGBl. I 2019, S. 2128 ff.

Gesetzentwürfe: 

 

Die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wurde am 4. November 2016 im Amtsblatt der Europäischen Union verkündet und trat am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft. 

Sie soll die Effektivität des in der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vorgesehenen Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gewährleisten. Durch eine Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften soll das Vertrauen der Mitgliedstaaten in die jeweilige Strafrechtspflege der anderen Mitgliedstaaten gestärkt und auf diese Weise die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen erleichtert werden. 

Die vorliegende Richtlinie betrifft mit der Prozesskostenhilfe den zweiten Teil der Maßnahme C des Fahrplans und ist bis zum 25. Mai 2019 umzusetzen. Die Strafverteidigervereinigungen haben hierzu bereits ein Policy Paper (Neurodnung der Pflichtverteidigerbestellung) vorgelegt und einen eigenen Regelungsvorschlag unterbreitet. Das Strategiepapier finden Sie hier

Da das nationale Recht noch nicht den Vorgaben der EU Richtlinie entspricht, sieht der Referentenentwurf des BMJV notwenige Anpassungen der StPO und des IRG vor. Die Richtlinie überschneidet sich mit der Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016, die Maßnahmen zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vorsieht, soweit dort ebenfalls das Recht auf Prozesskostenhilfe und die notwendige Verteidigung betroffen ist. Näheres zu dieser Richtlinie finden Sie hier.

 

Um der Richtlinie (EU) 2016/1919 zu entsprechen, sind mehrere Änderungen des § 140 StPO geplant:

  • der Fall der notwendigen Verteidigung soll bereits mit der Vorführung vor einen Richter vorliegen (nicht erst bei Vollstreckung der U-Haft oder vorläufigen Unterbringung)
  • die zeitlichen Beschränkungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO soll gestrichen werden
  • um der Rechtsprechung des EGMR zu entsprechen, soll bei der Schwere der zu erwartenden Strafe ein Fall notwendiger Verteidigung ab einer Straferwartung von mindestens sechs Monaten Freiheitsstrafe gegeben sein
  • Anpassungen hinsichtlich des Zeitpunkts der Verteidigerbestellung und seiner Qualifikation
  • Regelung der Möglichkeit des Verteidigerwechsels und der hierzu erforderlichen Rechtsbehelfe,  für Fälle, in denen dem „Beschuldigten bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers der ersten Stunde aufgrund der besonderen Eilbedürftigkeit nur eine kurze Bedenkzeit eingeräumt werden konnte, um einen Verteidiger seiner Wahl zu bezeichnen“

Hinsichtlich des Zeitpunktes einer Verteidigerbestellung sieht der Entwurf vor, dass eine Verpflichtung künftig regelmäßig vor einer Befragung durch die Polizei, eine andere Strafverfolgungsbehörde oder eine Justizbehörde oder vor der Durchführung einer Gegenüberstellung mit dem Beschuldigten vorzunehmen ist. Eine Eilentscheidungsbefugnis der Staatsanwaltschaft soll die praktische Anwendung erleichtern. Die Qualifikation der Pflichtverteidiger soll dadurch gewährleistet werden, dass Rechtsreferendare hierzu nicht mehr ausgewählt werden dürfen und grundsätzlich nur Fachanwälte für Strafrecht oder Rechtsanwälte zur Auswahl stehen, die gegenüber der Rechtsanwaltskammer ihr Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigungen bekundet haben.

Für den Fall eines Europäischen Haftbefehls soll die notwendige Verteidigung im IRG geregelt werden. Dort soll zeitlich an die Festnahme der gesuchten Person angeknüpft werden. 

Der entsprechende Regierungsentwurf wurde am 12. Juni 2019 veröffentlicht. Danach erfahren die §§ 141 bis 144 StPO die wichtigsten Änderungen: 

  • § 141 Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers
  • § 141a Vernehmungen und Gegenüberstellungen vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers
  • § 142 Zuständigkeit und Bestellungsverfahren
  • § 143 Dauer und Aufhebung der Bestellung
  • § 143a Verteidigerwechsel
  • § 144 Zusätzliche Pflichtverteidiger

Am 11. Oktober 2019 hat die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht (BT Drs. 19/13829). Am 17. Oktober 2019 wurde bereits in erster Lesung über den Entwurf debattiert. Im Anschluss an die Sitzung wurde er gemeinsam mit einem Antrag der FDP-Fraktion „Für eine konsequente Umsetzung der PKH-Richtlinie – Recht auf Verteidigung ab der ersten Stunde vorbehaltlos gewährleisten“ (BT Drs. 19/14036) zwecks weiterer Beratung an den federführenden Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz weitergeleitet. Dort fand am 23. Oktober 2019 eine öffentliche Anhörung statt. Eine Liste der Sachverständigen und deren Stellungnahmen finden Sie hier

Die Experten aus dem Bereich der Strafverteidigung sahen in dem Regierungsentwurf eine Beschneidung der Beschuldigtenrechte und einen „Verschlimmbesserung“ – so Prof. Dr. Holger Matt –  im Vergleich zum Referentenentwurf, der ursprünglich eine behutsame Erweiterung des Systems der Pflichtverteidigung vorgesehen habe. Stephan Schneider von den Strafverteidigervereinigungen sprach sogar von einem Abbau von Verfahrensgarantien für Beschuldigte. Gerade diese seien aber von gesellschaftlichem Interesse und dürften nicht alleine von einem Antrag des Beschuldigten abhängig gemacht werden. Ferner merkte Prof. Dr. Holger Matt an, dass eine frühe Verteidigung des Beschuldigten keine unzuträgliche Verzögerung des Verfahrens zur Folge habe, sondern dieses nicht selten beschleunige. 

Bedenken gegen den Regierungsentwurf bestanden aber auch auf der Ermittlerseite. Generalstaatsanwalt Andreas Heuer betonte, dass der derzeitige Entwurf dem Regelungsgehalt der PKH-Richtlinie widerspreche. Diese müsse im Zusammenhang mit der EU-Richtline 2013/48 betrachtet werden, die allein den Zugang zu einem Rechtsbeistand regele.

Der BDK erwartet bei der Umsetzung des Entwurfs eine nachhaltige Veränderung der polizeilichen und justiziellen Praxis. Welche Folgen dies für die Aufklärung schwerer Straftaten habe, sei derzeit noch nicht abzuschätzen. Eine Vorverlagerung der Pflichtverteidigerbestellung auf den Zeitpunkt der ersten polizeilichen Vernehmung, kehre die bisherige Rechtspraxis um. 

Prof. Dr. Matthias Jahn sah ebenfalls einige Punkte im Entwurf kritisch, begrüßte aber angesichts der bereits abgelaufenen Umsetzungsfrist der EU-Richtlinie die Vorlage. Diese solle mit Nachbesserungen zügig einen Fortgang nehmen. Dabei betonte auch er, dass die Bestellung der Notwendigkeit der Verteidigung zeitlich vorzuverlagern sei. Dies sei in anderen Mitgliedsstaaten, wie beispielsweise in der Schweiz, längst gängige Praxis. Im Übrigen sah er bei den vorgeschlagenen Neuregelungen keinen Verstoß gegen die Richtlinienvorgaben. 

Am 13. November 2019 stimmte der Rechtsausschuss mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen für den Regierungsentwurf. Einen Tag später stand der Entwurf bereits zur Abstimmung im Bundestag. Er wurde mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen in der geänderten Fassung des Rechtsausschusses (BT Drs. 19/15151)  angenommen. Gleichzeitig wurde der Antrag der Fraktion der FDP „Für eine konsequente Umsetzung der PKH-Richtlinie – Recht auf Verteidigung ab der ersten Stunde vorbehaltlos gewährleisten“ (BT Drs. 19/14036) abgelehnt.  

Das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 wurde am 12. Dezember imBundesgesetzblatt verkündet (BGBl. I 2019, S. 2128 ff.) und trat am 13. Dezember 2019 in Kraft. 

 

 

Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren

Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vom 9. Dezember 2019: BGBl I 2019, S. 2146 ff. 

Gesetzentwürfe: 

 

Die Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 sieht Maßnahmen zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren vor und ist bis zum 11. Juni 2019 in nationales Recht umzusetzen. In großen Teilen entspricht das deutsche Jugendstrafverfahrensrecht bereits den Mindeststandards, die die Richtlinie in der EU erreichen möchte. Trotzdem sind neben punktuellen Änderungen auch solche komplexerer Natur erforderlich, um die Spielräume, die die Richtlinie eröffnet, auch einer praxistauglichen Lösung zuzuführen. 

Hierzu schlägt der Referentenentwurf eine Änderung des JGG, der StPO, dem FamFG, dem GKG und dem RVG vor. Zentraler Punkt soll sein, das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand (notwendige Verteidigung) an die Anforderungen der Richtlinie anzupassen. Der Entwurf beschränkt sich allerdings auf einzelne Bestimmungen, um den Besonderheiten des Jugendstrafrechts Rechnung zu tragen, da es Überschneidungen zur Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (nähere Informationen zur Richtlinie finden Sie hier), deren Umsetzung mit einem gesonderten Referentenentwurf zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung verfolgt wird, gibt. Dieser sieht umfassende Änderungen im allgemeinen Strafverfahrensrecht vor, die über die Verweisung in § 2 Abs. 2 JGG ohnehin auch im Jugendstrafrecht Anwendung finden. 

Der Referentenentwurf des BMJV trifft Regelungen, die die Rechtsmittelbeschränkung des § 55 Abs. 1 JGG lockern und den Freiheitsentzug nur noch dann zur Anwendung kommen lassen, wenn der jugendliche Beschuldigte zuvor einen Verteidiger zur Seite hatte. Ebenfalls soll der Einsatz der Jugendgerichtshilfe neu geregelt werden, z.B. zu welchem Zeitpunkt sie zu unterrichten ist und wann von der Teilnahme eines Vertreters der Jugendgerichtshilfe an der Hauptverhandlung abgesehen werden kann. Im Zuge der StPO-Reform (im August 2017) wurde bereits die audiovisuelle Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen Minderjähriger in der StPO geregelt. Diese neugeschaffene Möglichkeit des § 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 lit. a StPO n.F. tritt jedoch erst im Januar 2020 in Kraft, um den Ländern eine Übergangsfrist für die Ausstattung der Dienststellen mit der erforderlichen Technik einzuräumen. Daher soll die audiovisuelle Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung bereits vorher und ohne sachliche Veränderung ins JGG transferiert werden. Außerdem sind kleinerer Änderungen im Rahmen der Informationspflichten und dem Recht auf Anwesenheit von Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertretern bei Untersuchungshandlungen und in der Hauptverhandlung geplant. 

Am 11. Oktober 2019 hat die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht (BT Drs. 19/13837). Er wurde am 17. Oktober 2019 im Bundestag vorgestellt und im Anschluss zwecks weiterer Beratung an den federführenden Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz überwiesen. Dort fand am 21. Oktober 2019 eine öffentliche Anhörung statt. Eine Liste der geladenen Sachverständigen und deren Stellungnahmen finden Sie hier. Die sieben Experten begrüßten zwar den Vorstoß der Regierung, die Vorgaben der EU-Richtlinie 2016/800  umzusetzen. Im Ergebnis befanden sie den Gesetzentwurf aber als zu weitgehend oder nicht weitgehend genug. 

Die staatsanwaltlichen Vertreter bemängelten, dass es dem Entwurf bislang nicht gelinge, die durch die Richtlinie gesetzten Spielräume auch auszunutzen. Statt dessen werde das Jugendstrafverfahren verzögert und formalisiert, so dass der Gesetzentwurf den Grundprinzipien des Jugendstrafverfahrens nicht gerecht werde. Dies bedürfe eine flexiblere Gestaltung und eine Erweiterung des Reaktionsspektrums. Durch die Formalisierung sei vor allem eine Mehrarbeit für die Staatsanwaltschaften, Gerichte und Verteidiger zu besorgen. 

Prof. Dr. Teresia Höynck stellte fest, dass der Regierungsentwurf an einigen Stellen bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zu zurückhaltend sei, so dass fraglich wäre, ob dies den Anforderungen der Richtlinie überhaupt genüge. Eine echte Veränderung der Regelungen sei lediglich in der neuen zeitlichen Konstruktion der Bestellung eines Pflichtverteidigers zu sehen. Dr. Jenny Lederer vom Deutschen Anwaltverein mahnte, dass insbesondere das Kindeswohl vorrangig sei und andere Erwägungen diesem unterzuordnen seien. 

Dr. Toralf Nöding betrachtete den Gesetzentwurf aus der Sicht eines Strafverteidigers und lobte den Gesetzgeber dafür, das Schutzniveau des JGG nicht dort herabgesetzt zu haben, wo die EU-Richtlinie hinter den bisherigen Anforderungen zurückblieb. Trotzdem äußerte es sich kritisch darüber, dass die Verpflichtung zur Bestellung eines Pflichtverteidigers vor der ersten Vernehmung nunmehr ausgehöhlt werde. Auch fehle eine Regelung hinsichtlich der Auswahl des Pflichtverteidigers. Im Gegenzug dazu sah Bernd Holthusen vom Deutschen Jugendinstitut in der vermehrten Anwesenheit von Rechtsanwälten im Jugendverfahren und in der Notwendigkeit einer audiovisuellen Vernehmung die Gefahr der Einflussnahme auf die Kultur und die Atmosphäre des Jugendstrafverfahrens. Des Weiteren befürchtete er, dass dies zu einer erheblichen Verlängerung der Verfahren führen werde. 

Im weiteren Verlauf der Anhörung stellten die Abgeordneten den Sachverständigen Fragen zu Rolle der Jugendgerichtshilfe in den Verfahren, zur Rolle der notwendigen Verteidigung und zu den Vorteilen eines beschleunigten Verfahrens. Außerdem waren die Meinungen der Experten dahingehend gefragt, wo der Schutzbedarf der Jugendlichen verletzt werde. 

Am 13. November 2019 stimmte der Rechtsausschuss mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen für den Regierungsentwurf. Dieser stand am 14. November 2019 bereits im Bundestag zur Abstimmung und wurde gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen in der geänderten Fassung des Rechtsausschusses (BT Drs. 19/15162) angenommen.

Das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vom 9. Dezember 2019 (BGBl I 2019, S. 2146 ff.) wurde am 16. Dezember 2019 im Bundesgesetzblatt verkündet und trat überwiegend am 17. Dezember 2019 in Kraft. 

 

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