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ALLGEMEINE BEITRÄGE

Versuchsstrafbarkeit von Cybergrooming? 
von Prof. Dr. Anne Schneider 

Tätlichkeiten (§ 185 StGB) und tätliche Angriffe (§ 114 StGB) als unterschiedliche Ehrverletzungsmodalitäten? 
von Prof. Dr. Fredrik Roggan 

Coronavirus, Strafrecht und objektive Zurechnung 
von Wiss. Mit. Lukas Cerny und Wiss. Mit. Johannes Makepeace

Die Herstellung von Waffengleichheit zwischen Justiz und Rechtsmittelführer durch Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist
von RiOLG Prof. Dr. Matthias Jahn, RAin Stefanie Schott und RA Björn Krug 

Anmerkung zum "Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft"
von RiBGH Renate Wimmer

Big Data-Based Predictive Policing and the Changing Nature of Criminal Justice
von Prof. Dr. Carsten Momsen and Cäcilia Rennert, Attorney at Law 

AUSLANDSBEITRAG

Die Vorratsdatenspeicherung in der türkischen Rechtsordnung gemessen an den Anforderungen des EGMR und der EMRK
von Dr. Çiler Damla Bayraktar

BUCHBESPRECHUNGEN

Benjamin J Goold and Lira Lazarus: Security, Populism, Human Rights and the underestimated Role of AI and Big Data
von Prof. Dr. Carsten Momsen, Cäcilia Rennert, Attorney at Law and Marco Willumat 

Till Zimmermann: Das Unrecht der Korruption. Eine strafrechtliche Theorie
von Prof. Dr. Anja Schiemann 

Sebastian Bauer: Soziale Netzwerke und strafprozessuale Ermittlungen 
von Prof. Dr. Anja Schiemann 

TAGUNGSBERICHT

Defence Counsel at the International Criminal Tribunals, Berlin, am 25. Januar 2020
von RAin Pia Bruckschen

 

 

 

Die Sterbehilfe bei freiverantwortlichem Sterbewillen – Ein strafwürdiges Verhalten?

von Wiss. Mit. Carolin Coenen

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Abstract

Die Frage, innerhalb welcher Grenzen andere Personen Sterbewillige bei ihrem selbstbestimmten Tod unterstützen dürfen, stellt die (Straf‑)Gesetzgebung vor erhebliche Herausforderungen. Der Gesetzgeber sah sich im Jahr 2015 – trotz erheblicher Kritik von überwiegenden Teilen in der Strafrechtswissenschaft – veranlasst, die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung zu kriminalisieren. Der im Rahmen des Aufsatzwettbewerbs eingereichte Beitrag beleuchtete die Rechtslage bis zum 31.12.2019. Wegen der am 26.2.2020 ergangenen Entscheidung des BVerfG wurde der Beitrag überarbeitet und entsprechend die Feststellungen zur Nichtigkeit des § 217 StGB berücksichtigt. Insgesamt zielt der Beitrag darauf ab, die widerstreitenden Interessen im Bereich der Sterbehilfe auszugleichen. Hierzu wird ein rechtspolitischer Handlungsvorschlag zur Reform des § 216 StGB unterbreitet.

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Straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Maßnahmen des Bundes und der Länder im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie

Aktuelle Rechtsprechung der Obergerichte im Zusammenhang mit dem Corona-Virus finden Sie hier.

Bund
Baden-Württemberg Bayern
Berlin Brandenburg
Bremen Hamburg
Hessen Mecklenburg-Vorpommern
Niedersachsen Nordrhein-Westfalen
Rheinland-Pfalz Saarland
Sachsen Sachsen-Anhalt
Schleswig-Holstein Thüringen

Im Folgenden soll kurz der Zusammenhang zwischen den Maßnahmen der Bundesregierung und den Landesregierungen sowie das Zusammenspiel vom Infektionsschutzgesetz (IfSG) mit den Rechtsverordnungen und Allgemeinverfügungen der Landesregierungen und örtlichen Ordnungsbehörden beleuchtet werden.

§§ 28 bis 32 IfSG als Ausgangsnormen

Ausgangspunkt aller Maßnahmen sind die §§ 28-32 IfSG als bundesrechtliche Normen. § 28 Abs. 1 Satz 1 gibt der zuständigen Behörde das Recht, verschiedene Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Krankheit zu treffen. Nach Satz 2 kommen dafür auch explizit die momentan spürbaren Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen in Betracht. § 32 IfSG stellt in diesem Zusammenhang klar, dass die Landesregierungen die konkreten Maßnahmen in Form einer Rechtsverordnung selbst erlassen oder die Kompetenz dazu per Rechtsverordnung delegieren können. Genau diese Rechtsverordnungen sind von allen Landesregierungen erlassen worden und sorgen für die leicht unterschiedliche Regelungsintensität in den verschiedenen Bundesländern. Der von der Bundesregierung, in Gesprächen mit den Ministerpräsidenten der Länder, erarbeitete Maßnahmenkatalog stellt daher nur eine Umsetzungsempfehlung dar, die eine möglichst große Einheitlichkeit der Maßnahmen in den Bundesländern herstellen soll.

Umsetzung durch die Länder

In vielen Bundesländern ist die Kompetenz zum Erlass dieser Maßnahmen per Rechtsverordnung auf die Gesundheitsministerien übertragen worden. Die Kreise und kreisfreien Städte haben ebenfalls die Möglichkeit gem. §§ 16 Abs. 1 Satz 1, 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG Anordnungen im Wege einer Allgemeinverfügung zu erlassen. Um diese Regelungen im Bundesland einheitlich auszurichten, besteht für die Landesregierung als Aufsichtsbehörde die Möglichkeit, eine fachaufsichtsrechtliche Weisung zu erlassen, die vorgibt, welche Leitlinien die örtlichen Ordnungsbehörden bei dem Erlass einer Allgemeinverfügung zu beachten haben. Somit gelten für den Bürger die Rechtsverordnungen seiner jeweiligen Landesregierung unmittelbar und auch die örtlich zuständige Ordnungsbehörde (Gemeinde oder Landkreis) kann eine im Einzelfall sogar weitergehende Allgemeinverfügung für ihren Zuständigkeitsbereich erlassen.

Straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Folgen

Verstöße gegen Ge- oder Verbote aus solchen Allgemeinverfügungen und Rechtsverordnungen können straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Folgen haben. Gemäß § 73 Abs. 1a Nr. 6 IfSG stellen Verstöße gegen vollziehbare Anordnungen der Behörden nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG Ordnungswidrigkeiten dar, die nach § 73 Abs. 2 IfSG mit Geldbußen in Höhe von bis zu 25.000€ geahndet werden können. Auch der unmittelbare Verstoß gegen eine Rechtsverordnung, die auf Grundlage des § 32 IfSG erlassen worden ist, ist ohne vollziehbare Anordnung gem. § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG als Ordnungswidrigkeit ahndbar. Verstöße gegen Anordnungen nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG, also beispielsweise Versammlungsbeschränkungen, Betretungsverbote oder Veranstaltungsverbote, stellen gemäß § 75 Abs. 1 Nr. 1 IfSG sogar Straftaten dar, die mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden können. Eine noch höhere Strafe droht demjenigen, der eine Anordnung nach § 28 Abs. 2 Satz 2 IfSG verletzt und dadurch eine in § 6 Abs. 1 Nr. 1 IfSG genannte Krankheit oder einen in § 7 IfSG genannten Krankheitserreger verbreitet. In solchen Fällen ist eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten bis zu fünf Jahren möglich (§ 75 Abs. 3 IfSG). Welche Bußgelder im einzelnen tatsächlich bei Verstößen verhängt werden, liegt im Ermessen der handelnden Ordnungsbehörde.

Entwurf eines Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht

Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27. März 2020: BGBl. I 2020 Nr. 14, S. 569 ff. 

Gesetzentwürfe: 

 

Die Bundesregierung hat am 24. März 2020 eine Formulierungshilfe für ein Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht veröffentlicht. Das Virus SARS-CoV-2 hat in ganz Deutschland zu beträchtlichen Einschränkungen im Privat- und Wirtschaftsleben geführt und betrifft auch die Gerichte und Staatsanwaltschaften, insbesondere die strafgerichtliche Hauptverhandlung. Schon im Dezember 2019 wurden mit dem Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens die Fristen für eine Unterbrechung der Hauptverhandlung bei Krankheit, Mutterschutz und Elternzeit (§ 229 Abs. 3 StPO) verlängert. Bereits jetzt sei aber absehbar, dass die verlängerten Unterbrechungsfristen nun nicht mehr ausreichen. Ein zusätzlicher Hemmungstatbestand soll die Fortsetzung der aufgrund der COVID-19-Pandemie unterbrochenen Strafverfahren sichern und eine Neuverhandlung der Prozesse vermeiden. 

Dazu soll § 10 EGStPO wie folgt gefasst werden: 

„§ 10  – Hemmung der Unterbrechungsfristen wegen Infektionsschutzmaßnahmen 

(1) Unabhängig von der Dauer der Hauptverhandlung ist der Lauf der in § 229 Absatz 1 und 2 der Strafprozessordnung genannten Unterbrechungsfristen gehemmt, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate; diese Fristen enden frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung. Beginn und Ende der Hemmung stellt das Gericht durch unanfechtbaren Beschluss fest. 

(2) Absatz 1 gilt entsprechend für die in § 268 Absatz 3 Satz 2 der Strafprozessordnung genannte Frist zur Urteilsverkündung.“ 

Der Deutsche Anwaltverein hat bereits zu dem Entwurf Stellung genommen. Er begrüßt grundsätzlich den Vorschlag der Bundesregierung, sieht allerdings auch in einigen Punkten Nachbesserungsbedarf. Die Stellungnahme finden Sie hier

Neben den Änderungen im Strafverfahrensrecht sieht der Gesetzentwurf auch solche im Bereich des Zivil- und Insolvenzrechts vor.

Am 25. März 2020 hat der Bundestag den Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD einstimmig angenommen. Am 27. März 2020 stimmte der Bundesrat in einer Sondersitzung ebenfalls für den Entwurf. Die Regelungen gelten begrenzt für die derzeitige Ausnahmesituation, danach erfolgt die Rückkehr zur bisherigen Lage. 

Das Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (BGBl. I 2020 Nr. 14, S. 569 ff.) wurde am selben Tag noch im Bundesgesetzblatt verkündet. Artikel 3 (Änderungen im Strafverfahrensrecht) trat bereits einen Tag später in Kraft. 

 

 

Neuere Entwicklungen in der Kriminalpolitik als Ausdruck der Krise des Liberalismus

von Max Wrobel 

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Abstract
Der Beitrag analysiert aktuelle Phänomene der Kriminalpolitik vor dem Hintergrund der These eines gegenwärtigen antiliberalistischen Umschwungs. Zugrunde gelegt wird – notwendig vergröbernd – das Luhmann’sche Modell funktionaler Differenzierung der Gesellschaft, in welchem die Kriminalpolitik als ein gesellschaftlicher Funktionsbereich unter vielen verortet ist. Zur Entfaltung der These soll einführend die gesellschaftliche Entwicklung prägnant anhand anderer gesellschaftlicher Funktionsbereiche exemplifiziert werden.

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Die deutsche Staatsanwaltschaft -„objektivste Behörde der Welt“ oder doch nur ein Handlanger der Politik?

von Jannika Thomas 

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Abstract

Der nachfolgende Aufsatz gibt einen Überblick über die Institution der Staatsanwaltschaft und deren Stellung im deutschen Rechtssystem. Es wird das gegenüber der Staatsanwaltschaft bestehende Weisungsrecht analysiert und eine Reformation dessen, sowie der Stellung der Staatsanwaltschaft untersucht. Der Aufsatz soll als Anregung der Diskussion über die Schaffung einer, wie im europäischen Rechtsraum üblichen, unabhängigen Staatsanwaltschaft, dienen.

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Das Bemessungsproblem bei der Operationalisierung der Schuldschwereklausel (§ 57a StGB)

von Prof. Dr. Gunnar Duttge

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Abstract
Die Kategorie der besonderen Schuldschwere als gesetzlich vorgegebene Stellschraube bei der Beurteilung, wann eine Strafaussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe frühestens in Betracht kommen kann, produziert auffallend eine erhebliche Portion Ratlosigkeit: Einige wollen sie am liebsten ersatzlos gestrichen sehen, andere deuten sie in einer Weise, die – insbesondere im Verhältnis zu spezial- und generalpräventiven Aspekten – kaum noch Konturen erkennen lässt. Die Expertenkommission zur Reform der Tötungsdelikte hatte sich mit einer knappen Zufallsmehrheit von 8 zu 7 Stimmen für ihre Beibehaltung eingesetzt, wusste aber nicht, ob die hierfür relevanten und zur Aufnahme in das Gesetz empfohlenen Faktoren – und wenn ja: welche – als abschließend oder nur als exemplarische Aufzählung verstanden werden sollten (beides wurde abgelehnt). In verfahrensrechtlicher Hinsicht forderte die Kommission zugleich eine frühere Festlegung als erst nach Ablauf der gesetzlichen Mindestverbüßungsdauer von 15 Jahren („zum Beispiel fünf Jahre nach Beginn der Inhaftierung“), hielt jedoch an einer Zuständigkeit des Strafvollstreckungsgerichts fest. Überzeugend und wohldurchdacht sind diese Vorschläge nicht.

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Das Gesichtsverhüllungsverbot im Strafverfahren

von Prof. Dr. Wolfgang Mitsch 

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Abstract
Von den zahlreichen Maßnahmen zur Modernisierung des Strafverfahrens[1] hat die Ergänzung des § 176 GVG um den neuen Absatz 2 im Gesetzgebungsverfahren den geringsten Diskussionsbedarf erzeugt. In der öffentlichen Expertenanhörung vor dem Bundestagsausschuss für Recht und Verbraucherschutz haben sich die Sachverständigen zu diesem Punkt überhaupt nicht geäußert[2] bzw. lediglich kurze zustimmende Stellungnahmen abgegeben.[3] Deswegen sucht der am Thema Interessierte vergeblich nach Informationen über einige mit § 176 Abs. 2 GVG zusammenhängende Folgefragen, die weder gesetzlich normiert noch erkennbar diskutiert worden sind.  Auch die Kommentare zu StPO und GVG geben beispielsweise keine präzise Auskunft darüber, wie denn das Gebot des unverhüllten Erscheinens vor dem Richter praktisch durchgesetzt wird, wenn die betroffene Frau sich weigert, der Aufforderung zur Entfernung der Verhüllung nachzukommen.  Schon vor Einführung des § 176 Abs. 2 GVG durfte nach einhelliger Ansicht der Vorsitzende Richter auf der Grundlage des § 176 GVG ein Verhüllungsverbot anordnen.[4] Das Gesetz enthielt aber ein solches Verbot nicht und schon gar nicht Verfahrensvorschriften zur Durchsetzung seiner Befolgung. An letzterem hat das Modernisierungsgesetz nichts geändert. Soll der Richter notfalls selbst mit unmittelbarem Zwang – also mit Gewalt – eine renitente Zeugin oder Angeklagte ihrer Gesichtsverhüllung entledigen?  Es versteht sich von selbst, dass allen Beteiligten peinliche Situationen erspart bleiben und Eskalationen vermieden werden müssen.  Männliche Vollstrecker der Verbotsdurchsetzung müssen davor geschützt werden, sich durch Erfüllung ihrer Pflicht in die Gefahr zu begeben, berechtigten oder unberechtigten Vorwürfen sexueller Übergriffigkeit (§§ 177, 184 i StGB) – „me too“ – ausgesetzt zu sein. Umgekehrt muss die betroffene Frau selbstverständlich vor ebensolchen Grenzüberschreitungen geschützt werden. Daher wäre beispielsweise eine flankierende Regelung sinnvoll gewesen, die ähnlich wie § 81 d StPO sicherstellt, dass es nicht im Ermessen des Richters liegt, welche Justizwachtmeisterperson mit der gewaltsamen Enthüllung der Frau – sofern diese überhaupt zulässig ist – beauftragt wird. Nicht nur diese Regelungslücke verweist auf die mangelnde Sensibilität der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten für die heikle Konfliktlage, die ein Verhüllungsverbot gegenüber Personen heraufbeschwört, die ihr Antlitz aus religiösen Gründen zur Abwehr von – lüsternen oder nicht lüsternen – Blicken anderer Menschen – insbesondere männlichen  Geschlechts – mit Textilien bedecken. Welch schwere Demütigung es für eine Frau bedeuten kann, gewaltsam gezwungen zu werden, die Betrachtung ihres Gesichts durch fremde Menschen zu dulden, kann sich unsere aufgeklärte und säkularisierte Gesellschaft offenbar schwer vorstellen. Wird doch in unserer von „westlichen Werten“ durchdrungenen Demokratie jede Form der Verhüllung des Körpers muslimischer Frauen als Resultat von Unterdrückungsmechanismen eines irrational rückständigen illiberalen Patriarchats angesehen, angesichts dessen die Muslima nur froh sein kann, von der ihr aufgezwungenen Einschnürung ihres Körpers befreit zu werden.[5]

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KriPoZ-RR, Beitrag 23/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 12.03.2020 – C‑659/18: Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand darf nicht entzogen werden, wenn Beschuldigter nicht vor Untersuchungsrichter erscheint

Amtlicher Leitsatz:

Die Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, insbesondere ihr Art. 3 Abs. 2, ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inanspruchnahme des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in der vorgerichtlichen Phase des Strafverfahrens aufgrund des Nichterscheinens des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person auf eine Ladung vor einen Untersuchungsrichter ausgesetzt werden kann, bis der nationale Haftbefehl gegen den Betroffenen vollzogen ist.

Sachverhalt:

Das Untersuchungsgericht Nr. 4 von Badalona, Spanien hat dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob nationale Regelungen, die es vorsehen, das Recht des Beschuldigten auf Zugang zu seinem Rechtsbeistand im vorgerichtlichen Verfahren an bestimmte Bedingungen zu knüpfen, gegen Unionsrecht verstoßen.

Anlass zu dieser Frage bot ein Verfahren, das in Spanien wegen des Vorwurfs des Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Urkundenfälschung geführt worden war. Der Beschuldigte hatte in einer Verkehrskontrolle einen gefälschten bulgarischen Führerschein vorgezeigt. Zu seiner richterlichen Vernehmung war er nicht erschienen. Daraufhin hatte sich eine ordnungsgemäß bevollmächtigte Strafverteidigerin bei den Behörden gemeldet und beantragt, dass alle maßgeblichen Dokumente an sie verschickten werden. Nach der geltenden Rechtslage in Spanien wäre es nun möglich gewesen, dem Beschuldigten den Zugang zu seiner Verteidigerin zu verwehren bzw. diese nicht anzuerkennen bis er persönlich bei Gericht erschienen ist. Das Vorlegende Gericht hat Zweifel, ob diese nationale Regelung mit der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs vereinbar ist.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH entschied, dass die spanische Regelung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

Zunächst stellte er fest, dass die Richtlinie unmissverständlich anordne, dass jedem Beschuldigten auch schon vor der ersten Befragung durch die Strafverfolgungsbehörden das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zugutekomme.

Von diesem Recht des Beschuldigten dürfe in der Praxis nur aufgrund der wenigen in der Richtlinie angegebenen Ausnahmen, insbesondere die große geographische Entfernung, abgewichen werden.

Eine solche Ausnahme sei im vorliegenden Fall jedoch nicht ersichtlich, so der EuGH.

Weitere Ausnahmen könne der nationale Gesetzgeber nicht vorsehen, da die Richtlinie insoweit abschließend sei. Käme den nationalen Gesetzgebern das Recht zu eigene Ausnahmetatbestände, ähnlich dem in Spanien, zu schaffen, würde dies die Systematik und die Zwecke der Richtlinie konterkarieren.

Damit sei es rechtswidrig, das Recht des Beschuldigten auf Zugang zu einem Rechtsbeistand von seinem Erscheinen vor dem Untersuchungsrichter abhängig zu machen. Insoweit verstoße die spanische Regelung gegen Unionsrecht.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Anforderungen der Richtlinie sind in Deutschland durch das zweite Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts umgesetzt worden. Die Richtlinie und Informationen zur nationalen Umsetzung finden Sie hier.

 

 

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