KriPoZ-RR, Beitrag 44/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 24.09.2019 – 1 StR 346/18: Irrtum über eigene Arbeitgeberstellung begründet Tatbestandsirrtum im Rahmen des § 266a Abs. 1 und 2 StGB

Amtliche Leitsätze:

1. Vorsätzliches Handeln ist bei pflichtwidrig unterlassenem Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a Abs. 1 und 2 StGB) nur dann anzunehmen, wenn der Täter auch die außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts – zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre – nachvollzogen hat, er also seine Stellung als Arbeitgeber und die daraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen hat.

2. Irrt der Täter über seine Arbeitgeberstellung oder die daraus resultierende Pflicht zum Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen, liegt ein Tatbestandsirrtum vor; an seiner entgegenstehenden, von einem Verbotsirrtum ausgehenden Rechtsprechung hält der Senat nicht fest.

Sachverhalt:

Das LG Augsburg hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte er u.a. in Polen und Rumänien ungelernte Arbeitskräfte als Pflegekräfte rekrutiert, in Deutschland vermittelt und dafür sowohl eine einmalige Vermittlungsgebühr als auch eine monatliche Kostenpauschale von den Pflegebedürftigen oder deren Angehörigen erhalten.

In der Pauschale war ein Krankenversicherungsbeitrag für die Beschäftigten enthalten gewesen. Angeleitet, kontrolliert und bezahlt worden waren die Pflegekräfte direkt von den Familien, in denen sie tätig gewesen waren. Während der pflegerischen Tätigkeit hatte kein Kontakt zum Angeklagten bestanden. Auch die Unterkunft im Haus des Pflegebedürftigen war den Pflegekräften von der jeweiligen Familie zur Verfügung gestellt worden. Dem Angeklagten war bekannt gewesen, dass das Arbeitsverhältnis der Pflegekräfte als abhängige und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu qualifizieren gewesen war und die Familien höchstwahrscheinlich keine Anmeldung der Arbeitskräfte vornehmen würden. Auf den eingesparten Beiträgen und Steuern und dem daraus resultierenden Wettbewerbsvorteil hatte das Geschäftsmodell des Angeklagten gefußt. Die beschäftigenden Familien hatten es nach der Wertung des LG auch für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, dass sie als Arbeitgeber zu qualifizieren gewesen waren und ihre sozialversicherungsrechtlichen Pflichten nicht erfüllt hatten.

 

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da der bedingte Vorsatz der Haupttäter (Pflegebedürftige oder deren Angehörige)  zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt vom LG nicht rechtsfehlerfrei festgestellt worden sei.

Für eine Strafbarkeit nach § 266a StGB sei erforderlich, dass der Arbeitgeber erkannt und billigend in Kauf genommen habe, dass eine sozialversicherungspflichtige abhängige Beschäftigung bestehe und daraus eine sozialversicherungsrechtliche Pflicht zur Abführung von Beiträgen entstehe, die von ihm verletzt werde. Die bloße Kenntnis der Umstände und die Erkennbarkeit für den Täter genügten nicht, denn die Arbeitgeberstellung sei ein normatives Tatbestandsmerkmal, das somit zumindest eine zutreffende rechtliche Parallelwertung in der Laiensphäre fordere.

Daraus folge, dass eine Fehlvorstellung über die eigene Arbeitgebereigenschaft oder die dadurch begründete Pflicht zur Beitragsentrichtung als Tatbestandsirrtum nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zu qualifizieren sei.

Zudem sei § 266a StGB (mit Ausnahme des § 266a Abs. 2 Nr. 1 StGB) ein echtes Unterlassungssonderdelikt, bei dem sich der Vorsatz auf die handlungspflichtbegründenden Umstände erstrecken müsse.

Ob die nötige Parallelwertung der rechtlichen Implikationen des Sozialversicherungsrechts bei einem Täter vorgelegen habe, sei vom Tatgericht anhand der konkreten Tatumstände des jeweiligen Einzelfalls wertend zu ermitteln. Maßgebliche Indizien stellten dafür beispielsweise die Erfahrung des Angeklagten im geschäftlichen Verkehr, die Gefahr illegaler Beschäftigung in der jeweiligen Branche, soweit sie im öffentlichen Diskurs präsent gewesen sei, oder die von vornherein bestehende Zielsetzung zur Umgehung von sozialversicherungsrechtlichen Pflichten durch das Geschäftsmodell dar.

Diesen Maßstäben habe das landgerichtliche Urteil nicht genügt, da keine hinreichend gewichtigen Indizien festgestellt worden seien, die eine vorsatzbegründende Parallelwertung in der Laiensphäre nahegelegt hätten.

Zudem sei die Höhe der hinterzogenen Sozialabgaben vom LG rechtsfehlerhaft berechnet worden, weil die bereitgestellte Wohnmöglichkeit für die Pflegekräfte nicht als Sachleistung zu qualifizieren gewesen sei, da diese nicht als vertragliche Gegenleistung für die Pflegetätigkeit sondern gerade zu ihrer Ermöglichung gedacht gewesen sei.

Zusätzlich begegne auch die pauschale Annahme einer Eingruppierung aller Pflegekräfte in die Steuerklasse IV durchgreifenden rechtlichen Bedenken, da es dem LG durch eine Befragung der Pflegekräfte möglich gewesen wäre, die individuellen steuerlichen Abzugsmerkmale zu ermittlen, so der BGH.

 

Anmerkung der Redaktion:

Mit diesem Beschluss weicht der Senat erstmals von seiner eigenen Rechtsprechung ab, die bisher bei einem solchen Sachverhalt einen vermeidbaren Verbotsirrtum angenommen hatte. Beispiele finden Sie hier und hier. Die Rechtsprechungsänderung hatte sich bereits in einem Beschluss vom 24. Januar 2018 angedeutet. Diesen Beschluss finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 32/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 23.07.2019 – 1 StR 107/18: Anforderungen an die Parallelwertung in der Laiensphäre bezüglich der Bedenklichkeit eines Arzneimittels

Amtlicher Leitsatz:

Um den sozialen Bedeutungsgehalt der Bedenklichkeit eines Arzneimittels zu erfassen, bedarf es auch der Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die für die Abwägung des Verhältnisses zwischen dem bekannten Risiko und dem Nutzen von Relevanz sind. Diese muss der Täter nach einer Parallelwertung in der Laiensphäre richtig in sein Vorstellungsbild aufgenommen haben, um einen Vorsatzschuldvorwurf zu begründen.

Sachverhalt:

Das LG Hildesheim hat den Angeklagten wegen fahrlässigen Inverkehrbringens von bedenklichen Arzneimitteln und wegen Steuerhinterziehung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte zwischen Dezember 2008 und Mai 2013 die Substanzen MMS und MMS2 über das Internet als Mittel zur Behandlung von verschiedenen Krankheiten und zur Desinfektion des Körpers vertrieben.

Bei den Präparaten hatte es sich um eine 28-prozentige Natriumchloritlösung (MMS) und ein 70-prozentiges Calciumhypochlorit (MMS2) gehandelt, die beide bei oraler Einnahme erhebliche Schäden hätten hervorrufen können. Das LG hat beide Substanzen als bedenkliche Arzneimittel gemäß §§ 2 Abs. 1 Nr. 1, 5 Abs. 2 AMG eingeordnet. Der Angeklagte war aber von einer heilenden Wirkung ausgegangen, obwohl ihm die mögliche gesundheitsschädliche Wirkung bekannt gewesen war. Er hatte sich selbst nach der Einnahme immer besser gefühlt und war von vermeintlich wissenschaftlichen Publikationen davon überzeugt worden, dass die Mittel Krankheitserreger im Körper abtöten könnten. Mit dem Verkauf der Präparate hatte der Beschuldigte einen Umsatz von 270.206€ erzielt für den er weder Umsatzsteuer abgeführt noch eine Umsatzsteuererklärung abgegeben hatte.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat sich gegen die Verurteilung wegen Fahrlässigkeit anstatt Vorsatzes gerichtet. Der Angeklagte hat eine auf die Verletzung von § 265 Abs. 1 StPO gestützte Verfahrensrüge erhoben und auch die sachlich-rechtliche Überprüfung des Urteils beantragt.

 

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf beide Revisionen als unbegründet.

Zur staatsanwaltschaftlichen Revision führte der Senat aus, dass eine Verneinung des Vorsatzes keinen sachlich-rechtlichen Bedenken begegne. Das LG habe tragfähig und unter Einbeziehung aller wesentlichen tatsächlichen Umstände begründet, warum es davon überzeugt gewesen war, dass der Angeklagte von einer heilenden Wirkung der Präparate ausgegangen war und die möglichen gesundheitsschädlichen Wirkungen als hinnehmbare Nebenwirkungen für die nach seiner Ansicht überwiegenden positiven Effekte angesehen hatte.

Auch die Annahme des Tatgerichts, dass dieses Vorstellungsbild für eine vorsätzliche Tatbegehung nicht ausgereicht habe, sei nicht zu beanstanden.

Für die Einordnung als bedenkliches Arzneimittel sei erforderlich, dass die negativen Folgen einer Einnahme die positiven Effekte nach Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft unvertretbar überwiegen. Um dieses Merkmal der Unvertretbarkeit korrekt erfassen zu können, sei eine Bewertung der therapeutischen und schädlichen Wirkungen in ihrem widerstreitenden Verhältnis nötig. Objektiv habe danach, wie vom LG angenommen, eine Unvertretbarkeit und somit auch ein bedenkliches Arzneimittel vorgelegen. Allerdings hätte sich der Vorsatz des Täters für eine Verurteilung auch auf beide oben genannten Elemente beziehen müssen, weshalb die Kenntnis von einer möglichen schädlichen Wirkung allein nicht ausreichend sei, so neben dem LG auch der BGH.

Der Angeklagte hätte auch die therapeutische Wirkung zumindest nach einer Parallelwertung in der Laiensphäre erfassen müssen, um den sozialen Bedeutungsgehalt des Rechtsbegriffs der Bedenklichkeit in seinen Tatvorsatz aufnehmen zu können.

Genau über diese (nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht vorhandene) positive Wirkung seiner Präparate sei der Angeklagte aber im Irrtum (§ 16 Abs. 1 StGB) gewesen. Daher habe er das Tatbestandsmerkmal der Unvertretbarkeit der schädlichen Wirkungen nicht einmal in seiner Laiensphäre erfassen können, was eine vorsätzliche Begehung der Tat ausschließe.

Auch die Revision des Angeklagten sei unbegründet, da ein ausreichender rechtlicher Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 StPO vom Gericht erteilt worden sei und auch keine sonstigen den Angeklagten belastenden Rechtsfehler erkennbar seien.

 

Anmerkung der Redaktion:

Zur genügenden Bestimmtheit des § 5 Abs. 2 AMG siehe: Urteil des BVerfG vom 26.04.2000 und Beschluss des BGH vom 11.08.1999. Das Urteil des LG Hildesheim finden Sie hier.

 

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