KriPoZ-RR, Beitrag 88/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 08.12.2020 – C-584/19: Deutsche Staatsanwaltschaften dürfen trotz Weisungsgebundenheit Europäische Ermittlungsanordnungen erlassen

Amtlicher Leitsatz:

Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen sind dahin auszulegen, dass unter die Begriffe „Justizbehörde“ und „Anordnungsbehörde“ im Sinne dieser Bestimmungen der Staatsanwalt eines Mitgliedstaats oder ganz allgemein die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats fällt, unabhängig davon, ob zwischen diesem Staatsanwalt oder dieser Staatsanwaltschaft und der Exekutive dieses Mitgliedstaats möglicherweise ein rechtliches Unterordnungsverhältnis besteht und dieser Staatsanwalt oder diese Staatsanwaltschaft der Gefahr ausgesetzt ist, im Rahmen des Erlasses einer Europäischen Ermittlungsanordnung unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive unterworfen zu werden.

Sachverhalt:

Das Landesgericht für Strafsachen in Wien hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die StA Hamburg trotz ihrer Weisungsgebundenheit als Justizbehörde im Sinne des Art. 1 Abs. 1 und als Anordnungsbehörde im Sinne des Art. 2 c) der Richtlinie 2014/41 anzusehen sei.

Die StA Hamburg führt ein Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs des Betrugs gegen den Beschuldigten A. Dieser soll Überweisungsaufträge gefälscht und somit Zahlungen auf sein Konto bei einer Österreichischen Bank erlangt haben. Im Rahmen einer Europäischen Ermittlungsanordnung hatte die StA Hamburg daher bei der StA Wien Unterlagen zu dem Konto angefordert. Diese hatte eine nach Österreichischem Recht erforderliche richterliche Genehmigung für die Ermittlungsmaßnahme beantragt. Das mit der Sache befasste vorlegende Gericht hat erläutert, dass die Europäische Ermittlungsanordnung eine gerichtliche Entscheidung sei, die jedoch nach dem Text der Richtlinie auch von einem Staatsanwalt erlassen oder validiert werden könne. Allerdings hält es die Rechtsprechung des EuGH in Bezug auf den Europäischen Haftbefehl für anwendbar, die eine Unabhängigkeit der StA von Einzelweisungen fordert, um im Lichte des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens Europäische Haftbefehle ausstellen zu können.

Das Gewicht der Grundrechtseingriffe der verschiedenen Maßnahmen sei vergleichbar. Da die Richtlinie Staatsanwälte allerdings explizit als Anordnungsbehörde einstufe, könne dies auch zu einem anderen Auslegungsergebnis führen.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH stellte zunächst klar, dass die Europäische Ermittlungsanordnung ein Instrument zur Vereinfachung und effektiveren Ausgestaltung grenzüberschreitender Ermittlungsmaßnahmen darstelle und als Bestandteil der justiziellen Zusammenarbeit im Sinne des Art. 82 Abs. 1 AEUV auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung beruhe.

Die Ermittlungsanordnung müsse daher von einer Anordnungsbehörde im Sinne von Art. 2 c) der Richtlinie erlassen werden oder, wenn eine solche Anordnung von einer anderen Anordnungsbehörde als einer der in Ziff. i. genannten erlassen werde, von einer Justizbehörde validiert werden.

Zunächst spreche der klare Wortlaut der Norm, der Staatsanwälte explizit als Anordnungsbehörde nenne und als einzige sachliche Voraussetzung deren Zuständigkeit vorsehe, für eine Irrelevanz einer etwaigen Weisungsgebundenheit.

Aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. c Ziff. i und ii der Richtlinie 2014/41 gehe auch hervor, dass durch den Erlass oder die Validierung einer Europäischen Ermittlungsanordnung durch einen Staatsanwalt diese Entscheidung als gerichtliche Entscheidung einzustufen sei.

Daneben sei der Erlass bzw. die Validierung einer Europäischen Ermittlungsanordnung nicht mit der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls vergleichbar, da das Verfahren anderen Garantien unterliege. Die Richtlinie zum Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnung enthalte spezifische Anforderungen, die die erlassende Behörde wahren müsse und somit auch Staatsanwälte verpflichte, die nationalen Verfahrensgarantien einzuhalten.

Schließlich beruhe die Ermittlungsanordnung zwar, wie auch der Europäische Haftbefehl, auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Allerdings sähen die Bestimmungen der Richtlinie durchaus vor, dass die Vollstreckungsbehörde auf die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie die Verfahrens- und Grundrechte der Beschuldigten achte.

Auch sei die Zielsetzung der Richtlinie eine andere. Während der Europäische Haftbefehl auf die Überstellung einer Person zur Durchführung des Strafverfahrens oder der Strafvollstreckung gerichtet sei, solle die Europäische Ermittlungsanordnung lediglich Beweismittel liefern, die teilweise auch der Entlastung eines Beschuldigten dienen könnten.

Diese Unterschiede in Wortlaut, Systematik und Zweck rechtfertigten eine unterschiedliche Behandlung der Europäischen Ermittlungsanordnung im Vergleich zum Europäischen Haftbefehl.

 

Anmerkungen der Redaktion:

Im Mai 2019 hatte der EuGH entschieden, dass die deutschen Staatsanwaltschaften ob ihrer Weisungsgebundenheit keine Europäischen Haftbefehle ausstellen dürfen, ohne sie gerichtlich bestätigen zu lassen. Weitere Informationen dazu im KriPoZ-RR, Beitrag 61/2019.

Die Europäische Ermittlungsanordnung wurde 2017 vom Deutschen Gesetzgeber im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen eingeführt. Weitere Informationen erhalten Sie hier.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 72/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 24.09.2020 – C-195/20 PPU: Grundsatz der Spezialität bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls

Amtlicher Leitsatz:

Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der in Abs. 2 dieses Artikels aufgestellte Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme gegenüber einer Person, gegen die ein erster Europäischer Haftbefehl ergangen ist, wegen einer anderen und früheren Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe in Vollstreckung dieses Haftbefehls zugrunde liegt, nicht entgegensteht, wenn diese Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats dieses ersten Haftbefehls freiwillig verlassen hat und dorthin in Vollstreckung eines zweiten, nach dieser Ausreise zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls übergeben worden ist, sofern im Rahmen des zweiten Europäischen Haftbefehls die diesen vollstreckende Justizbehörde ihre Zustimmung zur Ausweitung der Verfolgung auf die Handlung erteilt hat, derentwegen die fragliche freiheitsbeschränkende Maßnahme verhängt worden ist.

Sachverhalt:

Der Beschuldigte war in Deutschland in drei verschiedenen Strafverfahren verfolgt worden. Im ersten Verfahren war er im Jahr 2011 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Im zweiten Verfahren wegen einer Tat in Portugal hatte die StA Hannover einen Europäischen Haftbefehl erlassen, da sich der Beschuldigte in Portugal aufgehalten hatte. Nach der Überstellung des Beschuldigten nach Deutschland, wo dieser dann seine Strafe für die zweite Tat von einem Jahr und drei Monaten verbüßt hatte, wurde während der Vollstreckung dieser Haftstrafe die Aussetzung der ersten Strafe zur Bewährung widerrufen. Daraufhin hatte die StA Flensburg bei der portugiesischen Vollstreckungsbehörde beantragt, die im Jahr 2011 verhängte Strafe vollstrecken zu dürfen und daher auf den Grundsatz der Spezialität aus Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/5841 zu verzichten. Eine Antwort aus Portugal hatte die StA nie erhalten und den Verurteilten deshalb freigelassen, was dieser für die Ausreise nach Italien genutzt hatte. Einen Tag nachdem der Verurteilte das Bundesgebiet verlassen hatte, hatte die StA Flensburg dann einen Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung der ersten Strafe aus dem Jahr 2011 erlassen. Dies hatte zur erneuten Ergreifung und Überstellung nach Deutschland diesmal durch italienische Behörden geführt.

In einem Dritten Verfahren hatte dann das AG Braunschweig einen Haftbefehl wegen einer 2005 in Portugal begangenen Tat gegen den Beschuldigten erlassen. Der daraufhin beantragte Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität war von den italienischen Behörden bewilligt worden, sodass der Beschuldigte daraufhin wegen der Tat aus 2005 und im Hinblick auf die noch zu vollstreckende Strafe aus dem Urteil aus 2011 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt worden war.

Gegen diese Verurteilung hat sich der Verurteilte mit der Revision gewendet und das Revisionsgericht hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob der Untersuchungshaftbefehl des AG Braunschweig aufrechterhalten werden könne. Dies hat der Beschuldigte mit dem Argument in Abrede gestellt, dass zwar die italienischen Vollstreckungsbehörden, jedoch nicht die portugiesischen auf den Grundsatz der Spezialität verzichtet hätten.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH beantwortete die Vorlagefrage so, dass Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen seien, dass der in Abs. 2 dieses Artikels aufgestellte Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme gegenüber einer Person, gegen die ein erster EHB ergangen sei, wegen einer anderen und früheren Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe in Vollstreckung dieses Haftbefehls zugrunde liege, nicht entgegenstehe, wenn diese Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats dieses ersten EHB freiwillig verlassen habe und dorthin in Vollstreckung eines zweiten, nach dieser Ausreise zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten EHB übergeben worden sei, sofern im Rahmen des zweiten EHB die diesen vollstreckende Justizbehörde ihre Zustimmung zur Ausweitung der Verfolgung auf die Handlung erteilt habe, derentwegen die fragliche freiheitsbeschränkende Maßnahme verhängt worden sei.

Diese Entscheidung sei zum einen das Ergebnis einer wörtlichen Auslegung der Bestimmung, die auf die Übergabe im Singular abstelle, also den Grundsatz der Spezialität eng mit der Vollstreckung eines ganz bestimmten Europäischen Haftbefehls verknüpfe. Ebenfalls würde die Effektivität des Auslieferungsverfahrens behindert, wenn eine Zustimmung beider ausländischen Vollstreckungsbehörden gefordert würde, so der EuGH.

Demnach könne der Haftbefehl des AG Braunschweig aufrecht erhalten bleiben, da nur die Zustimmung der italienischen Vollstreckungsbehörde erforderlich gewesen sei, welche diese auch erteilt habe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Ziel der Vorschriften über den Europäischen Haftbefehl ist gerade die effektivere Gestaltung des innereuropäischen Auslieferungsverfahrens. Weitere Informationen über den Europäischen Haftbefehl erhalten Sie hier.

Im Dezember 2019 hatte der EuGH bereits Anforderungen an die einen EuHB ausstellende Behörde festgelegt. Den KriPoZ-RR Beitrag finden Sie hier.

Auch zur Frage welches Recht bei der Prüfung eines EuHB anzuwenden ist, hat sich der EuGH bereits geäußert: KriPoZ-RR, Beitrag 22/2020.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 23/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 12.03.2020 – C‑659/18: Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand darf nicht entzogen werden, wenn Beschuldigter nicht vor Untersuchungsrichter erscheint

Amtlicher Leitsatz:

Die Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, insbesondere ihr Art. 3 Abs. 2, ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inanspruchnahme des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in der vorgerichtlichen Phase des Strafverfahrens aufgrund des Nichterscheinens des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person auf eine Ladung vor einen Untersuchungsrichter ausgesetzt werden kann, bis der nationale Haftbefehl gegen den Betroffenen vollzogen ist.

Sachverhalt:

Das Untersuchungsgericht Nr. 4 von Badalona, Spanien hat dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob nationale Regelungen, die es vorsehen, das Recht des Beschuldigten auf Zugang zu seinem Rechtsbeistand im vorgerichtlichen Verfahren an bestimmte Bedingungen zu knüpfen, gegen Unionsrecht verstoßen.

Anlass zu dieser Frage bot ein Verfahren, das in Spanien wegen des Vorwurfs des Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Urkundenfälschung geführt worden war. Der Beschuldigte hatte in einer Verkehrskontrolle einen gefälschten bulgarischen Führerschein vorgezeigt. Zu seiner richterlichen Vernehmung war er nicht erschienen. Daraufhin hatte sich eine ordnungsgemäß bevollmächtigte Strafverteidigerin bei den Behörden gemeldet und beantragt, dass alle maßgeblichen Dokumente an sie verschickten werden. Nach der geltenden Rechtslage in Spanien wäre es nun möglich gewesen, dem Beschuldigten den Zugang zu seiner Verteidigerin zu verwehren bzw. diese nicht anzuerkennen bis er persönlich bei Gericht erschienen ist. Das Vorlegende Gericht hat Zweifel, ob diese nationale Regelung mit der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs vereinbar ist.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH entschied, dass die spanische Regelung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

Zunächst stellte er fest, dass die Richtlinie unmissverständlich anordne, dass jedem Beschuldigten auch schon vor der ersten Befragung durch die Strafverfolgungsbehörden das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zugutekomme.

Von diesem Recht des Beschuldigten dürfe in der Praxis nur aufgrund der wenigen in der Richtlinie angegebenen Ausnahmen, insbesondere die große geographische Entfernung, abgewichen werden.

Eine solche Ausnahme sei im vorliegenden Fall jedoch nicht ersichtlich, so der EuGH.

Weitere Ausnahmen könne der nationale Gesetzgeber nicht vorsehen, da die Richtlinie insoweit abschließend sei. Käme den nationalen Gesetzgebern das Recht zu eigene Ausnahmetatbestände, ähnlich dem in Spanien, zu schaffen, würde dies die Systematik und die Zwecke der Richtlinie konterkarieren.

Damit sei es rechtswidrig, das Recht des Beschuldigten auf Zugang zu einem Rechtsbeistand von seinem Erscheinen vor dem Untersuchungsrichter abhängig zu machen. Insoweit verstoße die spanische Regelung gegen Unionsrecht.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Anforderungen der Richtlinie sind in Deutschland durch das zweite Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts umgesetzt worden. Die Richtlinie und Informationen zur nationalen Umsetzung finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 22/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 03.03.2020 – C‑717/18: Vollstreckungsstaat hat bei Prüfung der Voraussetzungen eines EuHB die im Tatzeitpunkt geltenden Normen des Ausstellungsstaates heranzuziehen

Amtlicher Leitsatz:

Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde bei der Prüfung, ob die Straftat, wegen der ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt worden ist, im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist, das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats in der für die Handlungen, die zu der Rechtssache geführt haben, in deren Rahmen der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, geltenden Fassung heranzuziehen hat.

Sachverhalt:

Der Appellationshof in Gent, Belgien hat dem EuGH zur Vorabentscheidung die Frage vorgelegt, auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung des Strafmaßes im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (EuHB) abzustellen sei. Denn gem. Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sei die beiderseitige Strafbarkeit als Vollstreckungsvoraussetzung ab einer maximalen Strafandrohung von drei Jahren nicht mehr vom Vollstreckungsstaat zu prüfen.

Anlass zu dieser Frage hatte ein Vollstreckungsverfahren auf Betreiben des spanischen Nationalen Gerichtshofs gegeben.

Das Gericht hatte von den zuständigen belgischen Behörden die Festnahme und Überstellung eines spanischen Rappers gefordert, der in Spanien rechtskräftig wegen Verherrlichung des Terrorismus und der Erniedrigung seiner Opfer zu der im Verurteilungszeitpunkt maximalen Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden war. Die Vollstreckung hatte das zuständige Gericht der ersten Instanz abgelehnt, da die gegenseitige Strafbarkeit nicht gegeben gewesen sei.

Nach der Verurteilung des Angeklagten, aber noch vor Ausstellung des EuHB, war die maximale Strafandrohung des Tatbestands in Spanien auf drei Jahre Freiheitsstrafe erhöht worden, sodass bei Heranziehung dieser Strafandrohung die beiderseitige Strafbarkeit vom erstinstanzlichen Gericht in Belgien nicht mehr zu prüfen gewesen wäre.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH entschied, dass die maßgebliche Strafandrohung der Norm zu entnehmen sei, die im Tatzeitpunkt gegolten habe.

Zunächst gebe die Zeitform, in der die Regelung des Rahmenbeschluss abgefasst worden sei, keinen Aufschluss über den maßgeblichen Zeitpunkt, da das Indikativ Präsens generell in den Regelungen verwendet werde, um deren Geltungsanspruch hervorzuheben, so der EuGH.

Weiter führt der Gerichtshof aus, dass sich aus dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses klar ergebe, dass zur Prüfung des Mindestmaßes von vier Monaten allein auf das Recht des Ausstellungsstaates abgestellt werden dürfe, welches im Verurteilungszeitpunkt gegolten habe. Gleiches müsse dann auch für Art. 2 Abs. 2 gelten.

Würde für die Prüfung, ob ein Fall des Art. 2 Abs. 2 vorliege, das Recht des Ausstellungsstaates im Zeitpunkt des Erlasses des EuHB herangezogen werden, könne dies die kohärente Anwendung beider Vorschriften beeinflussen.

Zudem ergebe sich aus Rubrik c des im Rahmenbeschluss vorgeschriebenen Formblatts des Europäischen Haftbefehls, dass die Angaben, die die ausstellende Justizbehörde zur möglichen Strafhöhe machen müsse, das zur Tatzeit geltende Recht betreffen müsse.

Schließlich sei dieses Ergebnis auch mit dem Zweck des EuHB vereinbar.

Dieser bestünde darin, die justizielle Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union effektiver und schneller zu gestalten. 

Würde man vom vollstreckenden Mitgliedsstaat nun verlangen, die Voraussetzungen der Vollstreckung des EuHB aufgrund der Vorschriften zu beurteilen, die im Erlasszeitpunkt anstatt im Tatzeitpunkt gegolten haben, würde dieser Zweck gefährdet. Denn die vollstreckende Justizbehörde könnte bei der Bestimmung der maßgeblichen Vorschriften auf Schwierigkeiten stoßen, wenn diese, wie in diesem Fall, zwischen Verurteilung und Erlass des EuHB geändert worden seien.

Damit sei im Ergebnis immer auf das Recht abzustellen, das im Ausstellungsstaat zum Tatzeitpunkt gegolten habe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Zuletzt hatte der EuGH zum Europäischen Haftbefehl entschieden, dass der Vollstreckungsstaat die konkreten Haftbedingungen im Ausstellungsstaat zu prüfen habe, wenn ernstliche Bedenken bestehen, dass diese den Anforderungen der EMRK nicht genügen. Den KriPoZ-RR Beitrag zu diesem Urteil finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 14/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 13.02.2020 – C-688/18: Angeklagte können auf Anwesenheitsrecht in Hauptverhandlung verzichten

Amtlicher Leitsatz:

Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die für den Fall, dass die beschuldigte Person rechtzeitig über die sie betreffende Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens zu dieser Verhandlung unterrichtet wurde und von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt, den sie bestellt hat, vertreten wurde, vorsieht, dass das Recht der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der sie betreffenden Verhandlung nicht verletzt wurde, wenn

– sie unmissverständlich entschieden hat, einem der Termine der sie betreffenden Verhandlung fernzubleiben, oder

– sie einem dieser Verhandlungstermine aus einem nicht von ihr zu vertretenden Grund ferngeblieben ist, sofern sie im Anschluss an diesen Verhandlungstermin über die in ihrer Abwesenheit vorgenommenen Handlungen unterrichtet wurde und in Kenntnis der Sachlage die Entscheidung getroffen hat, entweder zu erklären, dass sie nicht unter Berufung auf ihre Abwesenheit die Rechtmäßigkeit dieser Handlungen in Frage stellen werde, oder zu erklären, dass sie an diesen Handlungen mitwirken wolle, was das befasste nationale Gericht dazu veranlasste, diese Handlungen insbesondere durch Durchführung einer zusätzlichen Zeugenvernehmung, bei der die beschuldigte Person die Möglichkeit hatte, in vollem Umfang mitzuwirken, zu wiederholen.

Sachverhalt:

Gegen die Angeklagten war eine Hauptverhandlung in Bulgarien wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung eröffnet worden. Mehrere Angeklagte hatten aus verschiedenen Gründen an einigen Terminen der Hauptverhandlung nicht teilgenommen. Dies hatte das Gericht dazu veranlasst, eine Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit der Angeklagten zu erörtern, was nach bulgarischem Recht möglich sei, und dafür folgende Bedingungen aufzustellen: Die zwingende Teilnahme eines Rechtsanwalts für den Beschuldigten, die Protokollversendung an den Beschuldigten, die Möglichkeit einen neuen Termin in seiner Anwesenheit zu beantragen, das Recht auf eine Wiederholung des Termins zu bestehen, wenn ein unverschuldetes Fernbleiben vorliegt und das Recht auf eine Wiederholung zu bestehen, wenn ein verschuldetes Fernbleiben vorliegt und die Anwesenheit des Beschuldigten zur Wahrung seiner Interessen erforderlich ist.

Daraufhin war die Hauptverhandlung an mehreren Terminen in Abwesenheit verschiedener Angeklagter durchgeführt worden, wogegen diese sich nicht gewendet hatten und die formalen Vorgaben eingehalten worden waren. Dennoch bezweifelte das bulgarische Gericht die Vereinbarkeit der nationalen Norm, die eine Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten erlaubt, mit geltendem EU-Recht, namentlich der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen.

Daher hat das bulgarische Gericht dem EuGH die Frage vorgelegt, ob Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen sei, dass er einer nationalen Regelung entgegenstehe, die für den Fall, dass die beschuldigte Person rechtzeitig über die sie betreffende Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens zu dieser Verhandlung unterrichtet worden sei und von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt, den sie bestellt habe, vertreten worden sei, vorsehe, dass das Recht der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung nicht verletzt worden sei, wenn

– sie unmissverständlich entschieden habe, einem der Termine der sie betreffenden Verhandlung fernzubleiben, oder

– sie einem dieser Verhandlungstermine aus einem nicht von ihr zu vertretenden Grund ferngeblieben sei, sofern sie im Anschluss an diesen Verhandlungstermin über die in ihrer Abwesenheit vorgenommenen Handlungen unterrichtet worden sei und in Kenntnis der Sachlage die Entscheidung getroffen habe, entweder zu erklären, dass sie nicht unter Berufung auf ihre Abwesenheit die Rechtmäßigkeit dieser Handlungen in Frage stellen werde, oder zu erklären, dass sie an diesen Handlungen mitwirken wolle, was das befasste nationale Gericht dazu veranlasste, diese Handlungen insbesondere durch Durchführung einer zusätzlichen Zeugenvernehmung, bei der die beschuldigte Person die Möglichkeit hatte, in vollem Umfang mitzuwirken, zu wiederholen.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH entschied, dass Art. 8 Abs. 1 und 2 der in Rede stehenden Richtlinie einer etwaigen nationalen Regelung, die eine Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Beschuldigten ermögliche, nicht entgegenstehe, wenn bestimmte Mindestvoraussetzungen eingehalten worden seien.

Diese umfassten zunächst die Belehrung des Angeklagten über den Termin der Hauptverhandlung und über die Folgen seines etwaigen Nichterscheinens. Zudem sei die Vertretung des Beschuldigten durch einen vom ihm ausgewählten Rechtsanwalt zwingend. Dann sei die unmissverständliche Entscheidung des Beschuldigten, von der Verhandlung fernbleiben zu wollen, notwendig. Liege ein unverschuldetes Nichterscheinen vor, so müsse der Angeklagte über den Prozessablauf informiert werden und ihm müsse das Recht zugestanden werden eine Wiederholung des Termins zu verlangen.

Seine Entscheidung begründet der EuGH damit, dass die Richtlinie keine absolute Geltung des Anwesenheitsrechts vorsehe und die Möglichkeit, in Abwesenheit eines Beschuldigten zu verhandeln, bei Einhaltung der formalen Vorgaben auch nicht gegen die Grundrechtecharta oder die EMRK verstoße.

 

Anmerkung der Redaktion:

Weitere Informationen zur EU-Richtlinie finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 61/2019

Die Entscheidungen im Original finden Sie hier: Frankreich, Schweden und Belgien.

EuGH, Urt. v. 12.12.2019 – C-566/19 PPU, C-626/19 PPU, C-625/19 PPU, C-627/19 PPU: Französische, Schwedische und Belgische Staatsanwaltschaften dürfen Europäische Haftbefehle ausstellen

Amtliche Leitsätze:

C-566/19 PPU & C-626/19 PPU:

Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne dieser Bestimmung die Beamten der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats fallen, die mit der Strafverfolgung betraut sind und der Leitung und Kontrolle ihrer Vorgesetzten unterliegen, sofern ihnen ihr Status eine Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive im Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls verschafft.

Der Rahmenbeschluss 2002/584 ist dahin auszulegen, dass die einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen, in deren Genuss eine Person kommen muss, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Strafverfolgung erlassen wird, erfüllt sind, wenn nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats die Voraussetzungen für den Erlass dieses Haftbefehls und insbesondere seine Verhältnismäßigkeit Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle in diesem Mitgliedstaat sind.

C-625/19 PPU:

Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen, in deren Genuss eine Person kommen muss, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Strafverfolgung erlassen wurde, erfüllt sind, wenn nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats die Voraussetzungen für die Ausstellung dieses Haftbefehls und insbesondere seine Verhältnismäßigkeit in diesem Mitgliedstaat gerichtlich überprüft werden.

C-627/19 PPU:

Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die die Zuständigkeit für den Erlass eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Strafe einer Behörde übertragen, die zwar an der Rechtspflege in diesem Mitgliedstaat mitwirkt, aber selbst kein Gericht ist, jedoch keinen gesonderten Rechtsbehelf gegen die Entscheidung dieser Behörde, einen solchen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, vorsehen.

Sachverhalt:

In den nationalen Ausgangsverfahren hatten niederländische Gerichte über die Auslieferung zur Strafverfolgung bzw. Strafvollstreckung aufgrund Europäischer Haftbefehle aus Frankreich, Schweden und Belgien zu entscheiden.

Aufgrund dieser Verfahren hatten die Niederländer dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die betreffenden Staatsanwaltschaften als „ausstellende Justizbehörde“ anzusehen seien.

Entscheidung des EuGH:

Nach Ansicht des EuGH genügen die betreffenden Staatsanwaltschaften den Anforderungen der EU-Richtlinie und dürfen daher Europäische Haftbefehle ausstellen.

Zur Begründung führte der EuGH aus, dass die französische Staatsanwaltschaft zwar keine richterliche oder gerichtliche Organisation sei, aber die französischen Rechts- und Organisationsvorschriften dennoch eine genügende Unabhängigkeit von Weisungen der Exekutive sicherstellten. Weder die Möglichkeit des Justizministers allgemeine Weisungen auf dem Gebiet der Strafrechtspflege zu erteilen, noch der hierarchische Aufbau der Behörde sei unter Berücksichtigung aller Umstände geeignet, die Unabhängigkeit der Staatsanwälte in den konkreten Verfahren zu gefährden. Daher fielen die französischen Staatsanwaltschaften unter den Begriff der „ausstellenden Justizbehörde“.

Zudem stellte der Gerichtshof klar, dass das Erfordernis einer Möglichkeit zur gerichtlichen Kontrolle des Haftbefehls im Ausstellungsstaat bei Ausstellung durch eine Behörde, die kein Gericht sei, keine Voraussetzung für die Einordnung als ausstellende Justizbehörde darstelle. Die Schaffung eines solchen Rechtsbehelfs sei nur eine Möglichkeit, das von der Richtlinie geforderte Rechtsschutzniveau sicherzustellen.

Da das französische und schwedische Recht eine solche Rechtsschutzmöglichkeit vorsehe, bestünden an der unabhängigen Prüfung der Voraussetzungen und der Verhältnismäßigkeit des Haftbefehls keine Bedenken.

Bezüglich der belgischen Staatsanwaltschaft führte der EuGH aus, dass die Vorschriften über den Europäischen Haftbefehl keine besonderen Rechtsschutzmöglichkeiten forderten, wenn der Haftbefehl – wie in diesem Verfahren – nicht der Strafverfolgung, sondern der Strafvollstreckung diene. In einem solchen Fall genüge es, dass dem Verfolgten ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz im Strafverfahren zuteil werde. Stütze sich der Haftbefehl dann auf das rechtskräftige Urteil, bestünden keine Zweifel an der Berücksichtigung eines effektiven Grundrechtsschutzes.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Urteile stellen eine Fortentwicklung und Präzisierung der Rechtsprechung des EuGH zu den Anforderungen an die den Europäischen Haftbefehl ausstellende Behörde dar. Erst im Mai 2019 hatte der EuGH entschieden, dass die deutschen Staatsanwaltschaften nicht unabhängig genug für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls seien. Das Urteil finden Sie hier.

Eine korrespondierende Entscheidung des OLG Hamm finden Sie hier.

Dem Urteil folgte eine Debatte zur Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften in Deutschland, aufgrund derer die FDP-Fraktion einen Gesetzesentwurf „zur Stärkung der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft“ in den Bundestag einbrachte. Weitere Informationen erhalten Sie hier.

KriPoZ-RR, Beitrag 39/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 15.10.2019 – C-128/18: Überprüfung der Haftbedingungen durch den Ausstellungsstaat vor Erlass eines Europäischen Haftbefehls

Amtliche Leitsätze:

Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats belegen, zum Zweck der Beurteilung, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, nach ihrer Übergabe an diesen Mitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt sein wird, alle relevanten materiellen Aspekte der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der diese Person konkret inhaftiert werden soll, berücksichtigen muss, wie etwa den persönlichen Raum, über den jeder Gefangene in einer Zelle dieser Anstalt verfügt, die sanitären Verhältnisse und das Ausmaß der Bewegungsfreiheit des Gefangenen innerhalb dieser Anstalt. Diese Beurteilung ist nicht auf die Prüfung offensichtlicher Unzulänglichkeiten beschränkt. Für eine solche Beurteilung muss die vollstreckende Justizbehörde von der ausstellenden Justizbehörde die für notwendig erachteten Informationen erbitten und sich grundsätzlich auf die Zusicherungen dieser Behörde verlassen, wenn keine konkreten Anhaltspunkte darauf schließen lassen, dass die Haftbedingungen gegen Art. 4 der Charta verstoßen.

Was speziell den persönlichen Raum betrifft, über den jeder Gefangene verfügt, so muss die vollstreckende Justizbehörde, da im Unionsrecht gegenwärtig keine Mindestnormen hierzu existieren, die Mindestanforderungen berücksichtigen, die sich aus Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergeben. Bei der Berechnung dieses verfügbaren Raums ist zwar die durch Sanitärvorrichtungen belegte Fläche nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche. Den Gefangenen muss es jedoch möglich bleiben, sich in der Zelle normal zu bewegen.

Die vollstreckende Justizbehörde darf das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nicht allein deshalb ausschließen, weil die betroffene Person im Ausstellungsmitgliedstaat über einen Rechtsbehelf verfügt, der es ihr ermöglicht, die Bedingungen ihrer Haft zu beanstanden, oder weil es in diesem Mitgliedstaat gesetzgeberische oder strukturelle Maßnahmen gibt, die darauf abzielen, die Kontrolle der Haftbedingungen zu verstärken.

Stellt diese Justizbehörde fest, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der sie konkret inhaftiert werden soll, einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird, so darf bei der Entscheidung über die Übergabe keine Abwägung zwischen dieser Feststellung und Erwägungen im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung erfolgen.

Sachverhalt:

Bei dem OLG Hamburg ist ein Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls anhängig. Ausstellungsstaat ist Rumänien in einem Verfahren zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen Vermögens- und Urkundsdelikten.

Im Rahmen dieses Verfahrens hat das OLG dem EuGH die Frage vorgelegt, inwieweit die um Vollstreckung ersuchte Justizbehörde die Haftbedingungen im Ausstellungsstaat auf ein Mindestmaß an persönlichem Raum für den Gefangen hin zu prüfen hat. Zudem wollte es wissen, ob ihm eine Abwägung zwischen der Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Strafvollzug einerseits und den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der Anerkennung zwischen den Mitgliedsstaaten andererseits, möglich sei.

Antwort des EuGH:

Zunächst erinnerte der EuGH an die grundlegende Prämisse des Europarechts, dass alle Mitgliedsstaaten gemeinsame Werte teilten und dies auch gegenseitig anerkennen würden, was einen gegenseitigen Vertrauensvorschuss im Hinblick auf die Einhaltung von Grundrechten rechtfertige.

Unter außergewöhnlichen Umständen sei dieser Vertrauensgrundsatz jedoch einzuschränken, was dazu führen könne, dass ein um Vollstreckung ersuchter Mitgliedsstaat bei gewichtigen Anhaltspunkten dafür, dass eine Auslieferung an den Ausstellungsstaat zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen würde, die Auslieferung stoppen müsse.

In einem solchen Fall habe die vollstreckende Behörde konkret und genau zu beurteilen, ob die vorliegenden Anhaltspunkte zustimmten oder nicht, um die Einhaltung des Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union zu gewährleisten, so der EuGH.

Explizit zur Prüfung der Haftbedingungen führte der EuGH aus, dass eine solche auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen beruhen müsse. Daraus folge, dass im Hinblick auf die Konkretheit und Genauigkeit der Nachforschungen, nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in allen Haftanstalten dieses Mitgliedstaats abgestellt werden dürfe, sondern nur die Anstalten zu prüfen seien, in denen die betroffene Person konkret inhaftiert werden solle.

Im konkreten Falle werde der Inhaftierte in einer Gemeinschaftszelle untergebracht. Bei dieser Art der Unterbringung könne ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK vermutet werden, wenn der dem Gefangenen zur Verfügung stehende Raum unter 3 m² betrage. Zwar könne ein Mitgliedstaat strengere Haftbedingungen festlegen als es Art. 4 der Charta und Art. 3 EMRK forderten, allerdings habe der vollstreckende Mitgliedstaat die Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls von der Erfüllung gerade dieser Kriterien abhängig zu machen. Die Einhaltung dieser Kriterien zu prüfen sei Aufgabe des vollstreckenden Staates.

Zudem sei allein die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsbehelfs durch den Betroffenen im Ausstellungsstaat kein Grund für den Vollstreckungsstaat, eine Gefahr für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung pauschal zu verneinen. 

Stelle der vollstreckende Staat ernsthafte Tatsachen fest, die den Schluss zuließen, dass der Inhaftierte in seinem konkreten Gefängnis im Ausstellungsstaat aufgrund der Haftbedingungen unmenschlich oder erniedrigend behandelt werde, dürfe bei der Auslieferungsentscheidung keine Abwägung zwischen diesen Tatsachen und Erwägungen im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit sowie den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der Anerkennung mehr stattfinden.

Anmerkung der Redaktion:

Im Mai 2019 hatte der EuGH entschieden, dass die deutschen Staatsanwaltschaften für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nicht unabhängig genug seien. Das Urteil finden Sie hier.

Daraufhin hatte das OLG Hamm eine gerichtliche Zuständigkeit für den Erlass solcher Haftbefehle begründet. Den Beitrag zu diesem Urteil finden Sie hier.

 

 

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