Effektivere und praxistauglichere Ausgestaltung des Strafverfahrens? Was von der großen StPO-Reform übriggeblieben ist

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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Abstract
Am 24.8.2017 ist das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens in Kraft getreten. Dieses beinhaltet nicht nur den – im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens stetig „geschrumpften“ – Entwurf des gleichnamigen Gesetzes, sondern vereint diesen mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs, des Jugendgerichtsgesetzes, der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze. Zudem sind – verfassungsrechtlich fragwürdig – nach der ersten Lesung im Bundestag Vorschriften zur Einführung der sog. Quellen-Telekommunikationsüberwachung und der Online-Durchsuchung hinzugekommen, die nun ebenfalls mit dem Gesetz in Kraft getreten sind

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Aufhebung des § 219a StGB – Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft

Gesetz zur Aufhebung des Verbots der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch (§ 219a StGB), zur Änderung des Heilmittelwerbegesetzes, zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch und zur Änderung des Gesetzes zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen vom 11. Juli 2022: BGBl. I 2022, S. 1082 ff.

Gesetzentwürfe: 

 

Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann kündigte bereits kurz nach seinem Amtsantritt an, einen Entwurf zur Aufhebung des § 219a StGB auf den Weg bringen zu wollen. Das BMJ veröffentlichte am 25. Januar 2022 einen entsprechenden Referentenentwurf, der gleichzeitig zwecks Stellungnahmen an die Länder und Verbände geschickt wurde.

Die Aufhebung des § 219a StGB soll betroffenen Frauen die Möglichkeit eröffnen, sich auch außerhalb von persönlichen Beratungsgesprächen über einen Schwangerschaftsabbruch informieren zu können und zwar direkt bei den Ärztinnen und Ärzten, die einen solchen Eingriff vornehmen. Den betroffenen Medizinern soll die Unterstützung ihrer Patientinnen ermöglicht werden, ohne dass sie einen Strafverfolgung befürchten müssen. Trotz der Reform des § 219a StGB im Jahr 2019 sei dies immer noch nicht gewährleistet. 

Die ersatzlose Aufhebung des § 219a StGB sei mit der grundrechtlichen Schutzpflicht des Gesetzgebers für ungeborenes Leben durchaus vereinbar. Der Straftatbestand sei „kein tragender Bestandteil des danach gebotenen Schutzkonzepts, dem der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs Rechnung zu tragen“ habe. Dies ergebe sich schon daraus, dass das BVerfG in seinen Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch § 219a StGB nicht erwähne. 

Die bislang immer wieder geäußerte Gefahr unsachlicher und anpreisender Werbung für den Schwangerschaftsabbruch sieht der Referentenentwurf aufgrund bestehender strafrechtlicher und berufsrechtlicher Regelungen (§ 27 Abs. 3 der Berufsordnungen der Landesärztekammern, § 111 StGB – Öffentliche Aufforderung zu Straftaten, § 140 StGB – Belohnung und Billigung von Straftaten) nicht. Damit sei „ausreichend sichergestellt, dass die Information über den Schwangerschaftsabbruch nicht in einer Weise erfolgt, welche die Entscheidungsfreiheit der Frau beeinträchtigt, in eine bestimmte Richtung lenkt oder gar Schwangerschaftsabbrüche kommerzialisiert“. Ferner zeige sich bereits eine alleinige Wirksamkeit des bestehenden Beratungskonzepts zum Schutz ungeborenen Lebens in den rückläufigen Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche seit 1996. 

Dr. Marco Buschmann erklärte dazu: 

„Frauen, die einen Abbruch ihrer Schwangerschaft erwägen, befinden sich in einer schwierigen Lebenssituation. Sie wollen sich informieren und suchen Rat zu Methoden und zu möglichen Risiken. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass ausgerechnet Ärztinnen und Ärzte, die selbst Schwangerschaftsabbrüche vornehmen und damit am besten sachlich informieren können, nach der derzeitigen Rechtslage eine Strafverfolgung befürchten müssen. Das passt nicht in unsere Zeit. Sachliche Information von Ärztinnen und Ärzten über einen Schwangerschaftsabbruch sollen daher nicht länger strafbar sein. So ermöglichen wir ratsuchenden Frauen die bestmögliche Information auch außerhalb eines persönlichen Beratungsgesprächs und geben Ärztinnen und Ärzten Rechtssicherheit. Klar ist auch: Anpreisende Werbung bleibt selbstverständlich verboten.“

Eine Übersicht über die Stellungnahmen der Länder und Verbände finden Sie hier

Am 9. März 2022 hat das Bundeskabinett den Regierungsentwurf  auf den Weg gebracht. Im Unterschied zum Referentenentwurf enthält die Begründung nunmehr keine Ausführungen mehr zu den §§ 111 und 140 StGB. Die Union lehnt den Entwurf ab und brachte am 15. März 2022 einen Antrag in den Bundestag ein, das Interessen der Frauen zu stärken und den Schutz des ungeborenen Kindes beizubehalten (BT Drs. 20/1017). § 219a StGB solle vielmehr modifiziert werden. Ärztinnen und Ärzte sowie entsprechende Einrichtungen sollen auf ihrer Internetseite wertungsfrei über die von ihnen angewendete Methoden bei einem Schwangerschaftsabbruch informieren dürfen. Es sollte bspw. aber auch die Möglichkeit für die Kostenübernahme ärztlich verordneter Verhütungsmittel geben. Eine Streichung des § 219a StGB sei zum Schutz des ungeborenen Lebens nicht angezeigt. Auch eine Rechtsunsicherheit für Ärztinnen und Ärzte könne die Union nicht sehen. Die geltende Rechtslage sei „unmissverständlich und einfach einzuhalten“. Vielmehr dürfe es auch nicht zu mehr Rechtssicherheit führen, „wenn die Vorschrift des § 219a StGB gestrichen, gleichzeitig aber die irreführende Werbung nach dem Heilmittelwerbegesetz unter Strafe gestellt wird. Denn gerade dann wird streitig werden, ob die Werbung irreführend ist.“ Die rein berufsrechtlichen Regelungen seien allein nicht ausreichend: „Diese berufsrechtlichen Regelungen genügen nicht den Vorgaben des BVerfG, wonach der Staat deutlich machen muss, dass ein Schwangerschaftsabbruch keine medizinische Dienstleistung wie jede andere ist. Denn beim berufsrechtlichen Werbeverbot handelt es sich außerdem um Standesrecht der Ärzte, das diese in jedem Bundesland selbständig abändern können. Zudem ist die Rechtsdurchsetzung in der Regel schwieriger. Das verfassungsrechtlich geforderte Schutzkonzept für das ungeborene Leben gebietet es, dass der demokratische Gesetzgeber selbst eine klar erkennbare „rote Linie“ gegen die Werbung für Abtreibungen zieht. Er kann diese Aufgabe nicht auf den ärztlichen Berufsstand delegieren.“ 

Am 3. Mai 2022 hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf mit der Einstufung als „besonders eilbedürftig“ in den Bundesrat eingebracht. Bereits am 13. Mai 2o22 wurde der Entwurf zusammen mit dem Antrag der CDU/CSU und dem Antrag der Fraktion Die Linke in erster Lesung im Bundestag beraten und im Anschluss an den federführenden Rechtsausschuss überwiesen. Dort fand am 18. Mai 2022 eine öffentlichen Anhörung statt. Eine Liste der Sachverständigen und deren Stellungnahmen finden Sie hier

Die Expert*innen sprachen sich mehrheitlich für die geplante Abschaffung des § 219a StGB aus. Kristina Hänel betonte, dass sie keinen guten Grund sehe, ungewollt schwangeren Frauen Informationen zu einem Schwangerschaftsabbruch vorzuenthalten. § 219a StGB sei mit dafür verantwortlich, dass die Versorgungslage bei Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland immer schlechter werde. Auch Monika Börding, Bundesvorsitzende des Bundesverbandes pro familia, machte die Wichtigkeit der Streichung des § 219a StGB deutlich. Er verletze die Informationsrechte von Betroffenen, Ärztinnen und Ärzten. Letztere sähen sich bei einer Abschaffung auch nicht mehr der Anzeige von Gegner*innen der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung ausgesetzt. Dieser erste Schritt reiche jedoch noch nicht aus. Dem stimmte auch Dr. Leonie Steinl, Vorsitzende des Kommission Strafrecht des Deutschen Juristinnenbundes, zu, die insbesondere auch in der Rehabilitierung der auf Grundlage von § 219a StGB Verurteilten ein wichtiges Zeichen sah. Valentina Chiofalo vom Netzwerk Doctors for choice bezog sich in ihrer Stellungnahme auf die geplanten Änderungen im HWG und kritisierte, dass diese nicht weit genug gingen. Die jetzigen Defizite beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen seien der Kriminalisierung, Stigmatisierung und Tabuisierung des Abbruchs geschuldet. Einen Misstand bei der Versorgung und bei der Information von Frauen im Schwangerschaftskonflikt konnte jedoch Gynäkologin Prof. Dr. Angela Köninger nicht bestätigen und sprach sich für eine Diskussion fern von „theoretischen Angstkulissen“ aus. Der Grund, warum Ärztinnen und Ärzte keine Schwangerschaftsabbrüche durchführten, liege allein in deren Berufung auf ihr eigenes Selbstbestimmungsrecht. Prof. Dr. Elisa Hoven von der Universität Leipzig erklärte in ihrer Stellungnahme u.a., dass § 219a StGB seine Legitimation mit der strafrechtlichen Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen verloren habe. Die Bestrafung von neutralen Informationen sei verfassungsrechtlich bedenklich und ein Beharren auf die Strafnorm nicht mehr zeitgemäß. Auch Prof. Dr. Anna Katharina Mangold von der Europa Universität in Flensburg begrüßte  eine Streichung des § 219a StGB. Das BVerfG habe in seiner Rechtsprechung das Werbeverbot an keiner Stelle erwähnt, obgleich es alle entsprechenden Strafrechtsnormen überprüft habe. Einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck für den Eingriff in die Berufsfreiheit der Ärzte*innen und die Informationsfreiheit der Schwangeren könne sie nicht erkennen. 

Gegen eine Streichung des § 219a StGB sprachen sich Dr. Natascha Sasserath vom Kommissariat der Deutschen Bischöfe und Albrecht Weißbach vom Verein „Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig Bewahren“ (Kaleb) aus. § 219a StGB sei ein zentraler Punkt eines gut austarierten Schutzkonzepts. Daher solle er zum verfassungsrechtlich gebotenen Schutz ungeborenen Lebens erhalten bleiben und allenfalls hinsichtlich der Informationsbedarfe der Schwangeren angepasst werden. Eine Streichung sei weder notwendig, noch geboten. Weißbach sprach sich darüber hinaus noch dafür aus, dass der Gesetzgeber Maßnahmen ergreifen solle, die einer Einordnung von Abtreibung als „normale“ medizinische Heilbehandlung verhindere. Ähnlich argumentierte auch Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel von der Universität Augsburg. Er befand eine Streichung des Werbeverbots als verfassungsrechtlich bedenklich. Ein Mehr an Information für Betroffene lasse sich zielgerechter mit einer Änderung des § 219a StGB erreichen. Eine Abschaffung biete Spielräume für „meinungshaltige“ Darstellungen. Schließlich sei es eine Forderung des BVerfG, dass der Gesetzgeber dafür Sorge zu tragen habe, dass nicht der Eindruck entstehe, dass es sich bei einem Schwangerschaftsabbruch um einen „alltäglichen, also der Normalität entsprechenden Vorgang“ handele. 

Am 20. Mai 2022 beschäftigte sich der Bundesrat mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung und machte von seinem Recht der Stellungnahme vor einer Entscheidung des Bundestages keinen Gebrauch. Der Rechtsausschuss empfahl dem Bundestag in seinem Bericht (BT Drs. 20/2404) die Annahme des Gesetzentwurfs aus der BT Drs. 20/1635 in geänderter Fassung mit den Stimmen der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und AfD in Abwesenheit der Fraktion Die Linke, sowie die Ablehnung der Anträge BT Drs. 20/1017, BT Drs. 20/1505, BT Drs. 20/1866 und BT Drs. 20/1736

Am 24. Juni 2022 beschäftigte sich der Bundestag abschließend mit den Gesetzesinitiativen und sprach sich mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und Die Linke für eine Streichung des § 219a StGB aus. Die Fraktionen CDU/CSU und AfD votierten dagegen. In Folge soll der § 219a StGB ersatzlos gestrichen und die Urteile, die aufgrund des Werbeverbots erlassen worden sind, aufgehoben werden. Flankierend wird es eine Ergänzung im Heilmittelwerbegesetz und im Schwangerschaftskonfliktgesetz geben. Der Bundesrat hat sich am 8. Juli 2022 abschließend mit der Entscheidung befasst und den Entwurf gebilligt. 

Das Gesetz zur Aufhebung des Verbots der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch (§ 219a StGB), zur Änderung des Heilmittelwerbegesetzes, zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch und zur Änderung des Gesetzes zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen vom 11. Juli 2022 wurde am 18. Juli 2022 im Bundesgesetzblatt verkündet (BGBl. I 2022, S. 1082 ff.) und tritt am 19. Juli 2022 in Kraft. 

 

 


19. Legislaturperiode: 

Gesetz zur Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch vom 22. März 2019 (BGBl I Nr. 9, 28.03.2019)

Gesetzentwürfe:

Die Fraktion DIE LINKE brachte am 24. November 2017 einen dringlichen Antrag zur Abschaffung des § 219a StGB in den Hessischen Landtag ein. Sie forderte die Landesregierung auf, eine entsprechende Initiative im Bundesrat auf den Weg zu bringen.

Anlass für den Antrag war der am selben Tag stattfindende Prozess beim AG Gießen gegen eine Frauenärztin, die auf ihrer Homepage anbot, Infomaterial zu einem Schwangerschaftsabbruch per Mail zu versenden. Das Gericht verurteilte die Ärztin zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 150 EUR und schloss sich damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft an. Das Gericht war der Ansicht, dass die Vorschrift des § 219a StGB nicht verfassungswidrig sei und lehnte darum auch ein Vorlage an das BVerfG ab. Es handele sich bei § 219a StGB um eine verfassungsgemäße Einschränkung der Informationsfreiheit schwangerer Frauen. Diese, genauso wie die Berufsfreiheit der Ärzte, stehe dem Schutz des ungeborenen Lebens entgegen. Niemand könne das ungeborene Leben schützen, außer dem Staat.

Die Fraktion DIE LINKE kritisiert, dass es gerade die Ärztinnen und Ärzte seien, die für die Patientinnen eine Vertrauensperson darstellen. „Um das Recht auf eine freie Arztwahl zu garantieren, müssen Ärztinnen und Ärzte den betroffenen Frauen die notwendigen Informationen zur Verfügung stellen dürfen. Schließlich sind Informations- auch Menschenrechte.“ Des Weiteren wurde angeführt, der § 219a StGB sei veraltet und überflüssig. Es gebe in Deutschland ausführliche gesetzliche Regelungen zum Arztwerberecht.

Auch die SPD und Die Grünen vertraten in der Landtagsdebatte die Ansicht, der § 219a StGB sei nicht mehr zeitgemäß. Ärzte dürften in ihrer Aufklärungspflicht nicht eingeschränkt werden, wenn sie als Vertrauensperson ihren Patientinnen in dieser schwierigen Situation zur Seite stehen.

Die CDU stellte klar, dass es in dem genannten Verfahren nicht um die Information als solche gegangen sei, sondern um die Werbung eines Abbruchs mit Preisbeispielen. Es sei wichtig, dass Frauen sich ausführlich über einen Schwangerschaftsabbruch informieren lassen können, dies solle aber weiterhin bei Beratungsgesprächen geschehen, die die Erhaltung der Schwangerschaft zum Ziel haben.

Am 28. November 2017 brachte die Fraktion DIE LINKE ebenfalls einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des Werbeverbots in den Bundestag (BT Drs. 19/93) ein, am 6. Dezember folgte ihr Antrag in der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg (Drs. 21/11248). 

Am 15. Dezember 2017 brachten die Länder Berlin, Brandenburg, Hamburg und Thüringen einen Gesetzesantrag zur Aufhebung von § 219a StGB in den Bundesrat ein. Der Entwurf wurde im Plenum vorgestellt und im Anschluss zur weiteren Beratung an den Rechts- und Gesundheitsausschuss sowie an den Ausschuss für Frauen und Jugend überwiesen.

Auch die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN brachte am 6. Februar 2018 einen Gesetzentwurf zur Aufhebung von § 219a StGB in den Bundestag ein (BR Drs. 19/630). In dem Entwurf wird eine Entscheidung des BVerfG (Urt. v. 24.5.2006 – 1 BvR 1060/02, 1 BvR 1139/03, Rn. 36) zitiert: „Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können.“ Um dies in Zukunft sicherzustellen, bestehe gesetzgeberischer Handlungsbedarf.

Am 21. Februar 2018 brachte die Fraktion der FDP kurz vor der Bundestagsdebatte einen Entwurf zur Einschränkung des Verbots der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche (BT Drs. 19/820) in den Bundestag ein. Die FDP sieht vor, den § 219a StGB so anzupassen, dass eine Strafbarkeit nur für Werbung in grob anstößiger Weise in Frage kommt. Dies solle beispielsweise bei marktschreierischer, anpreisender, verharmlosender oder Schwangerschaftsabbrüche verherrlichender Werbung der Fall sein. Eine Werbung dieser Art verletze nicht nur das Empfinden breiter Teile der Bevölkerung, die Schwangerschaftsabbrüche aus moralischen Gründen ablehne, sondern stehe auch nicht im Einklang mit der Grundentscheidung des Gesetzgebers. Eine gänzliche Streichung des Straftatbestandes werde nicht dem staatlichen Schutzauftrag für das ungeborene Leben gerecht. Dass der Gesetzgeber auch in anderen Fällen eine Werbung verbiete, wie z.B. die Werbung für unerlaubte Veranstaltung des Glücksspiels oder irreführende Werbung durch unwahre Tatsachen, zeige, dass es unverständlich sei, wenn in Bezug auf das höhenwertige Schutzgut des ungeborenen Lebens nicht auf eine strafrechtliche Sanktionierung zurückgegriffen werde. 

Am 22. Februar 2018 fand in den Abendstunden die erste Lesung zu den Entwürfen der FDP, Linke und Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag statt. Am Ende der 45 minütigen Debatte wurden die Gesetzentwürfe  zur weiteren Beratung an den federführenden Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz weitergeleitet. 

Am 5. März 2018 bracht zu guter Letzt auch die Fraktion der SPD einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des § 219a StGB in den Bundestag ein (BT Drs. 19/1046). In der Begründung gibt die Fraktion an, dass die Mehrheit aller Staatsanwälte und Staatsanwältinnen bei dem bloßen Hinweis auf die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen erst gar keine Anklage erhebe. Es existiere durch das Tatbestandsmerkmal „anbietet“ ein Interpretationsspielraum, der Rechtsunsicherheit verursache und Ärztinnen und Ärzte davon abhalte, derartige Hinweise auf ihre Webseiten zu bringen. Diese seien aber die Quellen, wo üblicherweise Patienten ihre Informationen beziehen. Somit sei nicht nur das im Patientenrechtegesetz geregelte Recht auf Information, sondern auch das Recht auf freie Wahl des Arztes unzumutbar eingeschränkt.  

Am 27. April 2018 debattierte der Bundesrat erneut über den Gesetzesantrag der Länder Berlin, Brandenburg, Hamburg und Thüringen, obwohl die Beratungen in den Ausschüssen noch nicht abgeschlossen sind. Eine Abstimmung, ob der Entwurf beim Deutschen Bundestag eingebracht werden soll, erfolgte daher auch nicht. Die Ausschussberatungen werden nun fortgesetzt. 

Am 27. Juni 2018 fand im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz eine öffentliche Anhörung statt. Die neun von den Fraktionen eingeladenen Sachverständigen aus Recht und Medizin sowie von Kirche und Gesellschaft beantworteten rund drei Stunden lang die Fragen der Abgeordneten. In der Anhörung sprachen sich jeweils vier Sachverständige für eine Streichung beziehungsweise Beibehaltung des Paragrafen aus, einer plädierte für den Entwurf der FDP, der nur noch „grob anstößige“ Werbung unter Strafe stellen will.

Kontrovers diskutiert wurde unter anderem, ob der Schutz des ungeborenen Lebens oder das Selbstbestimmungsrecht der Frau wichtiger sei. Katharina Jestaedt vom Kommissariat der deutschen Bischöfe, Katholisches Büro in Berlin, und der Mannheimer Gynäkologe Michael Kiworr, Mitglied der Organisation „Ärzte für das Leben“ sprachen sich ebenso wie der Augsburger Rechtsprofessor Michael Kubiciel und Andrea Redding, Geschäftsführerin des Vereins donum vitae zur Förderung des Schutzes des menschlichen Lebens, gegen eine Streichung aus. Dieser Auffassung widersprachen die Professoren Ulrike Lembke vom Deutscher Juristinnenbund und Reinhard Merkel von der Universität Hamburg. Beide empfahlen, nach einer Streichung des Paragrafen „anstößige Werbung“ als Ordnungswidrigkeit zu verfolgen. Auch Daphne Hahn vom Beratungsstellenverbund pro familia und Christiane Tennhard, Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe aus Berlin und Fachberaterin des Familienplanungszentrums Balance sprachen sich für die Streichung des § 219a aus dem Strafgesetzbuch aus.

Der Gesetzentwurf der FDP wurde von den meisten Experten als nicht praktikabel angelehnt. Lediglich der Kölner Universitätsprofessor Thomas Weigend empfahl den FDP-Entwurf als sachgerechte Lösung.

Die Stellungnahmen – auch die bereits zuvor erfolgte des Kriminalpolitischen Kreises – sowie eine Liste der geladenen Sachverständigen finden sie hier.

Am 18. Oktober 2018 beriet der Bundestag über die Gesetzentwürfe der Fraktionen der FDP, Linke und die Grünen. Es gab nach der Debatte allerdings keine Abstimmung. Gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundestages kann 1o Wochen nach der Überweisung einer Vorlage an den Ausschuss eine Fraktion verlangen, dass dieser durch den Vorsitzenden oder Berichterstatter dem Bundestag einen Bericht über den Stand der Beratungen (BT Drs. 19/5048BT Drs. 19/5049BT Drs. 19/4878) erstattet. Dieser Bericht muss auf Verlangen auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt werden und wird  wird im Anschluss an die Debatte stattfinden. 

Am 13. Dezember 2018 brachte die Fraktion der FDP einen Antrag (BT Drs. 19/6425) in den Bundestag ein, der die Bundesregierung auffordert unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Abschaffung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche vorsieht.  Nach erster Beratung konnte sich die Fraktion jedoch nicht gegen die Mehrheit der CDU/CSU und SPD durchsetzen, die gegen eine Abstimmung und für eine Überweisung zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz plädierten. Am Abend zuvor hatten sich fünf Minister der GroKo (Horst Seehofer, Katarina Barley, Jens Spahn, Franziska Giffey und Helge Braun) darauf geeinigt, § 219a StGB im Grundsatz beizubehalten. Laut dem Eckpunktepapier will die Bundesregierung im Januar 2019 einen geeigneten Gesetzentwurf zu den vorgeschlagenen Ergänzungen des § 219a StGB und § 13 Schwangerschaftskonfliktgesetz vorlegen. 

Am 14. Dezember 2018 beschäftigte sich auch der Bundesrat erneut mit dem Gesetzesantrag der Länder Berlin, Brandenburg, Hamburg, Thüringen. Die Beratung wurde schließlich vertagt und zurück in den Rechtsausschuss verwiesen. 

Nach langer Diskussion innerhalb der großen Koalition hat das BMJV am 28. Januar 2019 einen Referentenentwurf zur Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch auf den Weg gebracht. Demnach soll § 219a StGB mit einem Abs. 4 um einen weiteren Ausnahmetatbestand ergänzt werden. Damit sollen künftig Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser und Einrichtungen öffentlich über die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen informieren dürfen. Des weiteren soll über eine Regelung im Schwangerschaftskonfliktgesetz eine von der Bundesärztekammer zentral geführte Liste mit Ärzten, Krankenhäusern und Einrichtungen eingerichtet werden, die mitgeteilt haben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche gem. § 218a Abs. 1 bis 3 StGB durchführen. Diese Liste wird durch Die Bundesärztekammer und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Internet veröffentlicht. Ferner informiert das zentrale Hilfetelefon „Schwangere in Not“ (§ 1 Abs. 5 S. 1 SchKG) sowie die Schwangerschaftsberatungsstellen über die Angaben in der Liste. 

§ 219a Abs. 4 StGB-E lautet: 

„(4) Absatz 1 gilt nicht, wenn Ärzte, Krankenhäuser oder Einrichtungen

  1. auf die Tatsache hinweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche unter den Voraus- setzungen des § 218a Absatz 1 bis 3 vornehmen, oder

  2. auf Informationen einer insoweit zuständigen Bundes- oder Landesbehörde, einer Beratungsstelle nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz oder einer Ärztekammer über einen Schwangerschaftsabbruch hinweisen.“

Am 6. Februar 2019 hat das Bundeskabinett den Referentenentwurf verabschiedet. Er wurde am 12. Februar 2019 durch einen gleichlautenden Entwurf der Koalitionsfraktionen in den Bundestag eingebracht (BT Drs. 19/7693) und stand dort schon am 15. Februar 2019 auf der Tagesordnung. Ebenso stand er am 15. Februar 2019 auf der Tagesordnung des Bundesrates. In der Abstimmung erhielt aber weder die kritische Äußerung der Ausschüsse noch das positive Votum die Mehrheit. Daher wurde auf eine Stellungnahme seitens des Bundesrates verzichtet. 

Am 18. Februar 2019 fand im Rechtsausschuss eine öffentliche Anhörung zu dem Koalitionsentwurf statt. Eine Liste der Sachverständigen und deren Stellungnahmen finden Sie hier. Die Experten äußerten sich überwiegend kritisch zu dem Entwurf. Prof. Dr. Michael Kubiciel lehnte eine komplette Streichung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche ab und nannte den Koalitionsentwurf eine deutlich bessere Alternative. Informationsdefizite könnten so vermieden und eine einheitliche qualitativ hochwertige Informationsgrundlage geschaffen werden. Zudem werde durch den Entwurf ein parteipolitisch hart umkämpfter Streit beendet. Trotz alledem gebe es für den Gesetzgeber aber noch einen „Optimierungsbedarf“. Prof. Dr. Reinhard Merkel sah in dem eingeschränkten, aber weiterhin bestehenden Werbeverbot einen Verfassungsverstoß. Im Fokus der Diskussion stehe immer die Informationsfreiheit der Frauen, obwohl es doch offensichtlich vorrangig darum gehen sollte, was der Staat mit Strafe bedrohen darf. Auch Prof. Dr. Ulrike Lembke, Vertreterin des Deutschen Juristinnenbundes, attestierte dem Koalitionsentwurf verfassungsrechtliche Mängel. Trotz der geplanten Änderungen liege darin ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Berufsfreiheit. Der Juristinnenbund fordere deswegen eine Streichung des § 219a StGB und die Schaffung eines Ordnungswidrigkeitentatbestandes im Schwangerschaftskonfliktgesetz. Prof. Dr. Ulrike Busch hielt den Gesetzentwurf insofern für ungeeignet, da nach wie vor die Informationsrechte limitiert seien. Insbesondere behandle der Entwurf sachliche Informationen unterschiedlich, je nachdem, ob sie auf einer ärztlichen Homepage oder auf der Liste zu finden seien. Lediglich aus parteipolitischen Erwägungen werde an einem gesellschaftlich überholten Straftatbestand festgehalten. Ähnliche Argumente fand auch Nora Szász, Gynäkologin aus Kassel. Prof. Dr. Elisa Hoven betonte ebenfalls die Ungleichbehandlung gleicher sachlicher Informationen. Der Entwurf stelle zwar eine Verbesserung der aktuellen Informationslage dar, löse aber nicht das Problem, dass Handlungen kriminalisiert werden die keinen Unrechtsgehalt aufweisen. Nadine Mersch vom Sozialdienst katholischer Frauen zeigte sich erleichtert darüber, dass die Koalitionsfraktionen eine gesetzliche Lösung gefunden haben. Bestehende Informationslücken seien so geschlossen und für die Ärzte und Kliniken eine Rechtssicherheit geschaffen. § 219a StGB könne nicht ersatzlos gestrichen werden, ohne die Vorgaben des BVerfG zum Lebensschutz zu unterlaufen. Es sei die Pflicht und die Verantwortung des Staates, das ungeborene Leben zu schützen und gleichzeitig Frauen in Konfliktsituationen angemessene Informationen bereitzustellen. Dr. med. Wolfgang Vorhoff aus Bad Aibling begrüßte ebenfalls die geplanten Änderungen des § 219a StGB. Eine komplette Streichung führe zu einem Wettbewerb um die beste Werbung für Schwangerschaftsabbrüche. Er betonte, genauso wie seine Kollegin Nora Szász, dass Kollegen, die einen Abbruch vornehmen, nicht länger stigmatisiert werden dürften. 

Am 19. Februar 2019 brachte die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf in den Bundestag ein (BT-Drs. 19/7834). Er entspricht im Wortlaut dem Koalitionsentwurf. Dort stand er bereits am 20. Februar 2019 auf der Tagesordnung. Ohne eine Aussprache wurde der Entwurf gleich an den federführenden Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz zwecks weiterer Beratung überwiesen. Parallel beschäftigte sich der Ausschuss am 20. Februar 2019 mit dem Koalitionsentwurf. Dieser wurde mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen durch den Ausschuss angenommen. 

Am 21. Februar 2019 hat der Bundestag den Entwurf von CDU/CSU und SPD mit 371 zu 277 (bei 4 Enthaltungen) angenommen. Gleichzeitig wurden die Gesetzentwürfe der Fraktion Die Linke (BT Drs. 19/93), der Fraktion der FDP (BT Drs. 19/6425) und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (BR Drs. 19/630) abgelehnt. Damit folgten die Abgeordneten einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (BT Drs. 19/7965). 

Am 15. März 2019 hat der Bundesrat ebenfalls den geplanten Änderungen des § 219a StGB zugestimmt und den Koalitionsentwurf gebilligt. Das Gesetz zur Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch vom 22. März 2019 (BGBl I Nr. 9, 28.03.2019) wurde am 28. März 2019 im Bundesgesetzblatt verkündet. 

Am 17. September 2021 stimmte der Bundesrat über einen erneute Länderinitiative aus Berlin, Brandenburg, Hamburg, Thüringen und Bremen (BR Drs. 761/17 (neu)) ab, die wiederholt die Abschaffung des Werbeverbots in § 219a StGB forderte. Der Antrag erhielt im Plenum jedoch nicht die erforderliche Mehrheit. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Die Transformation der Sicherheitsarchitektur – die Gefährdergesetze im Lichte des Vorsorge-Paradigmas

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Sozial-psychologische Reibungsverluste des „digitalisierten Strafprozesses“ – Kritische Überlegungen zu „Gerichtsfernsehen“, audiovisueller Vernehmungsdokumentation und „Big Data-Ermittlungen“

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Der Beitrag untersucht aus interdisziplinärer Perspektive die in der deutschen Diskussion noch weitgehend unterrepräsentierten sozial-psychologischen Vor- und Nachteile der „Digitalisierung“ des Strafprozesses. Die Meilensteine auf dem Weg dorthin – „Gerichtsfernsehen“, au-diovisuelle Vernehmungsdokumentation und „Big Data-Ermittlungen“ – verfangen bislang nahezu ausschließlich in rechtspolitischen Fäden. Neben spezifisch strafprozessualen Problemen müssen sich alle Verantwortlichen noch weitaus intensiver mit der Wissenschaft der Wahrnehmung, verborgenen psychodynamischen Unwägbarkeiten und der darin verhafteten Wirkmächtigkeit(en) beschäftigen, um die notwendige Modernisierung des Strafverfahrens nicht in der Wiederholung alter Fehler münden zu lassen.

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Abstract
Die Frage nach einer ausgewogenen und verantwortungsbewussten Kriminalpolitik hat nicht zuletzt in Polen, wegen der systematischen Verschärfung der Strafsanktionen, zunehmend an Bedeutung gewonnen. Die Leichtigkeit, mit der der Strafgesetzgeber zu solchen Maßnahmen greift, weckt ernsthafte Zweifel, ob es trotz eingehender kriminologischer, philosophischer, verfassungs- und völkerrechtlicher Analysen über den Sinn und Zweck der Strafe und zu den unantastbaren Grenzen der Strafgerechtigkeit im Rechtsstaat möglich ist, auf der dogmatischen Ebene eine messbare und prognostizierbare Relation zwischen den Modalitäten der Tatbestände und den Modalitäten der Strafsanktionen zu bestimmen. Eine solche Relation würde uns über die notwendige Kongruenz der Straftat zur Strafsanktion zu entscheiden erlauben und könnte dadurch als Mittel zur sinnvollen Begrenzung der staatlichen Strafgewalt dienen. Ein deutliches Beispiel für die Dringlichkeit dahingehender konzeptioneller Analysen sind die jüngsten Änderungen des polnischen Strafgesetzbuches.

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Johannes Kaspar (Hrsg.): „Sicherungsverwahrung 2.0“

von Prof. Dr. Alexander Baur

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2017, Verlag Nomos, Baden-Baden, ISBN 978-3-8487-3767-3, S. 319, Euro 79,00.

1. Das Urteil des BVerfG vom 4.5.2011 zur Verfassungswidrigkeit der Sicherungsverwahrung war die Zäsur, der der von Kaspar (Universität Augsburg) herausgegebene Sammelband seinen Titel verdankt: Mit dem Urteil begann eine Entwicklung, die es nahelegt, von einer „Sicherungsverwahrung 2.0“ zu sprechen. Folgen und Änderungen im Bereich der Sicherungsverwahrung seit dem „Paukenschlag“ (Kaspar) des BVerfG beleuchtet der vorliegende Sammelband und trägt dabei die Ergebnisse einer Augsburger Tagung zusammen.

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Lisa Tuchscherer: Stadtpolizei statt Polizei

von Polizeirätin Anke Arkenau

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2017, Duncker & Humblot GmbH, Berlin, ISBN: 978-3-428-15130-1 (Print), S. 185, 69,90 €

„Stadtpolizei statt Polizei“. Schon der Titel der Arbeit von Tuchscherer hat es in sich. Durch seine Kürze und Prägnanz ist er einerseits ein Spiegelbild der Arbeit an sich. Andererseits ist er geeignet, die Neugier der thematisch geneigten Leserschaft zu wecken. „Stadtpolizei statt Polizei“ – Synonym oder Antonym? Forderung oder Feststellung? Synergetische Koexistenz oder ein nicht aufzulösendes Paradoxon? Eine Erwartungshaltung an die Beantwortung solcher oder ähnlicher Fragestellungen wird bereits auf dem Titelblatt geweckt und es sei an dieser Stelle nicht zu viel verraten, dass es der Autorin durchaus gelingt, Antworten zu finden. Maßgeblicher Betrachtungsgegenstand der Arbeit ist die Stadtpolizei in Frankfurt am Main, welche die Autorin einer rechtlichen, begrifflichen wie sicherheitspolitischen Problemanalyse und –aufarbeitung unterzieht (S. 12).

Nach einer kurzen Einführung (S. 11 ff.) nimmt Tuchscherer zunächst eine Einordnung der Stadtpolizei Frankfurt am Main in das Gefüge verschiedenster Sicherheitsakteure vor (S. 16 ff.) Die Genese des Namens Stadtpolizei bietet hinreichenden Anlass für einen Blick in die Historie, dem sich die Autorin im darauf folgenden Kapitel widmet (S. 29 ff.). Im Weiteren befasst sich Tuchscherer mit dem Begriff „Polizei“ als solches und dessen Anwendbarkeit auf die Stadtpolizei (S. 41 ff.). Losgelöst von der Begrifflichkeit widmet sich die Autorin im Folgenden dem äußeren Erscheinungsbild von Polizei und Stadtpolizei und den damit einhergehenden Problemstellungen (S. 69 ff.). Anschließend beschreibt Tuchscherer den indiziell sicherheitspolitischen Wandel (S. 88 ff.). Abgerundet durch einen rechtlichen Diskurs (S. 114 ff.) mündet das Werk von Tuchscherer in der Betrachtung ähnlicher Modelle anderer Bundesländer (S. 150 ff.) und einem zusammenfassenden Fazit (S. 165 ff.).

Mit der prägnanten Fragestellung „ist überall, wo Polizei draufsteht, auch Polizei drin?“ (S. 11) eröffnet Tuchscherer ihre Einführung in das Thema und formuliert damit den Leitgedanken, der sich wie ein roter Faden durch die vollständige Arbeit zieht. Bereits an dieser Stelle konstatiert die Autorin eine auf verschiedenen Faktoren beruhende ‚neue Unübersichtlichkeit‘ der verschiedensten Sicherheitsakteure, die sie den hehren Zielen eines gesteigerten Sicherheitsgefühls sowie der Demonstration politischer Handlungsfähigkeit gegenüberstellt (S. 11/12).

Zunächst widmet sich Tuchscherer der Einordnung der Stadtpolizei in das Gefüge der Sicherheitsakteure (S. 16 ff.). Polizei ist Ländersache (S. 16). Die Bundesländer seien entweder nach dem Einheits- oder nach dem Trennungssystem organisiert. In Hessen gelte das Trennungssystem mit einem gemeinsamen Gesetz für die Polizei- und Ordnungsbehörden (S. 17 f.). Nach einem kurzen Diskurs spricht sich die Autorin für die Beibehaltung einer gemeinsamen gesetzlichen Grundlage in Hessen aus (S. 18/19). Im Weiteren stellt Tuchscherer die Gefährdung des Einheits- und Trennungssystems durch Hilfspolizeibeamte[1] der Ordnungsbehörden als Trend zur „erneuten Verpolizeilichung“ einer anderen Meinung, die einen solchen Trend gerade mit dem Trennungssystem begründet, gegenüber (S. 19 ff.). Dieser Diskurs bleibt unentschieden.

Die Stadtpolizei in Frankfurt am Main ist 2007 eingerichtet worden (S. 22). Tuchscherer gibt dazu einen umfassenden statistischen Überblick über Arbeitsaufkommen, Kosten, welche sich auf ca. 30 Mio. Euro pro Jahr belaufen, deren Organisationsstruktur und Tätigkeitsfelder (S. 22 ff.). Erklärte Ziele seien die Erhöhung des subjektiven Sicherheitsgefühls sowie der objektiven Sicherheit und Ordnung (S. 25). Die Schnittmengen zu den klassischen polizeilichen Aufgaben werden bei der Auflistung typischer Einsatzfelder der Stadtpolizei deutlich – Zwangsbefugnisse sowie ein fallspezifisches Betretungsrecht von Wohnungen inklusive (S. 25/26). Als Teil eines umfassenden Sicherheitsnetzwerkes kooperiere die Stadtpolizei mit anderen Sicherheitsakteuren, u. a. der Landespolizei, was einerseits Autorität, Legitimität und insbesondere das Image privater Sicherheitsakteure steigere, andererseits eine quasi illusorische polizeilicher Präsenz erhöhe (S. 27 f.).

Diesen organisatorischen Ausführungen schließt sich ein Ausblick in die Historie an, der seine Existenzberechtigung über den Prozess der Namensgebung erfährt. Tuchscherer knüpft daran an, dass der Außendienst des Ordnungsamtes Hessen im Jahre 2004 per Gesetz zur „Ordnungspolizei“ umbenannt worden sei, was nach erheblichen Protesten im Jahre 2005 rückgängig gemacht worden sei (S. 21/22). Der geschichtliche Rückblick in die Zeiten des Nationalsozialismus ist damit opportun (S. 29 ff.), um für die Problematik um die Namensgebung im Sinne einer negativen Vorbelastung zu sensibilisieren. Sei es nach dem zweiten Weltkrieg das Anliegen der Alliierten gewesen, „das öffentliche Leben wieder zu entpolizeilichen“, entwirft Tuchscherer mit der Einrichtung der Stadtpolizei die These der „Rückkehr zu Strukturen der Verpolizeilichung“ und damit das „Ende der Entpolizeilichung“ (S. 32/33). Als logischen Schluss des soeben Gesagten stellt Tuchscherer im Folgenden Entpolizeilichungstendenzen der Vergangenheit in drei maßgeblichen Entwicklungsschritten seit dem 19. Jahrhundert vor, wobei der letzte Schritt von der Autorin in der Gegenwart verortet wird (S. 34 ff.). Entpolizeilichung in der Gegenwart beschreibt Tuchscherer im Schwerpunkt als Privatisierung von Sicherheitsaufgaben und zweifelt die Legitimität vor dem Hintergrund des in Art. 33 Abs. 4 GG formulierten Funktionsvorbehaltes nachvollziehbar an (S. 37 ff.). Dieses Kapitel schließt Tuchscherer ab mit der Feststellung einer gleichsam stattfindenden Verpolizeilichungstendenz im Sinne einer Annäherung von Ordnungsbehörden und Polizei in Begriff, Aufgaben und äußerem Erscheinungsbild (S. 39 f.).

Das nächste Kapitel eröffnet Tuchscherer mit der angenommenen Attraktivität des Begriffes „Polizei“ und entwirft die These, dass „sich die Befugnisse der Hilfspolizeibeamten erst durch die Benennung als Polizei rechtfertigen“ lassen würden, wodurch sich gleichsam der Wirkungskreis der Stadtpolizei erweitert habe und sich eine scheinbare Legitimation für polizeinahe Aufgaben herleiten ließe. Dazu stellt Tuchscherer fest, dass die derzeitige Regelungslage, nämlich § 99 HSOG, den notwendigen Anforderungen einer „klaren, bestimmten und widerspruchsfreien gesetzlichen Regelung“, welche die Aufgaben und Befugnisse klar definiert, nicht gerecht würde (S. 41). Die oben aufgeführte Begriffsproblematik „Ordnungspolizei“ wird weniger unter semantischen, sondern vielmehr vor dem Hintergrund gegensätzlicher kommunalpolitischer Erwägungen erneut diskutiert (S. 42 ff.). Vor dem Hintergrund der Diskussion um Begrifflichkeiten gibt Tuchscherer nunmehr einen Überblick über konkrete Sicherheitsakteure in Hessen, deren Bezeichnungen, organisatorische Anbindung, Befugnisse, Einstellungs- und Ausbildungsmodalitäten. Daraus leitet die Verfasserin sich in der Folge ergebende Problemstellungen und deutlich erkennbares Irritationspotenzial ab (S. 45 ff.). Hilfspolizeibeamte, Stadtpolizei und Wachpolizei als Unterkategorie der Hilfspolizeibeamten sowie die Hilfspolizei bzw. der freiwillige Polizeidienst werden vor diesem Hintergrund diskutiert. Insbesondere zu der Stadtpolizei in Frankfurt am Main konstatiert Tuchscherer einen Wandel der „Zuständigkeit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung langsam aber sicher zu Stadtpolizei statt Polizei“ (S. 46/47). Zu der Hilfspolizei stellt Tuchscherer etwaig vorüberlegte personelle und haushalterische Vorteile rechtlichen Bedenken und einer objektiven Ineffektivität bezüglich einem Mehr an Sicherheit gegenüber (S. 52 ff.). Diese Ausführungen machen insgesamt sehr deutlich, dass nicht überall, wo Polizei draufsteht, auch Polizei drin ist und die Sinnhaftigkeit bezüglich der Zielsetzungen teilweise fragwürdig erscheint. Ein anschließender Diskurs anhand konkreter Beispiele um die richtige Benennung bzw. Umbenennung der Außendienste der Ordnungsämter wird facettenreich geführt, bleibt mit einer Tendenz zum Begriff „Kommunalpolizei“ seitens der Autorin im Ergebnis jedoch unentschieden (S. 55 ff).

Folgend unternimmt Tuchscherer den Versuch, die Stadtpolizei unter dem materiellen, institutionellen und formellen Polizeibegriff dogmatisch einzuordnen (S. 58 ff.). Wird die Stadtpolizei etwa bereits vom Polizeibegriff erfasst oder ist vielmehr eine Verpolizeilichung erkennbar? Oder genügen die bestehenden Kategorien womöglich nicht mehr, um die Stadtpolizei darunter zu subsumieren? Tuchscherer stellt fest, dass die kommunalen Ordnungsdienste, damit auch die Stadtpolizei, je nach Lesart zumindest auch unter die verschiedenen Polizeibegriffe subsumiert werden könnten. Die Entwicklung eines eigenen Polizeibegriffs sei damit obsolet (S. 66), die klare Abgrenzbarkeit zwischen Polizei und Außendienst der Ordnungsämter hinsichtlich Zuständigkeiten und Befugnissen ginge jedoch verloren (S. 67). Tuchscherer entwirft die Argumentationskette „Wer Polizei heißt, der darf auch das, was die Polizei darf“ und kommt im Ergebnis ihrer dogmatischen Betrachtung zu der Bestätigung ihrer Ausgangsthese, dass „die Stadtpolizei die Vollzugspolizei gleichwertig ersetzt“ (S. 68). Eine Gegenansicht, die sich insbesondere aus der restriktiven Auslegung des institutionellen Polizeibegriffs hätte herleiten lassen, wird an dieser Stelle nicht weiter verfolgt.

Das nächste Kapitel widmet sich der These „[…] dass alles Polizei ist, was auch Polizei heißt oder als solche erkannt wird“ mit Blick auf die äußere Wahrnehmung und der sich daraus ergebenden Erwartungshaltung der Bevölkerung bezüglich Kompetenzen, Befugnisse und Zuständigkeiten (S. 69 f.). An die sich im äußeren Erscheinungsbild angleichenden Uniformen verschiedenster Sicherheitsakteure bis auf die europäische Ebene habe sich die Erwartungshaltung der Bürger angepasst (S. 70 ff.). Mit der Illusion Polizei verbindet Tuchscherer die Erwartung professionellen Handelns (S. 74) und die „Aufwertung ihres Ansehens“ auf Seiten der Hilfspolizeibeamten (S. 75). Dazu führt Tuchscherer aus, dass traditionelle polizeiliche Ausstattungsattribute wie Blaulicht, Martinshorn und Schusswaffen, mit denen die Stadtpolizei in Frankfurt am Main ausgestattet sei, die Deutungsprobleme verstärken (S. 75 ff.). Tuchscherer führt in diesem Kontext ein Urteil des OVG Münster an, wonach die Ausstattung der ordnungsbehördlichen Fahrzeuge mit Blaulicht verboten bzw. untersagt worden sei. Diesem stellt die Autorin den logischen Schluss, dass die Befugnisse die Ausrüstung erforderlich machen würden, gegenüber (S. 76/77). Dieser Rückschluss wirkt zu kurz gegriffen. Der Streitstand bleibt im Ergebnis unentschieden.

Arbeitet Tuchscherer die Berechtigung zur Nutzung des Blaulichts durch die Stadtpolizei relativ kurz ab, widmet sie sich dem Aspekt der Ausstattung der Stadtpolizei mit Schusswaffen aus nachvollziehbaren Gründen intensiver, da sie selbiger „in der Außendarstellung und Wahrnehmung [den] größten Effekt“ einräumt (S. 77 ff). Auch bei engen Voraussetzungen und vorgeschriebener umfassender Ausbildung zweifelt Tuchscherer an, dass „eine mit der Ausbildung der Vollzugspolizei vergleichbare Erfahrung und Sicherheit im Umgang mit der Schusswaffe in physisch und psychisch belastenden Situationen in gleichem Maße gewährleistet werden kann“ (S. 78) und verlangt, die diesbezüglich legitimierende Regelungslage zu überdenken und die Ausbildung einer Neuregelung zuzuführen (S. 79). Bei allen erhobenen Zweifeln über die Eignung von Stadtpolizisten zum Führen einer Schusswaffe entscheidet sich Tuchscherer im Diskurs tendenziell gegen ein gänzliches Verbot von Schusswaffen für Hilfspolizeibeamte mit dem Hinweis auf eine damit einhergehende Verminderung der Handlungsfähigkeit (S. 82). Diese Diskussion ließe zumindest Raum für die Abwägung weniger eingriffsintensiver Zwangsmittel zu, zumal die Abwägung zwischen den Schutzgütern Leib und / oder Leben versus Machtsymbolik auch gegenteilig entschieden und die Diskussion auch über eine etwaige Reduzierung von Befugnissen hätte geführt werden können.

Im Folgekapitel widmet sich Tuchscherer dem Wandel der Sicherheitsverantwortung durch Rekommunalisierung polizeilicher Aufgaben. Sie konstatiert in diesem Zusammenhang die Entwicklung einer „neue[n] polizeiliche[n] Unterschicht mit gleichen Aufgaben und Befugnissen, aber keineswegs vergleichbaren Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen“ (S. 88). Über die Annäherung zwischen Vollzugspolizei des Landes und der Hilfspolizeibeamten, namentlich der Stadtpolizei, hinsichtlich Benennung, Kompetenzen und Ausstattung gelangt Tuchscherer an dieser Stelle zu einem Diskurs über Image, Anerkennung, Selbstbewusstsein, Autorität und Respekt dieser Sicherheitsakteure, der insbesondere für die Stadtpolizei einen positiven Verlauf nehme (S. 89 f.). Da Macht jedoch einer Rechtfertigung bedürfe und sich nicht über Name und Auftreten legitimiere, sei Transparenz, die eine Unterscheidung zwischen den Sicherheitsakteuren ermögliche, ein Muss (S. 92). Mit der Zielsetzung, dass durch die Stadtpolizei das relativ unbestimmbare Sicherheitsgefühl der Bevölkerung erhöht werden solle, führt Tuchscherer folglich eine Debatte um eine etwaige Legitimation der Annäherung und der damit einhergehenden Befugnis zur Vornahme von Eingriffen in die Grundrechte der Bürger auf diesem Wege. Tuchscherer konstatiert im Ergebnis die Ungeeignetheit solcher Maßnahmen zur Verbesserung der objektiven Sicherheit sowie einen Trend weg von der „Sicherheitspolitik“ hin zu einer „Sicherheitsgefühlspolitik“ und rät vielmehr zu städtebaulichen Maßnahmen sowie Maßnahmen zur Stärkung der Sozialkontrolle (S. 98).

Mit der prägnanten Aussage „Sicherheit wird heute als Dienstleistung verstanden“ leitet Tuchscherer im Weiteren einen Diskurs im Spannungsfeld zwischen „Entprofessionalisierungstendenzen“ polizeilicher Aufgaben und „Professionalisierung ihrer [der Vollzugspolizei] Tätigkeitsfelder“ ein (S. 99/100). Das Ziel der Präsenzerhöhung und Steigerung des Sicherheitsgefühls sei dadurch erreicht worden. Eine solche „Umschichtung der polizeilichen Aufgaben“ gehe jedoch mit dem eindeutigen Appell nach festen Organisationsstrukturen und einer verbesserten Ausbildung einher (S. 102), da Letztere „wohl [den] gravierendste[n] und ausschlaggebende[n] Unterschied zwischen den beiden Sicherheitsakteuren“ ausmache (S. 106). Bei annähernd gleicher Aufgabenübertragung und teilweise identischen Befugnissen sei die Ausbildung von Polizeivollzugsbeamten länger, umfassender und intensiver, ohne dass ein sachlicher Grund erkennbar sei (S. 108). Dieses Defizit schlage sich insbesondere auch mit Blick auf eine Aufgabenübertragung an Nichtbeamte oder Private nieder, so dass Tuchscherer eine diesbezügliche Unvereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 2 GG feststellt (S.111) und die Gefahr einer „Selbstüberschätzung“ in Erwägung zieht (S. 112). Ebenfalls sei hinsichtlich der Arbeits- und Ruhestandsregelungen ein Unterschied zum Nachteil der Hilfspolizeibeamten festzustellen (S. 112 f.).

In dem folgenden Kapitel widmet sich Tuchscherer den rechtlichen Rahmenbedingungen zum Einsatz der Hilfspolizeibeamten in Hessen. Sie weist bereits einleitend auf die aus ihrer Sicht ungenügende Regelungslage zum Einsatz von Hilfspolizeibeamten hin, da es maßgeblich an einer eindeutigen gesetzlichen Grundlage fehle, die Aufgaben und Befugnisse regele, was die Autorin im Weiteren nachvollziehbar begründet. Die derzeitigen Regelungen in Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften würden nicht genügen (S. 114/115). Nach eigenen Abwägungen entscheidet sich Tuchscherer für die Einordnung der Bestellung von Hilfspolizeibeamten als Verwaltungsintegration und gerade nicht als Beleihung oder Verwaltungshilfe (S. 116 ff.). Neben § 99 HSOG enthalte auch eine entsprechende Durchführungs- bzw. Rechtsverordnung Regelungen zu den Aufgaben und Befugnissen von Hilfspolizeibeamten in Hessen (S. 123). Einstellungsvoraussetzungen, Ausrüstung und die Ermächtigung zur unmittelbaren Zwangsanwendung durch Schusswaffengebrauch nebst Ausbildungsmodalitäten seien mittels Verwaltungsvorschrift geregelt (S. 123/124). Für die Wachpolizei gelten gesonderte Regelungen (S. 124). Der Funktionsvorbehalt gem. Art. 33 Abs. 4 GG formuliere kein Privatisierungsverbot (S. 125). Nach eingehender Prüfung subsumiert Tuchscherer die Hilfspolizeibeamten als potenziell mögliche Ausnahme vom Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG, soweit eine Beschränkung auf „Randaufgaben der öffentlichen Gefahrenabwehr“ bei einer „den Aufgaben angemessene[n] Ausbildung“ gewährleistet sei (S. 131). Nach einer alternativen Abwägung zieht Tuchscherer die Übertragung solcher Aufgaben auf Angestellte des öffentlichen Dienstes, namentlich auf Hilfspolizeibeamte, der Übertragung auf private Sicherheitsdienste vor (S. 133). Den Einsatz Privater zur Verkehrsüberwachung nach § 99 HSOG, der in Frankfurt am Main routinemäßig vollzogen werde, bewertet Tuchscherer vor dem Hintergrund des Funktionsvorbehaltes aus Art. 33 Abs. 4 GG als unzulässig (S. 140).

Hinsichtlich einer klaren Aufgaben- und Befugnisnorm für Hilfspolizeibeamte bewertet Tuchscherer § 99 HSOG als defizitär. Hierzu sei lediglich die individuelle Bestellungsurkunde bzw. Bestellungsverfügung einschlägig, woraus Tuchscherer einen „Widerspruch zu dem sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Gebot der Transparenz in der Verwaltungsorganisation“ und etwaiger Irritationen hinsichtlich bestehender Rechtsschutzmöglichkeiten herleite (S. 141). Die Autorin schließt sich der Meinung an, wonach diese fehlende Transparenz als verfassungswidrig beurteilt wird und fordert eine gesetzliche Ausweispflicht für Hilfspolizeibeamte (S. 142). Die Übertragung von Zwangsbefugnissen an Hilfspolizeibeamte sei im Rahmen der vorgenannten Verwaltungsintegration unproblematisch (S. 144). Damit ginge vielmehr eine Verschiebung des Sicherheitsmonopols, nicht aber des Gewaltmonopols der Vollzugspolizei einher (S. 145). Mit Blick auf den Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes erkennt Tuchscherer bei Betrachtung der Regelungen des § 99 HSOG nebst Verwaltungsvorschrift keinen Verstoß, kritisiert jedoch weiterhin Defizite in der Bestimmtheit nach außen (S. 146). Auch wenn Fragen zum etwaigen Rechtsschutz in der Regelung nach innen eindeutig beantwortet werden können, sei die Erkennbarkeit der bestellenden Behörde nach außen wiederum nicht grundsätzlich gewährleistet (S. 148).

Im letzten Kapitel geht Tuchscherer der Frage zu ähnlichen Regelungen anderer Länder bzw. des Bundes analog zu § 99 HSOG nach. Bei Betrachtung der länderspezifischen Regelungen, die allesamt die Einrichtung von Hilfspolizeibeamten, Hilfspolizeien oder sonstigen kommunalen Ordnungsdiensten normierten (S. 151), erscheine insbesondere bemerkenswert, dass nur die Bundesländer Hamburg, Saarland, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt die Befugnis zum (Schuss)Waffengebrauch explizit ausschließen (S. 153). Die grundsätzliche Regelungslage in Berlin wird in Bezug auf den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts von Tuchscherer mangels einer entsprechenden Regelung im Gefahrenabwehrgesetz für unvereinbar erklärt (S. 154/155). Im Ergebnis dieser länderübergreifenden Betrachtung stuft Tuchscherer den § 99 HSOG nebst Durchführungsverordnung und Verwaltungsvorschrift als „die ausführlichste“ ein, gleichzeitig seien der Stadtpolizei die umfangreichsten polizeilichen Aufgaben und Befugnisse inkl. Schusswaffengebrauch übertragen (S. 156). Schon allein dieser Umstand ließe eine Angleichung an die Regelungen anderer Länder nicht zu. Die Forderung nach einer Ausweispflicht wird an dieser Stelle von der Autorin erneut erhoben (S. 157).

Ergänzend unterzieht Tuchscherer die Bundespolizei einem direkten Vergleich mit Hilfspolizeibeamten, insbesondere  der  Stadtpolizei  (S. 158 ff.).  Diesem  Gedanken kann, auch vor dem Hintergrund eines etwaigen Verwechselungspotenzials mit Länderpolizeien, nicht gefolgt werden, da es sich gerade nicht um Hilfspolizeibeamte, sondern eine eigenständige polizeiliche Vollzugsbehörde handelt. Allein der Wortteil „Polizei“ und die ähnliche Uniform rechtfertigen diesen Vergleich ausdrücklich nicht. Die Ausführungen zu der Möglichkeit der Bundespolizei, nach dem BPolG Hilfspolizeibeamte zu bestellen, was dann wieder themenspezifisch sinnvoll ist, werden ausschließlich allgemein gehalten (S. 160/161).

Die vorgenannten länderspezifischen Varianten kommunaler Sicherheitsakteure strukturiert Tuchscherer in drei grundlegende Modelle. Dabei ordnet sie die Stadtpolizei Frankfurt in das Modell ‚Polizei light‘ ein, welches „nicht die Ergänzung, sondern den sukzessiven Ersatz der Polizei vorsieht“ (S. 162).

In ihrer Zusammenfassung kommt Tuchscherer zu dem Schluss, dass kommunale Ordnungsdienste Polizeiarbeit in Gemeinden und Städten zunehmend ersetzen. Eine tatsächliche Verbesserung der Sicherheitslage könne allerdings nicht belegt werden (S. 165). Gegen die Bezeichnung Stadtpolizei als „Polizei“ seien keine Einwände zu erheben. Die Ausbildung derselben sei jedoch defizitär. Es sei ein Trend der „Verhilfspolizeilichung“, jedoch nicht der „Entpolizeilichung“ erkennbar (S. 166). Rechtliche wie sicherheitspolitische Mängel müssten behoben werden (S. 167 f.).

Die vorliegende Arbeit von Tuchscherer besticht durch ein im Kontext der immerwährenden Debatte um mehr Sicherheit spannendes Thema. Auch wenn der Gedanke etwaiger Synergien verschiedener Sicherheitsakteure zunächst attraktiv erscheint, wird hinsichtlich bestehender Problematiken umfassend sensibilisiert. Das Werk ist facettenreich gestaltet, in Umfang und Sprachgebrauch gut lesbar. Die fehlende Tiefe zu einzelnen Themenbereichen wird deutlich zu Gunsten der Breite bei der Auswahl der Unterthemen entschieden. Die einzelnen Kapitel leiten im Wesentlichen logisch ineinander über, wenn auch teilweise beim Lesen der Eindruck etwaiger Wiederholungen auftritt. Aussagen bzw. Annahme aus vorangegangenen Kapiteln werden teilweise an späterer Stelle nach eingehender Prüfung revidiert bzw. bestätigt, was den inneren Zusammenhang der Arbeit verdeutlicht. Streitstände, die durch die Darstellungen unterschiedlicher Ansichten entstehen, bleiben teilweise leider unentschieden, was der Qualität der Arbeit als Ganzes jedoch keinen Abbruch tut. Insofern lohnt sich eine Lektüre allemal und wird der thematisch geneigten Leserschaft empfohlen.

 

[1]      Zur besseren Lesbarkeit und aus Vereinfachungsgründen wird lediglich die maskuline Begriffsform genannt. Damit sind sowohl Männer als auch Frauen gemeint.

 

Medien – Kriminalität – Kriminalpolitik Fachtagung der Kriminologischen Zentralstelle am 19. und 20. Oktober 2017

von Wiss. Mit. Fredericke Leuschner und Wiss. Mit. Dr. Matthias Rau

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I. Einführung

Die Kriminologische Zentralstelle (KrimZ) veranstaltet als zentrale Forschungs- und Dokumentationseinrichtung des Bundes und der Länder für den Bereich der Strafrechtspflege seit ihrem Bestehen 1986 regelmäßig Fachtagungen zu aktuellen Themen der Kriminalpolitik. Die Veranstaltung im Oktober 2017 widmete sich der wechselseitigen Beziehung zwischen Justiz und Medien sowie der medialen Darstellung von Kriminalität und deren Auswirkung auf Einzelpersonen oder kriminalpolitische Fragestellungen. Weitere Themen waren die sich rapide wandelnden Voraussetzungen journalistischer Arbeit und die Möglichkeiten, Medien im Zusammenhang von Kriminalprävention und Resozialisierung von Straffälligen zu nutzen.

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