Gesetzesantrag zur zeitlich unbegrenzten Aufnahme von Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. in das erweiterte Führungszeugnis

Gesetzentwürfe: 

  • Gesetzesantrag der Länder Baden-Württemberg und Saarland: BR Drs. 63/22

Die Länder Baden-Württemberg und Saarland haben am 22. Februar 2022 erneut einen Gesetzesantrag zur zeitlich unbegrenzten Aufnahme von Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. in das erweiterte Führungszeugnis (BR Drs. 63/22, BR Drs. 645/19) in den Bundesrat eingebracht. Der wortgleiche Entwurf unterfiel in der vergangenen Legislaturperiode dem Grundsatz der Diskontinuität. Am 11. März 2022 erhielt der Antrag bei der Abstimmung im Plenum jedoch nicht die erforderliche Mehrheit von 35 Stimmen. 

 


19. Legislaturperiode: 

 

Das Land Baden-Württemberg brachte einen Gesetzesantrag zur zeitlich unbegrenzten Aufnahme von Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. in das erweiterte Führungszeugnis (BR Drs. 645/19) in den Bundesrat ein. 

Die letzte Änderung des BZRG (im Jahr 2009) sollte es betroffenen Stellen erleichtern, eine Entscheidung hinsichtlich etwaiger Umgangsverbote mit Minderjährigen für verurteile Kindesmissbrauchstäter zu treffen. Wegen der derzeitigen Aufnahme- und Tilgungsfristen des BZRG sei dies jedoch noch nicht in vollem Umfang erreicht.

Zum Minderjährigenschutz hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren die Vorsorge getroffen, einschlägig nach den §§ 174 bis 180, 182 StGB vorbestrafte Personen von einem beruflichen oder ehrenamtlichen Umgang mit Minderjährigen fernzuhalten und hat u.a. das erweiterte Führungszeugnis eingeführt. Das erweiterte Führungszeugnis (§ 30a Abs. 1 BZRG) enthält über das einfache Führungszeugnis (§ 30 Abs. 1 S. 1 BZRG) hinaus Eintragungen, die wegen geringer Strafhöhe nicht in das einfache Führungszeugnis aufgenommen werden.

Flankiert werden die Regelungen des BZRG seit Januar 2012 durch § 72a SGB VIII – Tätigkeitsausschluss einschlägig vorbestrafter Personen. Der Beschäftigungsausschluss für einschlägig Vorbestrafte in § 72a Abs. 1 S. 1 SGB VIII, ist weder zeitlich noch hinsichtlich der Strafhöhe begrenzt. Eine Begrenzung ergibt sich faktisch nur aus den Aufnahme- und Tilgungsfristen des BZRG. Die Aufnahmefrist des BZRG bemisst sich nach der Höhe der verhängten Strafe (§ 34 BZRG). Mit abnehmender Strafhöhe überwiegt demnach das Resozialisierungsinteresse des Verurteilten das Interesse der Adressaten auf Kenntnis von der Eintragung. Bei Verurteilungen nach den §§ 174 bis 180, 182 StGB zu einem Jahr Freiheits- oder Jugendstrafe gilt für das einfache Führungszeugnis eine Aufnahmefrist von 10 Jahren. Für andere Sexualstraftatbestände und die anderen in § 34 Abs. 2 BZRG genannten Straftaten gilt für das erweiterte Führungszeugnis ebenfalls eine Aufnahmefrist von 10 Jahren. Liegt die Freiheits- oder Jugendstrafe entsprechend jedoch unter einem Jahr, gilt eine Aufnahmefrist in die Führungszeugnisse von 3 oder 5 Jahren. Ist eine Eintragung zu tilgen, erhalten die Behörden, Gerichte oder sonstigen Stellen keine unbeschränkte Auskunft (§ 41 abs. 1 BZRG) mehr, auch nicht mehr über die Aufnahmefrist hinaus. Wann eine Eintragung zu tilgen ist, bestimmt sich ebenfalls nach der Strafhöhe. Hier beträgt die längste Frist für Straftaten nach §§ 174 bis 180, 182 StGB 20 Jahre, für Geldstrafen bis 90 Tagessätze 5 Jahre. Eine Tilgung bewirkt grundsätzlich ein Verwertungsverbot. Das heißt jedoch, dass eine Institution einen Tätigkeitsausschluss nach § 72a SGB VIII nicht mehr begründen kann, selbst wenn sie Kenntnis von der einschlägigen Verurteilung hat. Nur unter engen Voraussetzungen sieht § 52 BZRG dann noch eine Ausnahme vom Verwertungsverbot vor. 

In dem Gesetzesantrag kritisiert daher das Land Baden-Württemberg, dass es einschlägig vorbestraften Personen derzeit bereits wenige Jahre nach der Verurteilung möglich sei, einer beruflichen und ehrenamtlichen Beaufsichtigung, Betreuung oder Erziehung von Kindern und Jugendlichen nachzugehen. Dies sei zum Schutz der Minderjährigen nicht hinzunehmen und zu vermeiden. Der Gesetzentwurf sieht daher die Einführung eines § 33 Abs. 2 Nr. 4 BZRG vor, der Verurteilungen wegen Straftaten nach den §§ 176 bis 176 b, 184b, 184d Abs. 2 S. 1 oder 184e Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 StGB von der Aufnahmefrist ausnimmt, wenn ein erweitertes Führungszeugnis beantragt wird. Parallel dazu sollen die entsprechenden Verurteilungen auch von der Tilgung ausgenommen werden. 

Am 20. Dezember 2019 beschäftigte sich der Bundesrat mit dem Antrag Baden-Württembergs. Im Anschluss an die Sitzung wurde der Gesetzentwurf zwecks weiterer Beratung an die Ausschüsse überwiesen. Der Rechtsausschuss empfiehlt dem Bundesrat (BR Drs. 645/1/19) die Länderinitiative in den Bundestag mit der Maßgabe einzubringen, die Speicherung der Straftaten auf solche mit pädophiler Neigung zu beschränken. Eine zeitlich unbegrenzte Speicherung der Daten aus Fällen der Verurteilung nach JGG wegen des Umgangs mit kinderpornografischen Materialien oder des Besitzes kinderpornografischer Schriften durch Erwachsene, sei im Lichte des Resozialisierungsgedankens als unverhältnismäßig zu werten. 

Am 14. Februar 2020 beschloss der Bundesrat, den Gesetzentwurf in den Bundestag einzubringen und setzte dies am 24. März 2020 um (BT Drs. 19/18019). Mit Ablauf der Legislaturperiode unterfiel der Entwurf dem Grundsatz der Diskontinuität. 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 61/2019

Die Entscheidungen im Original finden Sie hier: Frankreich, Schweden und Belgien.

EuGH, Urt. v. 12.12.2019 – C-566/19 PPU, C-626/19 PPU, C-625/19 PPU, C-627/19 PPU: Französische, Schwedische und Belgische Staatsanwaltschaften dürfen Europäische Haftbefehle ausstellen

Amtliche Leitsätze:

C-566/19 PPU & C-626/19 PPU:

Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne dieser Bestimmung die Beamten der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats fallen, die mit der Strafverfolgung betraut sind und der Leitung und Kontrolle ihrer Vorgesetzten unterliegen, sofern ihnen ihr Status eine Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive im Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls verschafft.

Der Rahmenbeschluss 2002/584 ist dahin auszulegen, dass die einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen, in deren Genuss eine Person kommen muss, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Strafverfolgung erlassen wird, erfüllt sind, wenn nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats die Voraussetzungen für den Erlass dieses Haftbefehls und insbesondere seine Verhältnismäßigkeit Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle in diesem Mitgliedstaat sind.

C-625/19 PPU:

Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen, in deren Genuss eine Person kommen muss, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Strafverfolgung erlassen wurde, erfüllt sind, wenn nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats die Voraussetzungen für die Ausstellung dieses Haftbefehls und insbesondere seine Verhältnismäßigkeit in diesem Mitgliedstaat gerichtlich überprüft werden.

C-627/19 PPU:

Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die die Zuständigkeit für den Erlass eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Strafe einer Behörde übertragen, die zwar an der Rechtspflege in diesem Mitgliedstaat mitwirkt, aber selbst kein Gericht ist, jedoch keinen gesonderten Rechtsbehelf gegen die Entscheidung dieser Behörde, einen solchen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, vorsehen.

Sachverhalt:

In den nationalen Ausgangsverfahren hatten niederländische Gerichte über die Auslieferung zur Strafverfolgung bzw. Strafvollstreckung aufgrund Europäischer Haftbefehle aus Frankreich, Schweden und Belgien zu entscheiden.

Aufgrund dieser Verfahren hatten die Niederländer dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die betreffenden Staatsanwaltschaften als „ausstellende Justizbehörde“ anzusehen seien.

Entscheidung des EuGH:

Nach Ansicht des EuGH genügen die betreffenden Staatsanwaltschaften den Anforderungen der EU-Richtlinie und dürfen daher Europäische Haftbefehle ausstellen.

Zur Begründung führte der EuGH aus, dass die französische Staatsanwaltschaft zwar keine richterliche oder gerichtliche Organisation sei, aber die französischen Rechts- und Organisationsvorschriften dennoch eine genügende Unabhängigkeit von Weisungen der Exekutive sicherstellten. Weder die Möglichkeit des Justizministers allgemeine Weisungen auf dem Gebiet der Strafrechtspflege zu erteilen, noch der hierarchische Aufbau der Behörde sei unter Berücksichtigung aller Umstände geeignet, die Unabhängigkeit der Staatsanwälte in den konkreten Verfahren zu gefährden. Daher fielen die französischen Staatsanwaltschaften unter den Begriff der „ausstellenden Justizbehörde“.

Zudem stellte der Gerichtshof klar, dass das Erfordernis einer Möglichkeit zur gerichtlichen Kontrolle des Haftbefehls im Ausstellungsstaat bei Ausstellung durch eine Behörde, die kein Gericht sei, keine Voraussetzung für die Einordnung als ausstellende Justizbehörde darstelle. Die Schaffung eines solchen Rechtsbehelfs sei nur eine Möglichkeit, das von der Richtlinie geforderte Rechtsschutzniveau sicherzustellen.

Da das französische und schwedische Recht eine solche Rechtsschutzmöglichkeit vorsehe, bestünden an der unabhängigen Prüfung der Voraussetzungen und der Verhältnismäßigkeit des Haftbefehls keine Bedenken.

Bezüglich der belgischen Staatsanwaltschaft führte der EuGH aus, dass die Vorschriften über den Europäischen Haftbefehl keine besonderen Rechtsschutzmöglichkeiten forderten, wenn der Haftbefehl – wie in diesem Verfahren – nicht der Strafverfolgung, sondern der Strafvollstreckung diene. In einem solchen Fall genüge es, dass dem Verfolgten ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz im Strafverfahren zuteil werde. Stütze sich der Haftbefehl dann auf das rechtskräftige Urteil, bestünden keine Zweifel an der Berücksichtigung eines effektiven Grundrechtsschutzes.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Urteile stellen eine Fortentwicklung und Präzisierung der Rechtsprechung des EuGH zu den Anforderungen an die den Europäischen Haftbefehl ausstellende Behörde dar. Erst im Mai 2019 hatte der EuGH entschieden, dass die deutschen Staatsanwaltschaften nicht unabhängig genug für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls seien. Das Urteil finden Sie hier.

Eine korrespondierende Entscheidung des OLG Hamm finden Sie hier.

Dem Urteil folgte eine Debatte zur Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften in Deutschland, aufgrund derer die FDP-Fraktion einen Gesetzesentwurf „zur Stärkung der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft“ in den Bundestag einbrachte. Weitere Informationen erhalten Sie hier.

KriPoZ-RR, Beitrag 60/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 23.10.2019 – 2 StR 139/19: Versuchsbeginn beim Eingehungsbetrug in mittelbarer Täterschaft

Leitsatz der Redaktion:

Entlässt der Hintermann den Tatmittler aus seinem unmittelbaren Herrschaftsbereich, ist darin dann noch kein Versuchsbeginn zu sehen, wenn die Tatbegehung erst nach einer längeren Zeit erfolgen soll oder eine konkrete Rechtsgutsgefährdung beim Opfer noch nicht eingetreten ist.

Sachverhalt (gekürzt):

Das LG Wiesbaden hat den Angeklagten wegen versuchten Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung, schweren Bandendiebstahls in Tateinheit mit gewerbs- und bandenmäßiger Urkundenfälschung in zwei Fällen und Fahrens ohne Fahrerlaubnis in sieben Fällen verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte ein Bekannter des Angeklagten 2017 einen im Jahr 2008 gestohlenen PKW der Marke Bentley angekauft. Dem Angeklagten war daraufhin aufgefallen, dass das Fahrzeug eine sog. Doublette darstellte, also ein Fahrzeug mit gefälschter Fahrzeugidentifikationsnummer. Er hatte dann den gutgläubigen Zeugen S mit der Bitte kontaktiert, das Fahrzeug im Kundenauftrag zu verkaufen und ihm gefälschte Fahrzeugpapiere vorgelegt. Auf dieses Angebot hatte sich ein Interessent gemeldet, zu einem Vertragsschluss war es jedoch nicht gekommen.

In einer weiteren Tat, hatte der Angeklagte eine Garage angemietet, um in dieser mit seinen Bekannten von diesen gestohlene Autos „aufzubereiten“, also unter anderem die Fahrzeugidentifikationsnummer zu verändern. Die PKWs wurden vor einem Verkauf von der Polizei sichergestellt.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da die Feststellungen eine Verurteilung wegen versuchten Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung und wegen schweren Bandendiebstahls in Tateinheit mit gewerbs- und bandenmäßiger Urkundenfälschung nicht trügen.

Die Einschaltung des Zeugen S sei als mittelbare Täterschaft zu werten, was Auswirkungen auf die Beurteilung des Versuchsbeginns habe. Im Grundsatz sei der Versuchsbeginn bei Beteiligung eines mittelbaren Täters schon dann zu sehen, wenn der Hintermann die Einwirkung auf den Tatmittler abgeschlossen habe, so der BGH. Mit dem Entlassen des Tatmittlers sei ein unmittelbares Ansetzen für den Hintermann zu bejahen, wenn dieser die Vorstellung gehabt habe, dass die Tatbegehung in engem Zusammenhang mit seiner Einwirkung geschehe.

Etwas anderes müsse gelten, wenn die Tatbegehung erst nach längerer oder ungewisser Zeit erfolgen soll, das Opfer also nach der Vorstellung des mittelbaren Täters noch nicht oder nur möglicherweise konkret gefährdet ist.

In diesen Fällen sei auch für das unmittelbare Ansetzen des Hintermanns der Versuchsbeginn des Tatmittlers maßgeblich.

Zu diesen Gesichtspunkten blieben die Feststellungen des landgerichtlichen Urteils zu unkonkret.

Ebenso habe das LG nicht tragfähig begründet, warum eine Mittäterschaft des Angeklagten vorliegen solle, indem er die Garage anmietete.

Bei jeder Bandentat sei vereinzelt festzustellen, welchen Grad der Tatbeteiligung die Handlung eines Bandenmitglieds erfülle, dies gelte vor allem bei der Abgrenzung zwischen Mittäterschaft und Beihilfe. Hier sei eine wertende Gesamtbetrachtung mithilfe folgender Kriterien vorzunehmen: Interesse an der Durchführung der Tat, Umfang der Tatherrschaft und der Wille zur Tatherrschaft. Die ledigliche Förderung der Ausführung der eigentlichen Tathandlung genüge für eine (Mit-)Täterschaft gerade nicht.

Auch diese Fragestellung könne anhand der Feststellungen des LG nicht abschließend beurteilt werden, sodass eine Aufhebung des Urteils geboten gewesen sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die breit diskutierte Frage nach dem Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft hat der BGH schon hier diskutiert.

KriPoZ-RR, Beitrag 59/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 17.10.2019 – 3 StR 170/19: Zur prozessualen Tat

Leitsatz der Redaktion:

Wird ein Teilgeschehen der prozessualen Tat in der Anklage einem anderen, nicht ermittelbaren Täter zugerechnet und stellt sich dann heraus, dass dieses Teilgeschehen doch vom Angeklagten verwirklicht worden ist, unterliegt auch dieses der Kognitionspflicht aus § 264 StPO.

Sachverhalt:

Das LG Düsseldorf hat den Angeklagten wegen Einschleusens von Ausländern in vier Fällen verurteilt und ihn von einem weiteren Tatvorwurf freigesprochen. Gegen diesen Teilfreispruch richtete sich die Revision der StA.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte als Zahlungsstelle für Flüchtlinge fungiert und deren Zahlungen für die Schleusung nach Abzug einer Provision an die eigentlichen Schleuser weitergeleitet. Als dem Teilfreispruch zugrundeliegender Sachverhalt wurde vom LG festgestellt, dass der Angeklagte einen Anruf von einer sich in Deutschland aufhaltenden Eritreerin erhalten haben soll, die dem Angeklagten mitgeteilt haben soll, dass ihr Mann in Libyen von Schleusern gefangen gehalten werde und mit seiner Enthauptung bedroht worden sei. Der Angeklagte solle daraufhin von der Frau 1000€ als Gegenleistung für die Freilassung und Schleusung ihres Mannes zuzüglich einer 13,4 prozentigen Provision für sich selbst gefordert haben. Das Geld hatte die Frau am Hauptbahnhof einem – in jedem Fall anderen – unbekannt gebliebenen Mann gegeben, was zur Freilassung und Schleusung ihres Mannes geführt hatte.

Das LG hatte sich nicht davon überzeugen können, dass der Angeklagte den Anruf tatsächlich entgegengenommen hatte, da es auch möglich sei, dass der Angeklagte derjenige gewesen war, der das Geld am Bahnhof angenommen hatte. Für diese Geldannahme könne der Angeklagte allerdings nicht belangt werden, da diese Tat nicht angeklagt gewesen sei.

Entscheidung des BGH:

Der BGH gab der Revision der StA statt, da das LG seine umfassende Kognitionspflicht aus § 264 StPO nicht erfüllt habe.

Die Strafkammer sei fälschlicherweise davon ausgegangen, dass die Annahme des Geldes am Hauptbahnhof nicht Teil der angeklagten prozessualen Tat gewesen sei.

Die angeklagte Tat im prozessualen Sinne umfasse den gesamten umschriebenen geschichtlichen Vorgang. Maßgeblich sei nicht nur das dem Angeklagten angelastete, sondern sein gesamtes Verhalten, soweit es einen einheitlichen Vorgang mit der angeklagten Tat bilde. Dies gelte auch für Tatsachen, die sich erst in der Hauptverhandlung ergeben (§ 264 Abs. 1 StPO). Eine Grenze der Kognitionspflicht sei erst erreicht, wenn das zugrundeliegende Geschehen vollständig verlassen werde und die Identität der angeklagten Tat nicht mehr gewahrt sei.

Maßgebliche Abgrenzungskriterien seien die Merkmale, die eine Tat als einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichneten, zum Beispiel: Ort und Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die Handlungsrichtung und das Objekt des Täterverhaltens.

Daraus ergebe sich, dass auch ein Verhalten, das in der Anklage noch einer anderen Person zugerechnet worden war, das sich aber im Rahmen der Hauptverhandlung als Verhalten des Angeklagten darstelle, als Bestandteil der angeklagten Tat gewertet werden könne, wenn es sich um ineinander übergehende und sich überschneidende Geschehensabläufe handele, so der BGH.

Da die Annahme des Geldes am Hauptbahnhof schon in der Anklage beschrieben worden sei, könne deren strafrechtliche Relevanz vom LG durchaus geprüft werden, wenn sich in der Hauptverhandlung herausstelle, dass der Angeklagte das Geld persönlich in Empfang genommen habe.

Nach den oben genannten Kriterien, handele es sich noch um den angeklagten Verfahrensstoff, sodass das LG diesen rechtlich zu würdigen gehabt hätte.

Anmerkung der Redaktion:

Maßgeblich für die Beurteilung der Identität des geschichtlichen Vorgangs ist die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung (BGH, Urt. v. 20.12.1995 – 2 StR 113/95).

KriPoZ-RR, Beitrag 58/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 21.08.2019 – 3 StR 7/19: Konkurrenzverhältnis Urkundenfälschung und –unterdrückung

Leitsatz der Redaktion:

Die durch Beschädigen einer echten Urkunde begangene Urkundenunterdrückung nach § 274 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 StGB tritt hinter der Urkundenfälschung im Sinne des § 267 Abs. 1 Var. 2 StGB im Wege der Konsumtion zurück.

Sachverhalt:

Das LG Verden hat den Angeklagten wegen Geldfälschung in Tateinheit mit Betrug in zwei Fällen, wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Urkundenunterdrückung in acht Fällen verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Beschuldigte mit anderen Mittätern Bescheinigungen der DEKRA und des TÜV gefälscht, um Autofahrern, die sich einer MPU unterziehen mussten, bei der Wiedererlangung ihres Führerscheins zu helfen. Dazu hatten sie sich Papier in der Art besorgt, wie es von den Prüfstellen verwendet wird und auf diesem Papier eine bestandene MPU bescheinigt. Anschließend waren die Vernietung und das Siegel des originalen Zeugnisses gelöst und auf dem von ihnen erstellten Zeugnis angebracht worden.

Entscheidung des BGH:

Der BGH gab der Revision des Angeklagten statt, da die rechtliche Würdigung des LG rechtsfehlerhaft sei.

Verwirkliche dieselbe Handlung eines Täter die Verletzung mehrerer Gesetze, sei grundsätzlich von Tateinheit (§ 52 StGB) auszugehen.

Ausnahmen von diesem Grundsatz seien nur in den Fällen der Gesetzeskonkurrenz zu machen, also in Fällen der Subsidiarität, Spezialität oder Konsumtion.

Typisch für die Konsumtion sei es, dass die verschiedenen Tatbestände in einem kriminologischen Zusammenhang stünden und der Schuldgehalt der Tat schon durch die Nennung des schwereren Delikts im Schuldspruch genügend zum Ausdruck komme. Insofern bestehe gerade kein Rangverhältnis zwischen den verschiedenen Delikten wie beispielsweise bei der Subsidiarität.

Die Konsumtion erfasse somit typische Begleittaten, selbst wenn diese ein anderes Rechtsgut schützten, so der BGH.

Auch in dem zu entscheidenden Fall sprächen die Unterschiedlichen Rechtsgüter der §§ 274 und 267 StGB zwar für die Annahme von Tateinheit, allerdings sei die Urkundenunterdrückung eine typische Begleittat bei der Verfälschung einer echten Urkunde, denn es sei kein Fall denkbar, bei dem eine echte Urkunde verfälscht werde, ohne das zugleich eine Beschädigung dieser Urkunde stattfinde. Auch die unterschiedlichen Vorsatzgrade hätten für die konkurrenzrechtliche Bewertung keine Relevanz. Somit enthalte das Beschädigen einer Urkunde keinen eigenständigen und über die Verfälschung hinausgehenden Unrechtsgehalt.

 

Anmerkung der Redaktion:

Den Streit, ob die Gutachten den begutachteten Personen gehören oder auch den Fahrerlaubnisbehörden (vgl. BGH, Urt. v. 29.01.1980 – 1 StR 683/79), brauchte der BGH in diesem Fall nicht zu entscheiden.

 

 

3. Symposium zum Recht der Nachrichtendienste – Nachrichtendienste in vernetzter Sicherheitsarchitektur

von Wiss. Mit. Mareike Neumann

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Am 7. und 8. November 2019 fand bereits zum dritten Mal das vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und vom Bundeskanzleramt veranstaltete Symposium zum Recht der Nachrichtendienste unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Jan-Hendrik Dietrich (Hochschule des Bundes), Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz (RiOVG, Universität Bonn), RiBVerwG a.D. Prof. Dr. Kurt Graulich, Prof. Dr. Christoph Gusy (Universität Bielefeld) und RD Dr. Gunter Warg (Hochschule des Bundes) in Berlin statt.[1] Gegenstand der zweitägigen Veranstaltung waren in diesem Jahr die „Nachrichtendienste in vernetzter Sicherheitsarchitektur“. Zu den Gästen zählten neben Angehörigen der Wissenschaft auch Vertreter aus Justiz, Verwaltung und Politik.

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Modernisierung des Schriftenbegriffs und anderer Begriffe sowie Erweiterung der Strafbarkeit nach den §§ 86, 86a, 111 und 130 des Strafgesetzbuches bei Handlungen im Ausland

Hier finden Sie folgende Stellungnahmen: 

 

 

 

 

 

 

 

 

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ALLGEMEINE BEITRÄGE

Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen - Zurechnung von Verantwortung entlang von Wertschöpfungsketten
von Prof. Dr. Carsten Momsen und Marco Willumat

Weg mit dem Schwachsinn - zur längst überfälligen Ersetzung der Begriffe "Schwachsinn" und "Abartigkeit" in § 20 StGB
von Prof. Dr. Anja Schiemann

Strafbarkeit und Strafwürdigkeit der sexuellen Täuschung 
von Moritz Denzel und Renato Kramer da Fonseca Calixto, LL.M

Sexuelle Belästigung und Straftaten aus Gruppen
von Prof. Dr. Wolfgang Mitsch 

Schon wieder: Der "Gaffer" im Blickpunkt des Referentenentwurfs des Bundesjustizministeriums vom 9. September 2019
von Dr. Maximilian Lenk 

Strafbarkeit der Bildaufnahmen des Intimbereichs durch sog. Upskirting 
von Prof. Dr. Jörg Eisele und Wiss. Mit. Maren Straub

Entwurf eines Gesetzes zur Nutzung audio-visueller Aufzeichnungen in Strafprozessen (BT-Drs. 19/11090)
von RA und Fachanwalt für Strafrecht Prof. Dr. Jan Bockemühl 

BUCHBESPRECHUNGEN

Sächsisches Staatsministerium der Justiz (Hrsg.): Vollzug für das 21. Jahrhundert. Symposium anlässlich des 300-jährigen Bestehens der Justizvollzugsanstalt Waldheim
von Prof. Dr. Anja Schiemann

TAGUNGSBERICHTE 

Defence Counsel at the International Criminal Tribunals 
von RA Pia Bruckschen

"Demokratie und Polizei - Wir brauchen einander!" Bericht von einer Veranstaltung der GdP Rheinland-Pfalz 
von Ass. iur. Maren Wegner, M.A. und Polizeirat Marcus Papadopulos, M.A.

 

 

 

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 57/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 14.05.2019 – 3 StR 65/19: Tateinheit beim Drogenkauf auf Kommission

Leitsatz der Redaktion:

Bezahlt ein Drogendealer bei seinem Lieferanten mehrere Lieferungen rückwirkend, werden die unterschiedlichen Lieferungen tateinheitlich nach § 52 Abs. 1 StGB verbunden.

Sachverhalt:

Das LG Kleve hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte in drei Lieferungen Betäubungsmittel bei seinem Lieferanten „auf Kommission“ erhalten und gewinnbringend weiterverkauft. Erst danach hatte er die Lieferungen zusammen bezahlt.

Das LG hat die drei Lieferungen als drei tatmehrheitliche Fälle des Handeltreibens gewertet.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da die konkurrenzrechtliche Betrachtung rechtsfehlerhaft gewesen sei.

Maßgeblich für die Verwirklichung mehrerer Tatbestände in Tateinheit (§ 52 Abs. 1 StGB) sei die Überlagerung der Ausführungshandlungen. Zu diesen Ausführungshandlungen gehöre beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln auch das Bezahlen der Lieferungen. Daher sei anerkannt, dass Tateinheit gegeben sei, wenn ein Dealer bei seinem Lieferanten in einem Vorgang eine frühere Lieferung bezahle und direkt neue Betäubungsmittel erhalte.

Diese Wertung müsse auch auf den vorliegenden Fall übertragen werden, so der BGH. Daher sei die Bezahlung des Lieferanten für mehrere zurückliegende Lieferungen das verbindende Element der Handlungen und mache sie zu teilidentischen Ausführungshandlungen. Dies begründe somit Tateinheit.

 

Anmerkung der Redaktion:

Im Oktober 2019 hatte der BGH zuletzt entschieden, dass die gleichzeitige Besitzausübung über verschiedene Betäubungsmittelmengen bei hinzutreten besonderer Umstände eine tateinheitliche Verknüpfung bewirken kann (BGH, Beschl. v. 10.10.2019 – 4 StR 329/19).

 

 

Weg mit dem Schwachsinn – zur längst überfälligen Ersetzung der Begriffe „Schwachsinn“ und „Abartigkeit“ in § 20 StGB und der verpassten Chance einer umfassenden Reform der Schuldfähigkeitsfeststellung

von Prof. Dr. Anja Schiemann 

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Abstract 
Der Referentenentwurf des BMJV zur Änderung des Strafgesetzbuches verfolgt drei Anliegen: primär geht es um eine Modernisierung des strafrechtlichen Schriftenbegriffs und eine Erweiterung der Strafbarkeit gem. §§ 86, 86a, 111 und 130 StGB bei Handlungen im Ausland. Die „Modernisierung“ der Begrifflichkeiten im StGB wird drittens auch ausgeweitet auf die veralteten Begriffe des „Schwachsinns“ und der „Abartigkeit“ in § 20 StGB und § 12 OWiG. Allerdings ist mit der Ersetzung der Begriffe ersichtlich keine inhaltliche Änderung beabsichtigt (Referentenentwurf, S. 34).[1] Insofern wird die Chance verpasst, nicht nur unzeitgemäße Begriffe zu ersetzen, sondern auch eine veraltete Regelungstechnik aufzugeben und wissenschaftlichen Erkenntnissen anzupassen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich nicht mit dem Referentenentwurf in Gänze, sondern ausschließlich mit Implikationen im Hinblick auf die Schuld(un)fähigkeitsfeststellung.

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