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Der Referentenentwurf zur Reform der Ersatzfreiheitsstrafe – mehr Tradition als Fortschritt

von Dr. Frank Wilde

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Abstract
Die Ersatzfreiheitsstrafe (§43 StGB) stellt seit Jahrzehnten ein kriminalpolitisches Dauerthema. Jährlich werden geschätzt 50.000 Menschen inhaftiert, obwohl gegen sie eigentlich nur eine Geldstrafe verhängt wurde. Das Bundesjustizministerium hat einen Referentenentwurf vorgelegt, der eine deutliche Reduzierung der Anwendung der Ersatzfreiheitsstrafe erreichen will. Allerdings dürfte das Ziel mit den vorgeschlagenen Maßnahmen nicht zu erreichen sein. Dies liegt insbesondere daran, weil der Entwurf Armut als Kernproblem der uneinbringlichen Geldstrafe ignoriert. Dadurch wir nicht die Frage gestellt, warum es so viele uneinbringliche Geldstrafe gibt und welche Reformen im Prozess der Verurteilung notwendig wären.Der Entwurf wird in diesem Beitrag dargestellt und kritisch diskutiert. Anschließend wird begründet, warum eine Reform der Ersatzfreiheitsstrafe bei einer Reform der Geldstrafe anfangen muss.

The imprisonment for non-payment (Section 43 of the Criminal Code) has been an ongoing issue in criminal policy for decades. Every year, an estimated 50,000 people are imprisoned even though they have actually sentenced only to a fine. The Federal Ministry of Justice has presented a draft bill that aims to achieve a significant reduction in the use of alternative custodial sentences. However, the proposed measures are unlikely to achieve this goal. This is particularly because the draft ignores poverty as a core problem of irrecoverable fines. As a result, we also fail to address the question of why there are so many uncollectible fines and what reforms would be needed in the sentencing process. The draft is presented and critically discussed in this paper. It then argues why reform of the alternative sanction must begin with reform of the fine.

I. Einleitung

Erstmals seit Beginn der 2000er Jahre beschäftigt sich wieder eine Bundesregierung mit dem seit Jahrzehenten andauernden kriminalpolitischen Problem der Ersatzfreiheitsstrafe. Der Gesetzentwurf des Bundesministeriums für Justiz liegt vor[1] und beinhaltet eine wesentliche Änderung: Der Umrechnungsfaktor von Geld- in Ersatzfreiheitsstrafe soll verändert werden. Aktuell wird ein Tagessatz Geldstrafe durch einen Tag Freiheitsstrafe ersetzt, sofern die Geldstrafe uneinbringlich ist (§ 43 S. 2 StGB). Dieser Maßstab soll so geändert werden, dass zukünftig zwei Tagessätze Geldstrafe durch einen Tag Freiheitsstrafe getilgt werden. Damit halbiert sich die Anzahl der Tagessätze bei der Ersatzfreiheitsstrafe. Das Ministerium folgt dem Vorschlag einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die 2019 ihren Abschlussbericht vorgelegt hatte.[2] Hintergrund ist, dass die Anzahl der Personen, die eine               
(Ersatz-)Freiheitsstrafe verbüßen, obwohl sie eigentlich nur zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, in den letzten Jahrzehnten angestiegen ist.

Der Referentenentwurf benennt als Ziel, eine „substanzielle Reduzierung der zu vollstreckenden Ersatzfreiheitsstrafen“ zu befördern.[3] Im Folgenden wird der Entwurf mit seinen Vorschlägen und Begründungen dargestellt und danach gefragt, inwieweit mit diesen Maßnahmen das Ziel erreicht werden kann. Abschließend werden alternative Vorschläge unterbreitet.

II. Der Referentenentwurf zur Ersatzfreiheitsstrafe (RefE)

Das Wesen der Ersatzfreiheitsstrafe (EFS) ist keineswegs eindeutig. Sie tritt nach § 43 StGB „an die Stelle“ der uneinbringlichen Geldstrafe und wird wie eine Freiheitsstrafe vollstreckt. Gleichzeitig bleibt sie aber immer eine Geldstrafe. Anders als bei einer echten Freiheitsstrafe kann die betroffene Person zu jeder Zeit, also auch nach Antritt der Haft, durch Zahlung die Inhaftierung beenden oder verkürzen. Dies verweist auf die doppelte Funktion der EFS, die der Referentenentwurf gleich zu Beginn betont: „Auch wenn die Ersatzfreiheitsstrafe echte Strafe ist, kein Beugemittel …, ist es ihre zentrale Aufgabe, als Druckmittel eine effektive Durchsetzung der Geldstrafe zu ermöglichen.“[4] Die EFS soll zum einen die „effektive Durchsetzung der Geldstrafe“ ermöglichen, indem allein mit ihrer Androhung erreicht werden soll, dass Personen die Geldstrafe zahlen. Die Zahlung der Geldstrafe kann, sofern Zahlungsfähigkeit besteht, diskret per Mausklick erfolgen. Demgegenüber stellt die Inhaftierung eine andere Dimension von Strafe dar, die jeder, der zahlen kann, vermeiden wird.

Der Entwurf hält aber auch an der zweiten Funktion der EFS fest. Danach wird sie nicht nur angedroht, sondern auch tatsächlich vollstreckt – und das, obwohl zwei Gründe dagegensprechen: Erstens hat das Gericht im Rahmen der Strafzumessung eine Geldstrafe als schuldangemessen befunden und gerade nicht eine Freiheitsstrafe. Ein Vergleich der beiden Sanktionen ergibt: „… nach tatrichterlicher Festlegung der Strafe ist die Freiheitsstrafe gegenüber der Geldstrafe unstreitig das schwerere Übel und damit auch die Ersatzfreiheitsstrafe gegenüber der ursprünglich ausgesprochenen Geldstrafe.“[5] Die EFS ist danach nicht schuldangemessen und beinhaltet ein „Zusatzübel“. Zweitens spricht gegen die EFS, dass sie insbesondere aufgrund ihrer Kürze „zumeist gerade keine resozialisierende Wirkung“ habe.[6]

Trotz dieser Kritikpunkte spricht sich das Bundesministerium nicht für die Abschaffung der EFS aus, wie sie in Politik[7] und Wissenschaft[8] teilweise gefordert wird. Ihr Reformvorhaben liegt in einer Milderung des „Zusatzübels“. Zu diesem Zweck soll der Umrechnungsmaßstab verändert und mit einem Tag Freiheitsstrafe zukünftig zwei Tagessätze der Geldstrafe getilgt werden. Wurden im Urteil 30 Tagessätze verhängt und nicht getilgt, so müssen 15 Tage Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt werden. Die Anzahl der Hafttage halbiert sich damit. Das Strafgefälle soll reduziert und das Strafübel damit stärker an dem der verhängten Geldstrafe ausgerichtet werden.[9] Zugleich wird der Strafvollzug entlastet, für den die hohe Anzahl an Vollstreckungen eine erhebliche Belastung darstellt.

Als begrüßenswerte Auswirkung der Halbierung der Ersatzfreiheitsstrafe sieht der RefE weiter, dass sich gleichzeitig auch die alternativ zu leistende freie gemeinnützige Arbeit halbieren würde.[10] Die Tilgung durch freie Arbeit könnte damit gerade für Personen mit vielfältigen Problemen besser „durchzuhalten“ sein. Hieraus erhofft sich der RefE eine weitere Reduzierung der EFS.

Auch die Kommunikation mit den Verurteilten soll verändert werden. So müssen Vollstreckungsbehörden zukünftig auf die Möglichkeit der Ratenzahlung und freie Arbeit hinweisen.[11] Zudem kann vor Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe die Gerichthilfe eingeschaltet werden, um Ratenzahlung oder freie Arbeit zu fördern.[12]

Als Leitmotiv formuliert der Entwurf: Die Ersatzfreiheitsstrafe erfüllt „… ihren Zweck am besten, wenn sie ihrer Funktion als Druckmittel gerecht und nicht vollstreckt wird.“[13]

III. Kritik am Festhalten an der Ersatzfreiheitsstrafe

Die Bundesregierung will mit der Reform erreichen, dass die Ersatzfreiheitsstrafe möglichst nicht vollstreckt wird, aber ihre wichtige Funktion als Druckmittel beibehält. Kann dies in dieser Form gelingen?

1. Die Ersatzfreiheitsstrafe als Druck- und Beugemittel

Dass die Androhung einer Gefängnisstrafe ein Drohpotential hat, steht außer Frage. Die Frage ist, ob es verhältnismäßig und gerechtfertigt ist, mit einer Freiheitsstrafe die Tilgung einer Geldstrafe zu erzwingen. Der Referentenentwurf beantwortet diese Frage mit dem Verweis auf die Wirksamkeit der EFS. Studien würden zeigen, dass Personen erst bei der Zustellung der Ladung bereit wären zu zahlen. Auch dieses Ergebnis ist einleuchtend. Wenn eine Person mit Geld knapp haushalten muss, wird sie die Zahlung möglicherweise hinausschieben, aber sie wird immer die Zahlung einer Inhaftierung vorziehen. Hieraus lässt sich aber nicht schlussfolgern, dass nur die Androhung der Gefängnisstrafe wirkt. Auch die Androhung der Einschaltung von Gerichtsvollzieher*innen oder Lohnpfändungen erzeugen einen Tilgungsdruck und würde viele Menschen zur Zahlung bewegen (sofern sie zahlen können). Bei Personen, deren Einkommen über der Pfändungsgrenze liegt, gibt es also andere Mittel, die Geldstrafe zwangsweise einzutreiben. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist hier nicht nötig.

Damit zielt das Argument auf den Personenkreis, bei dem nicht gepfändet werden kann. Ist es hier legitim, Pfändungsgrenzen zu umgehen, indem mit dem Gefängnis gedroht wird? Der Rentnerin, die von der Grundsicherung lebt, kann zwangsweise nichts entzogen werden, ebenso nicht dem selbst ernannten Reichsbürger, der von seiner Familie lebt. Kann hier nur die Androhung der Inhaftierung für eine Zahlungsbereitschaft sorgen? Befürworter der EFS sehen, dass das derzeitige Verfahren ohne Ersatzfreiheitsstrafe bei diesem Personenkreis ins Leere laufen würde.[14] Die Staatsanwaltschaft wäre, wie andere Gläubiger, nicht in der Lage, Zahlungen zwangsweise einzuziehen. Jetzt kommt die Ersatzfreiheitsstrafe ins Spiel. Sie erwirkt bei diesem Personenkreis die Zahlungsbereitschaft – häufig in Form der Ratenzahlung. Was ist daran zu beanstanden?

Diese Anwendung der Ersatzfreiheitsstrafe als „Beugemittel“ hat nur Sinn, so der heutige Bundesrichter Dirk von Selle in seiner Monographie Gerechte Geldstrafe, „soweit der Täter die gegen ihn verhängte Geldstrafe überhaupt bezahlen kann. Ihr Einsatz als Erzwingungshaft, ob rechtlich zulässig oder nicht, setzt die Einbringlichkeit der Geldstrafe voraus. Deshalb kann es letztlich dahinstehen, ob die Ersatzfreiheitsstrafe in dieser Funktion tatsächlich unverzichtbar ist. Selbst wenn sie es wäre, wäre es zugleich eine Funktionsbedingung, daß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Täters die äußerste Grenze bildet, die die Geldstrafe nicht übersteigen darf.“[15] 

Die Funktion als Beugemittel hat also ihre Grenze, die sich aus dem Strafzweck der Geldstrafe ergibt. Die Geldstrafe zielt nicht darauf, eine vom Gericht verhängte Geldsumme um jeden Preis einzutreiben, unabhängig davon, ob die betroffene Person dann noch etwas zum Leben hat. Vielmehr soll ein Konsumverzicht erzwungen werden, der eine Denkzettelfunktion hat. Die Vollstreckungsbehörde dürfte also nicht, selbst wenn sie es könnte, das gesamte Einkommen pfänden, sondern müsste der Person einen Lebensunterhalt belassen.

Im aktuellen Verfahren, an dem der RefE auch nichts ändern will, spielt diese Grenze der Belastung jedoch keine entscheidende Rolle. Auch zahlungsunfähige Personen werden bestraft. Ein Indikator hierfür ist, dass trotz des erheblichen Strafgefälles jedes Jahr geschätzt in über 50.000 Verfahren die EFS vollstreckt wird. Welche weiteren Schäden die Überforderung bei Personen anrichtet, die eigentlich nicht zahlen können, es aber aus Angst vor einer Inhaftierung trotzdem tun, ist unbekannt.[16] Die Idee des Bundesjustizministeriums, die EFS hauptsächlich als Druckmittel zu sehen, läuft fehl, weil nicht der Unwillen zur Zahlung der Grund für die EFS ist, sondern die Zahlungsunfähigkeit. Daran wird auch die Halbierung der EFS wenig ändern, weil die zu zahlenden Geldstrafen nicht gleichzeitig halbiert werden. Der Grund für die Inhaftierung, die Zahlungsunfähigkeit, ändert sich nicht.

Demgegenüber behauptet der Gesetzentwurf sehr überraschend, dass eine „… echte Zahlungsunfähigkeit keineswegs regelmäßig ursächlich für die Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafe“ sei.[17] Das Justizministerium bezieht sich dabei auf eine Studie des Kriminologischen Dienstes von Nordrhein-Westfalen, nach der selbst nach dem Haftantritt ein erheblicher Teil der Strafe noch gezahlt wurde.[18] In den in der Untersuchung ausgewerteten 1.254 Verfahren wurden von den bei Haftantritt noch zu tilgenden Tagessätzen 63 % tatsächlich verbüßt. Gut 1/3 der Tagessätze wurde noch gezahlt.[19] Woher kam nun das Geld? Waren die Betroffenen doch zahlungsfähig, wie es der Referentenentwurf behauptet?

Die Studie weist ausdrücklich darauf hin, dass nicht zu überprüfen sei, ob die Personen noch eigenes Geld beschaffen konnten oder ob die Zahlung durch Dritte erfolgte.[20] In 47 Fällen wurde in den Akten ausdrücklich vermerkt, dass Verwandte die Zahlung vorgenommen hätten. Wenn ein junger Mann aus der Haft heraus bei seiner Oma anruft und erzählt, wie schlimm es in der Haft sei, und diese ihn daraufhin auslöst, ist dies kein Beleg für die Zahlungsfähigkeit des Mannes. Im Gegenteil ist es, sofern man den Studien zum betroffenen Personenkreis folgt, die in der Regel in mehr als prekären Lebensverhältnissen leben, höchst unwahrscheinlich, dass diese zu Hause noch 700 € finden. Mit dieser Studie lässt sich also nicht zeigen und Lobitz und Wirth behaupten dies auch nicht, dass die Verurteilten in Wirklichkeit zahlungsfähig seien.[21] Vielmehr zeigt sich, dass ein hoher Vollstreckungsdruck bei Personen, die kein Geld haben, in die falsche Richtung führen kann. Denn wem ist geholfen, wenn Verwandte die Strafe zahlen oder das Kindergeld hierfür verwendet wird? Der Strafzweck der Geldstrafe besteht in einem zeitlich befristeten Konsumverzicht der betroffenen Person. Dass es grundsätzlich ein Problem der Geldstrafe ist, dass andere sie zahlen können, ist richtig. Es sollte dem Rechtsstaat aber nicht egal sein, woher das Geld kommt.[22]

Die oben zitierte Einschätzung, dass eine „echte Zahlungsunfähigkeit“ keineswegs „regelmäßig“ vorliegen würde, widerspricht sämtlichen Studien[23] und Erfahrungen,[24] die zum Personenkreis vorliegen. Dass die Ersatzfreiheitsstrafe die Vollstreckung einer Geldstrafe für die Staatsanwaltschaft erleichtert, steht außer Frage. Die massenhafte Inhaftierung zeigt aber, dass dieses Druckmittel in tausenden von Fällen versagt und in der aktuellen Konstruktion die EFS als Druckmittel nicht davon zu trennen ist, dass sie als echte Strafe regelmäßig zur Anwendung kommt. Der Vorschlag im Referentenentwurf, die Umrechnung zu ändern und damit die Strafe zu halbieren, ändert an dieser Sachlage nichts. Denn die Geldstrafe wird nicht halbiert und damit hat die Änderung keine Auswirkungen auf die Zahlungsunfähigkeit.

2. Die Ersatzfreiheitsstrafe als echte Strafe

Die Ersatzfreiheitsstrafe ist nicht nur ein Druckmittel. Sie ist vielmehr eine „echte Strafe“ und wird vollstreckt wie eine Freiheitsstrafe. Die Kritik an dieser Umwandlung ist alt. Schon in den juristischen Debatten der Kaiserzeit wurde dieses Verfahren als „Klassenjustiz“ problematisiert, weil die Bemittelten die Geldstrafe bezahlen, während die Unbemittelten aufgrund ihrer Armut eine Freiheitsstrafe verbüßen müssen.[25]

Das Bundesministerium für Justiz hält an der Ersatzfreiheitsstrafe als „echter Strafe“ fest, ohne auf die Kritik einzugehen oder sich selbst zu positionieren. Stattdessen zitiert es die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe von 2019, die zu dem Schluss kam, „… auch in den Fällen, in denen tatsächlich Mittellosigkeit vorliege, sei ein Sanktionsverzicht trotz [sic?] der Begehung kriminellen Unrechts nicht gerechtfertigt …“.[26] Eine Auseinandersetzung mit dem grundsätzlichen Problem der Umwandlung erfolgt nicht. Es wird lediglich die Befürchtung formuliert, dass ohne den Tilgungsdruck der EFS die Anzahl der Personen ansteigen würde, die zahlen können, aber nicht wollen. Wie lässt sich aber bei Personen, die nachweislich nicht zahlen können, die Umwandlung einer Geldstrafe in eine (Ersatz-)Freiheitsstrafe und damit das „Zusatzübel“ rechtfertigen?

In der Literatur und Kommentierung findet sich seit Jahrzehnten das klassische Argument für die Ersatzfreiheitsstrafe. „Ein Staat, der sein Recht zu strafen nicht gegenüber jedermann durchsetzen vermag, kapituliert nicht nur vor dem Unrecht: Er setzt kriminogen Kräfte frei.“ In dieser Weise formuliert es der Strafrechtler Herbert Tröndle in den 1970er Jahren: Wenn mittellose Rechtsbrecher straffrei ausgingen, sei dies eine „Klassenjustiz neuer Art“.[27] Die Zuführung eines Strafübels dürfe nicht ausbleiben. In diesem Sinne hat aktuell auch der Strafrechtler Michael Kubiciel die Notwendigkeit der Ersatzfreiheitsstrafe begründet. Normverletzungen, die strukturell folgenlos blieben, bewirken, so Kubiciel, eine schleichende Erosion der Norm. „Androhung und Vollzug von Strafe sichern also die Normgeltung und haben damit auch in Fällen ihre Berechtigung, in denen sich spezialpräventive Ziele kaum erreichen lassen.“[28]

Die Inhaftierung begründet sich nicht in der notwendigen Einwirkung auf die Täterin oder den Täter, sondern in der Wirkung für die Allgemeinheit, wonach Taten nicht ohne Strafe bleiben dürfen. Dies ist jedoch eine verkürzte Problembeschreibung, denn es geht hier nicht nur darum, dass sich spezialpräventive Ziele kaum umsetzen lassen, sondern dass anstelle der vom Gericht verhängten Strafe eine andere und deutlich härtere Sanktion vollstreckt werden soll. Der Strafrechtler Eberhard Schmidt pointierte diesen Punkt in der großen Strafrechtsreform der Bundesrepublik: „Wenn man jemanden, der eine Geldstrafe zu zahlen einfach nicht in der Lage ist, dafür, daß er kein Geld hat, einsperrt, so ist das dasselbe, als wenn man einen zur Freiheitsstrafe Verurteilten, wenn er haftunfähig ist, tötet“.[29]

Lässt sich also der Norm Geltung verschaffen, indem gegen andere Grundsätze verstoßen wird? Ist es legitim, eine Strafe, die mit dem Schuldgrundsatz nicht zu vereinbaren ist, zu vollstrecken, um die Rechtstreue der Bürger*innen zu festigen? Die Strafrechtlerin Tatjana Hörnlebenennt Grenzen: Generalpräventive Begründungen laufen dann Gefahr, gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) zu verstoßen, wenn der „Abschreckungsgedanke unter eindeutiger, grober Mißachtung des Schuldprinzips die Strafzumessung geprägt hat“.[30] Der Vollzug von 24 Stunden Freiheitsentzug, mit der damit verbundenen Einschränkung sämtlicher Grundrechte, übersteigt um ein Vielfaches den für einen Tag erzwungenen Konsumverzicht. Hier lässt sich von einer groben Missachtung des Schuldprinzips sprechen, die sich mit generalpräventiven Zwecken nicht begründen lässt.[31]

Die Ersatzfreiheitsstrafe lässt sich nicht einfach mit der Notwendigkeit begründen, dass auf ein Urteil auch eine Strafe erfolgen muss, denn die in der Strafzumessung als angemessen bewertete Strafe war eine Geldstrafe. Das darüberhinausgehende Zusatzübel der Freiheitsstrafe ahndet etwas, für das die Verurteilte oder den Verurteilten keine Schuld trifft: die Zahlungsunfähigkeit. Strafe ohne Schuld widerspricht aber den Grundsätzen unseres Rechtsstaates.

3. Sanktionsverzicht oder Verstoß gegen die Menschenwürde?

Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die Bundesregierung eine Linderung schaffen will. Das Strafgefälle zwischen Geld- und Ersatzfreiheitsstrafe wird gesenkt. Ein Tagessatz EFS wird zwei Tagessätzen Geldstrafe gleichgesetzt. Das verbundene Strafübel soll „stärker an dem der eigentlichen Strafe (=Geldstrafe) ausgerichtet werden“.[32] Die Formulierung verweist schon darauf, dass die Strafübel von Geld- und Freiheitsstrafe so unterschiedlich sind, dass auch diese Reform das oben beschriebene Problem nicht behebt. Eine Halbierung schafft für die betroffenen Personen und auch für die Justizvollzugsanstalten eine „Linderung“, wird aber voraussichtlich nichts an der hohen Anzahl der vollstreckten Strafen ändern, weil sich, wie oben bereits beschrieben, die Geldstrafe nicht halbiert, so dass das Problem der Zahlungsunfähigkeit unvermindert weiterbesteht. Damit kommt man dem Ziel, die EFS nur als Beugemittel zu verwenden, nicht näher.

Der Entwurf wird dem Problem der Ersatzfreiheitsstrafe damit nicht gerecht. Hier wirkt sich negativ aus sich, dass das Bundesjustizministerium lediglich dem Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe gefolgt ist, der in vielfacher Hinsicht gravierende Mängel aufweist.[33] Stattdessen ist vielmehr das Verfahren in den Blick zu nehmen, welches zu der hohen Anzahl von uneinbringlichen Geldstrafen führt. Dort lässt sich erkennen, dass eine Reform der Ersatzfreiheitsstrafe bei der Geldstrafe anfangen muss. Will man dem Ziel des Entwurfs näherkommen, die Ersatzfreiheitsstrafe weitestgehend zu vermeiden, sind weitere Schritte notwendig.

IV. Mängel und Reformbedarf im aktuellen Verfahren der Geldstrafe

Gemeinhin geht man davon aus, dass das Verfahren der Geldstrafe mit der Einführung der Tagessatzgeldstrafe sozial gerecht funktionieren kann. Die Anzahl der Tagessätze wird nach den Regeln der allgemeinen Strafzumessungsregeln bestimmt und zielt auf gerechten Schuldausgleich. In einem zweiten Schritt wird die Höhe des Tagessatzes anhand der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters bestimmt. Damit soll „eine Opfergleichheit bei denjenigen hergestellt werden, deren Taten im Unrechts- und Schuldgehalt vergleichbar sind“.[34] Doch schaut man sich den Prozess an, so stellt man fest, dass  Armut  nicht  angemessen  berücksichtigt wird, sondern auf verschiedenen Stufen zu einer prinzipiellen Benachteiligung führt. Die hohe Anzahl an uneinbringlichen Geldstrafen, so die These, ist hausgemacht.

1. Ermittlung der wirtschaftlichen Verhältnisse

Zunächst geht man davon aus, dass die Staatsanwaltschaft zur angemessenen Bemessung der Tagessatzhöhe die wirtschaftliche Situation der zu verurteilenden Person kennen muss. Dem ist nicht so. Geldstrafen werden überwiegend im Strafbefehlsverfahren erstellt. Das ist bei der Masse der Fälle für die Staatsanwaltschaften eine ökonomische Vorgehensweise. Laut der Berliner Justizministerin Lena Kreck hat die Staatsanwaltschaft bei Alltagsdelikten pro Verfahren im Durchschnitt acht Minuten Zeit.[35] In München wird ein Strafbefehl aufgrund des Delikts Erschleichen von Leistungen laut Oberstaatsanwalt Udo Gramm „mit einem oder zwei Klicks in fünf Minuten“ erledigt.[36] Ermittlungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen erfolgen in der Regel nicht. Dies belegen sämtliche Studien der letzten Jahrzehnte. Zuletzt hat die Kriminologin Jana Kolsch nach einer Aktenauswertung diese Praxis so zusammengefasst, dass die Tagessätze „ins Blaue hinein“ festgelegt werden:

 „Den Strafverfolgungsbehörden fehlen in den meisten Fällen die für die richtige Bemessung der Geldstrafen notwendigen Informationen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Angeschuldigten. Das Nettoeinkommen, das nach dem Gesetz die Grundlage der Bemessung der Tagessatzhöhe bilden soll (§ 40 Abs. 2 StGB), war in der Stichprobe nur zu 18,8 % aus der Akte ersichtlich; in der Regel standen auch keine anderen Informationen zur Verfügung, aus denen die Staatsanwaltschaften zuverlässig auf die Höhe des Nettoeinkommens hätten schließen können.“[37]

Gerechtfertigt wird diese Praxis mit der Zulässigkeit der Schätzung der Einkünfte (§ 40 Abs. 3 StGB). Das BVerfG hat diese regelhafte Praxis jedoch klar abgelehnt, denn auch eine Schätzung darf nicht auf Mutmaßungen beruhen. Stattdessen müsse gelten: „Grundlagen, auf welche sich die Schätzung stützt, müssen festgestellt und erwiesen sein sowie im Urteil überprüfbar mitgeteilt werden“.[38]

Diese Praxis, bei der der Verurteilte für die Justiz „meist ein unbekanntes Wesen“[39] bleibt, muss geändert werden. Es handelt sich nicht um ein rechtsstaatliches Verfahren, wenn es dem Zufall bzw. der Willkür überlassen bleibt, ob ein Tagessatz mit 10 € oder mit 20 € festgesetzt wird, denn dies bedeutet einen Unterschied von 100 % bei der Summe der Geldstrafe und einen maßgeblichen Unterschied bei der späteren Frage der Uneinbringlichkeit.[40] Der RefE kann hier klar formulieren, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse zu ermitteln sind. Dies wird mehr Aufwand für die Staatsanwaltschaft bedeuten. Aber wenn das Geld für die EFS vorhanden ist,[41] sollte es auch für die Ermittlung einer gerechten Geldstrafe zur Verfügung stehen.

2. Berechnung der Tagessatzhöhe

Doch selbst wenn das Einkommen einer Person bekannt ist, stößt die derzeitige Praxis auf grundlegende Probleme: Wie ist mit Armut umzugehen?[42] Die Höhe des Tagessatzes bestimmt das Gericht „unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters“ (§ 40 Abs. 2 Satz 1 StGB). Dabei soll es dann, so Satz 2, „in der Regel vom Nettoeinkommen“ ausgehen. Hier sind wir am Kern der Frage angekommen, wie eine (sozial) gerechte Geldstrafe ausgestaltet werden kann. Diese soll als Strafübel einen Konsumverzicht erzwingen. Was bedeutet der Entzug des Nettoeinkommens aber bei Personen, die vom Existenzminimum leben: Personen, die arbeitslos sind, niedrige Renten bekommen oder in Teilzeit oder dem Niedriglohnsektor arbeiten? Dies ist ein Personenkreis, der von seinem Nettoeinkommen lebt und es am Ende des Monats verbraucht hat. Der Entzug des Einkommens bewirkt hier keinen Konsumverzicht, sondern einen Verzicht auf die Lebensgrundlagen. Die Justiz fordert, wie Bernd-Dieter Meier es zutreffend beschrieben hat, eine »unmögliche Leistung«, nämlich den Verzicht auf das existentiell Notwendige.[43] Denn die Möglichkeit, die Geldstrafe aus dem Vermögen zu zahlen, ist den Betroffenen in der Regel ebenso wenig möglich wie auf große Teile ihres Einkommens zu verzichten.

Diese besondere Belastung bei den unteren Einkommen und Transferleistungsbeziehern und -bezieherinnen wird aktuell durchaus anerkannt und in der Berechnung der Tagessatzhöhe wird nach unten abgewichen. So wird bspw. bei einem Bezieher von Arbeitslosengeld II ein Tagessatz von 15 € verhängt, obwohl dessen Monatseinkommen (Regelsatz und Miete) schematisch einen Tagessatz von 30 € rechtfertigen würde (900 €/30). Jedoch entsprechen diese 15 € pro Tag genau dem Betrag, der ihm vom Jobcenter pro Tag als Existenzminimum gezahlt wird (Regelsatz). Wie soll der Betroffene darauf verzichten können? Gefordert wird hier nicht ein Konsum-, sondern ein Existenzverzicht. Das Ziel der Opfergleichheit kann nicht erreicht werden. Ein Strafgefälle tritt bereits bei der Geldstrafe auf. Für die Vollstreckung der Geldstrafe bedeutet dies, dass die Uneinbringlichkeit bereits impliziter Teil des Urteils ist.

Der RefE muss die Bemessung der Tagessatzhöhe ändern. Die Höhe des Tagessatzes galt bereits in der großen Strafrechtsreform als das „Kernproblem“.[44] Nach langer Diskussion entschied man sich 1969 für folgende Definition: „Als Tagessatz ist derjenige als Bewertungseinheit gedachte Geldbetrag aufzufassen, dessen Einbuße dem Täter aufgrund seiner erzielbaren Einkünfte, seines verwertbaren Vermögens und seines tatsächlichen Lebenszuschnittes unter Berücksichtigung seiner Unterhalts- und sonstigen angemessenen Zahlungsverpflichtungen sowie seiner persönlichen Verhältnisse im Durchschnitt täglich zuzumuten ist“.[45] Die Einbuße sollte also eine maximale individuelle Strafwirkung haben, aber zumutbar bleiben. Dies würde bedeuten, dass Personen, die an der Armutsgrenze leben, deutlich geringere Geldstrafen bekommen würden. Tagessatzhöhen von 1–3 € wären je nach persönlicher Situation angemessen.

Um dies zu ermöglichen, muss der Bezug zum „Nettoeinkommen“ im § 40 Abs. 2 S. 2 StGB gestrichen werden und in der Begründung des Entwurfs eine klare Bekundung des Gesetzgebers im obigen Sinne der maximal zumutbaren Einbuße formuliert werden.[46]

3. Anhörung und anwaltliche Vertretung

Das Strafbefehlsverfahren ist aus Sicht der Staatsanwaltschaft und der Gerichte eine Möglichkeit, mit der hohen Anzahl der Fälle effizient umzugehen. Als rechtsstaatliches Verfahren wirft es aber Fragen auf.[47] Aktuell kann eine Person, ohne etwas von dem Verfahren verstanden und zu diesem beigetragen zu haben, verurteilt werden und am Ende im Strafvollzug landen. Der Strafbefehl muss nur zugestellt werden und wird nach zwei Wochen rechtskräftig. Der Journalist Ronen Steinke hat in seinen Reportagen aus den Gerichtssälen eindrücklich belegt, dass der betroffene Personenkreis aufgrund von Suchterkrankungen, psychischen Störungen oder Sprachbarrieren oftmals nicht in der Lage ist, dem Verfahren zu folgen und seine Rechte wahrzunehmen.[48] Ein Rechtsbeistand steht ihnen nicht automatisch zu. Bezahlen können sie ihn nicht. Auch beim Übergang von der Geld- in die Freiheitsstrafe ist keine persönliche Anhörung vorgesehen.

Auch an dieser Stelle sind Reformen notwendig: Die Frist von zwei Wochen ist viel zu kurz, um eine Rechtsberatung aufzusuchen und die Entscheidung über einen Widerspruch zu fällen. Zweitens bedarf es flächendeckend eines Angebots an Rechtsberatungsstellen, die für einkommensschwache Personen kostenfrei sind. Drittens ist sicherzustellen, dass die Person das Verfahren auch verstanden hat. Das schwedische Modell könnte hier Vorbild sein. Hier ist der Strafbefehl von der Zustimmung des Angeklagten abhängig.[49]

4. Geldstrafe bleibt Geldstrafe – das schwedische Modell

Diese ersten drei Punkte betreffen Anforderungen an ein sozial gerechtes und angemessen rechtsstaatliches Verfahren, an dessen Ende eine Geldstrafe steht, die den Strafzweck erreichen kann und einbringlich ist. Die Möglichkeit der Ratenzahlung (§ 42 StGB) bietet Tilgungsperspektiven für Geldstrafen mit hohen Tagessatzanzahlen. Eine Sanktionsalternative wie die freie Arbeit ist prinzipiell nicht nötig[50] und auch die Ersatzfreiheitsstrafe ist nicht notwendig. Dabei wäre es unbedenklich, die EFS beizubehalten, sofern sie, wie im schwedischen Modell, die absolute Ausnahme bleibt. Schweden folgt der Maxime, wonach, wenn eine Geldstrafe verhängt wurde, auch nur eine Geldstrafe vollstreckt werden kann.[51] Sind Personen aktuell nicht zahlungsfähig, wird die Vollstreckung zurückgestellt. Bleiben Personen auch nach fünf Jahren zahlungsunfähig, wird von einer weiteren Vollstreckung abgesehen. Nach Auskunft der zuständigen Behörde wurden im Jahr 2020 ca. 40% der Geldstrafen auf diesem Wege eingestellt. Nur in ca. 10% dieser eingestellten Fälle wurde teilweise gezahlt. Bei jeder dritten Geldstrafe findet am Ende also keine Tilgung statt. Dies verweist darauf, wie groß das Problem der Zahlungsunfähigkeit ist.[52] Andererseits macht Schweden vor, dass man auch in dieser Situation dem Grundsatz Geldstrafe bleibt Geldstrafe treu bleiben kann, ohne dass der Rechtsstaat in Gefahr gerät. Die Verurteilung und die jahrelange finanzielle Kontrolle sind Strafe genug. Denn die EFS kommt nur in einzelnen Fällen zur Anwendung (unter 20 Fälle pro Jahr). Bei diesen muss anders als in Deutschland eine Anhörung vor Gericht stattfinden.

Für deutsche Verhältnisse klingt dies wie eine Revolution, gilt hier doch, dass jeder Tagessatz vollstreckt werden muss.[53] Ansonsten droht das Strafrecht „seiner Funktion der Verhaltenssteuerung und des Rechtsgüterschutzes nicht mehr gerecht“ werden zu können.[54] Aber gilt dies für alle? Über 50 % der Strafverfahren werden von der Staatsanwaltschaft im Vorfeld bereits eingestellt. Zwei Drittel der Freiheitsstrafen werden zur Bewährung ausgesetzt. Und bei der Geldstrafe: Aktuell ist es erwünscht, dass Freunde oder Verwandte Inhaftierte auslösen. Es wird akzeptiert, wenn der Freiheitsfond öffentlich Gelder sammelt, um Gefangene zu befreien. Es ist legal, wenn ein Manager sich die gegen ihn gerichtete Geldstrafe offiziell (mit Begründung fürs Finanzamt) von seinem Arbeitgeber zahlen lässt.[55] Gleichzeitig soll der Rechtsstaat in Gefahr sein, wenn gegen einen obdachlosen Mann mit offenem Fuß, der wegen Ladendiebstahls mit einem Wert unter 20 € verurteilt wurde, die Geldstrafe nicht ganz vollstreckt werden kann?

Bei den einen wird akzeptiert, dass keine Strafwirkung erfolgt, weil man diese nicht erzwingen kann.[56] Bei letzterem wird sogar eine härtere Strafe vollstreckt, weil man es kann und immer schon so gemacht hat. Die Annahme die Abkehr von der traditionellen Praxis würde zu einem Flächenbrand führen, ist widerlegt. Schweden macht seit Jahrzehnten vor, dass es anders geht.[57]

5. Statistische Materialien

Zuletzt: Obwohl die Geldstrafe seit fast 50 Jahren mehr als 80 % unserer Strafen ausmacht, herrscht ein erheblicher Wissensmangel vor. Auf die einfache Frage, wie Geldstrafen getilgt werden, gibt es keine Antwort. Wie viele Tagessätze werden gezahlt oder in Haft verbüßt? Hierüber gibt es keine offiziellen Statistiken. Damit lassen sich auch keine Entwicklungen nachvollziehen. Lediglich die Anzahl der Personen, die freie Arbeit leisten, und die dadurch getilgten Tagessätze werden veröffentlicht.[58] Hier muss eine Änderung erfolgen, die technisch auch keinen Aufwand bedeutet, weil die Daten bereits digital erfasst werden.

V. Schluss

Indem man die unteren Einkommensschichten härter bestraft, sichert man nicht den Rechtsfrieden. Vielmehr ist die Ersatzfreiheitsstrafe ein dauerhafter Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und gegen die Menschenwürde von einkommensschwachen Personen. Sie verstärkt das Misstrauen in den Rechtsstaat und dessen Grundsatz, wonach vor dem Gesetz alle gleich sind. Das Ziel, diese „Freiheitsstrafe für Arme“ zumindest faktisch abzuschaffen, ist richtig. Der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums greift aber viel zu kurz. Mit der Halbierung  der  Ersatzfreiheitsstrafe  wird  zutreffend  von einer Milderung der Ungleichbehandlung gesprochen. An der Anzahl der Personen, die inhaftiert werden, obwohl sie zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, wird sich vermutlich nichts ändern.[59] Dies sollte einer sozial-liberalen Fortschrittskoalition nicht genügen. Möglich und notwendig ist vielmehr für mehr soziale Gerechtigkeit im Strafrecht zu sorgen. Einige Maßnahmen hierfür wurden vorgeschlagen.

 

[1]      BMJ 2022, Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz. Entwurf eines Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts, online abrufbar unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Sanktionsrecht.html (zuletzt abgerufen am 6.9.2022)
[2]      Bund-Länder-Arbeitsgruppe 2019 (unveröffentlicht), online abrufbar unter: https://fragdenstaat.de/blog/2021/12/03/fahren-ohne-fahrschein/ (zuletzt abgerufen am 6.9.2022).
[3]      RefE, S. 1.
[4]      RefE, S. 9.
[5]      RefE, S. 39. Selbst gegenüber der Freiheitsstrafe ist sie die „härtere Sanktion“, weil eine Aussetzung zur Bewährung nicht möglich ist (ebd. S. 40). „Viele der mit der Freiheitsentziehung verbundenen Einschränkungen und Unannehmlichkeiten – wie etwa die zwangsweise Unterbrechung der bisherigen Lebensgewohnheiten, die Sorge vor einer stigmatisierenden Wirkung des Freiheitsentzugs und der Eintritt in ein ungewisses, womöglich sogar als bedrohlich empfundenes Umfeld – treten bereits mit dem Antritt einer Ersatzfreiheitsstrafe ein“ (ebd. S. 43).
[6]      RefE, S. 10.
[7]      Gesetzentwurf der Fraktion Die LINKE: BT-Drs. 19/1689.
[8]      Zuletzt Dünkel, NK 2022, 253.
[9]      RefE, S. 37.
[10]    RefE, S. 44.
[11]    RefE, S. 37.
[12]    RefE, S. 38.
[13]    RefE, S. 10.
[14]    Z.B. Rebmann 2019, Stellungnahme,  online abrufbar unter: https://kripoz.de/wp-content/uploads/2019/04/stellungnahme-rebmann-ersatzfreiheitsstrafe.pdf (zuletzt abgerufen am 6.9.2022).
[15]    Selle, Gerechte Geldstrafe, 1997, S. 98.
[16]    Die Anzahl der Personen, die darüber hinaus aufgrund der Angst vor einer Inhaftierung auf weit mehr verzichten als ihre Konsummittel, dürfte erheblich größer sein.
[17]    RefE, S. 9.
[18]    Lobitz/Wirth, Der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe in Nordrhein-Westfalen, 2018, online abrufbar unter: https://fragdenstaat.de/dokumente/142091-evaluation-ersatzfreiheitsstrafe-nrw/ (zuletzt abgerufen am 6.9.2022).
[19]    Von den 74.836 zu tilgenden Tagessätzen wurden 47.458 in Haft verbüßt (ebd., S. 18). Diese Zahl wird vom RefE nicht verwendet.  Dieser bezieht sich auf die Anzahl der Verfahren. Hier dreht sich das Verhältnis um: In 2/3 der Verfahren findet eine vorzeitige Auslösung statt (ebd. S. 17). Allerdings werden auch in diesen Fällen durchschnittlich 46 % der Tagessätze verbüßt. In der Studie von Bögelein et al. kommt zu einem anderen Ergebnis: Hier können sich weniger als ein Drittel vorzeitig auslösen (Bögelein/Graaf/Geisler, FS 2021, 59 [62]).
[20]    A.a.O., S. 20.
[21]    Von einer evidenzbasierten Kriminalpolitik sollte man einen korrekten Umgang mit wissenschaftlichen Studien verlangen dürfen.
[22]    Die Initiative „Freiheitsfond“, die ganz öffentlich Gelder sammelt und mit diesen Gefangene „freikauft“, indem sie ihre Strafen bezahlt, führt in dieser Hinsicht gerade den staatlichen Strafanspruch aufs äußerste vor. Mit der Vollstreckung der Geldstrafe wird, wenn Fremde sie zahlen, kein Strafzweck mehr verbunden, sondern lediglich wie bei einem Inkassounternehmen Geld eingetrieben (online abrufbar unter: https://www.freiheitsfonds.de). Nach Rechtsprechung des BGH erfüllt die Bezahlung einer Geldstrafe – unmittelbar oder mittelbar – aus dem Vermögen eines Dritten nicht den Tatbestand der Strafvereitelung, denn die Vollstreckungsbehörde habe die Zahlung der Geldstrafe durchzusetzen; nicht durchsetzbar sei dagegen die „persönliche Betroffenheit“. Sie könne deshalb auch nicht durch Zahlung von Fremden vereitelt werden (BGH, Urt. v. 7.11.1990 – 2 StR 439/90, online abrufbar unter: https://openjur.de/u/203890.html [zuletzt abgerufen am 6.9.2022]). Ronen Steinke zitiert diesbezüglich einen Rechtsanwalt, der die geltende Gesetzeslage so zusammenfasst: „Der Staat verlangt nicht, dass es wehtut. Das kann er gar nicht verlangen.“ (Steinke, Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich, 2022, S. 137).
[23]    Seit den 1980er Jahren gibt es keine Studie, die zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, als dass es sich bei den ESFlern um Personen handelt, die in der sozialen Randständigkeit leben (zuletzt Bögelein/Graaff/Geisler, S. 59 ff.).
[24]    Man lese hierzu den Bericht des JVA Leiters Dr. Meyer-Odewalds zum Personenkreis der EFSler: 40-50 % ohne festen Wohnsitz, 60-70 % mit langjähriger Alkohol- und Drogenproblematik, oftmals psychisch erkrankt, die meisten in einem desolaten gesundheitlichen Zustand (Meyer-Odewald, Stellungnahme, 2019, online abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/633058/e43f3ef7d61213935bbdc632c63e2dd3/meyer-odewald-data.pdf [zuletzt abgerufen am 6.9.2022]).
[25]    Vgl. Wilde, Armut und Strafe, 2016, S. 44 ff.
[26]    RefE, S. 9.
[27]    Tröndle, Die Geldstrafe in der Praxis und Probleme ihrer Durchsetzung, ZStW 1974, 569.
[28]    Kubiciel, Abschaffung wäre keine Alternative, online abrufbar unter
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ersatzfreiheitsstrafe-bmj-referentenentwurf-reform-sanktionenrecht-geldstrafe-halbierung-tagessatz/ (zuletzt abgerufen am 6.9.2022).
[29]    BMJ, Materialien I, 1954, S. 22; ebenso Zipf, Die Geldstrafe, 1966, S. 34
[30]    Hörnle, in: Schumann, Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat 2010, S. 105 (117).
[31]    So bereits Zipf, S. 59 f.
[32]    RefE, S. 12.
[33]    Vgl. hierzu Bögelein NK 2022, 205 (206 ff.).
[34]    BVerfGE – 2 BvR 67/15, Rn. 18.
[35]    Diskussionsveranstaltung am 25.4.2022 in Berlin, online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=AA__Ruzt51E (zuletzt abgerufen am 6.9.2022).
[36]    Deutscher Bundestag, Wortprotokoll der 25. Sitzung am 7.11.2018, online abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/635546/553033325326fab6c15acbad377325e2/wortprotokoll-data.pdf (zuletzt abgerufen am 6.9.2022).
[37]    Kolsch, online abrufbar unter: https://www.jura.uni-hannover.de/de/forschung/forschungsbereiche/einzelansicht/projects/soziooekonomische-ungleichheit-im-strafverfahren/ (zuletzt abgerufen am 6.9.2022).
[38]    BVerfGE – 2 BvR 67/15, Rn. 22, online abrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2015/06/rk20150601_2bvr006715.html (zuletzt abgerufen am 6.9.2022).
[39]    Hennig, BewHi 1999, 298 (302).
[40]    In der Studie von Mitali Nagrecha und Nicole Bögelein ist bei Bezieher*innen von ALG II eine Spanne von 7 bis 20 € in einem Gerichtsbezirk dokumentiert. Dabei haben diese im Prinzip alle die gleichen Leistungen zur Verfügung (Nagrecha/Bögelein, KrimOJ 2019, 267 (276), online abrufbar unter: https://doi.org/10.18716/ojs/krimoj/2019.2.11 [zuletzt abgerufen am 6.9.2022]).
[41]    Die Vollstreckung der EFS kostet jährlich 200 Millionen Euro. Hötte, Ersatzfreiheitsstrafen, 2018, online abrufbar unter: https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/ersatzfreiheitsstrafen-100.html (zuletzt abgerufen am 6.9.2022).
[42]    Ausführlich hierzu: Wilde, MschrKrim 2015, 348. Dass dies kein neues Thema ist, lässt sich auch schon bei Kurt Tucholsky im Jahr 1929 nachlesen, online abrufbar unter: http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1929/Die+Geldstrafe (zuletzt abgerufen am 6.9.2022).
[43]    Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2009, S. 61.
[44]    Vgl. hierzu auch ausführlich Selle, a.a.O.
[45]    BT-Drs. 5/4095, S. 20.
[46]    Zur Gesetzgebungsgeschichte und der Entscheidung fürs Nettoeinkommensprinzip vgl. ausführlich Wilde, Armut und Strafe, 2016, S. 74 ff. Das zentrale Argument für das Nettoeinkommensprinzip bezieht sich, gestern wie heute, auf die Sorge vor der Wirkung von geringen Geldstrafensummen. Franz Streng spricht bspw. davon, dass ein Abgehen vom Nettoeinkommensprinzip zur Folge hätte, dass „für Täter mit geringem Einkommen die Geldstrafe nur noch eine symbolische Bestrafung ohne nennenswerte Strafwirkung bedeuten würde“ (Streng, ZStW 1999, 827 [847]). Aber wie soll eine Geldstrafe, die sich der tatsächlichen Leistungsfähigkeit anpasst und den Strafzweck im Auge hat, zu gering sein? Auch gegen generalpräventive Bedenken, wonach die Geldstrafe auf jeden Fall eine bestimmte Höhe erreichen müsse, hatte bereits in der Weimarer Zeit Gustav Radbruch argumentiert: Die abschreckende Wirkung der Geldstrafe auf Dritte kann sich nicht an den Vermögensverhältnissen dieser Dritten oder an denen der Allgemeinheit orientieren, sondern nur an den wirtschaftlichen Verhältnissen des Verurteilten. Die Wirkung auf Dritte ergibt sich vielmehr daraus, dass diese ein auf ihre Verhältnisse abgestimmtes Strafmaß fürchten müssen, Radbruch, JW 1931, 2432; ebs. Selle, S. 133 ff.
[47]    Vgl. Blessing/Loyola Daiquie, Ohne Anhörung ins Gefängnis, Verfassungsblog v. 24.1.2022, online abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/ohne-anhorung-ins-gefangnis/ (zuletzt abgerufen qm 6.9.2022).
[48]    Steinke, a.a.O.
[49]    Bögelein/Wilde/Holmgren, MschrKrim 2022, 102 (108).
[50]    Änderungsvorschläge zur freien Arbeit vgl. Wilde, NK 2017, 205.‘
[51]    Bögelein et al., S. 108 f.
[52]    Dabei ist zu berücksichtigen, dass die schwedischen Vollstreckungsbehörden sehr viel weitreichendere Befugnisse haben, sich über die finanzielle Situation der Personen zu erkundigen (Bögelein et al., S. 109).
[53]    Selbst die Härtefallregelung nach § 459f StPO ist so eng ausgelegt, dass sie in der Praxis keine Bedeutung hat.
[54]    RefE, S. 10.
[55]    Steinke, S. 137.
[56]    Vgl. Fußnote 22.
[57]    Dass Schweden hier eine Kehrtwende gemacht hätte, wie es der Justizminister Buschmann teilweise behauptet hat, ist nicht richtig. Die Gesetzesänderung von 2021 ändert ausdrücklich nichts an der Leitlinie, dass bei Zahlungsunfähigkeit die EFS nicht vollstreckt wird (vgl. Bögelein et al., S. 110)
[58]    Destatis Fachserie 10 – 2.6. Hier ließen sich auch die Daten bezüglich Zahlung und EFS anfügen.
[59]    Die Anzahl könnte sich mit den aktuell steigenden Verbraucherpreisen, die insbesondere die unteren Einkommensschichten trifft, sogar noch erhöhen.

 

 

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