Keine Panik im Nebenstrafrecht – Zur Strafbarkeit wegen Verstößen gegen Sicherheitsmaßnahmen nach dem IfSG

von Wiss. Mit. Henning Lorenz und Akad. Rat a.Z. Mustafa Oğlakcıoğlu

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Abstract
Das Coronavirus hat Deutschland fest im Griff. Auch das Recht ist in der Krise vor zahlreiche Fragen gestellt. So hat die Politik zur Eindämmung der Pandemie weitreichende Schutzmaßnahmen auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) getroffen. Der nachfolgende Beitrag beleuchtet die Frage, inwieweit die nebenstrafrechtlichen Bestimmungen dieses Gesetzes geeignet sind, diese mit Sanktionsandrohung und -verhängung abzusichern.

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Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe verfassungswidrig – BVerfG, Urt. v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15, 2 BvR 651/16, 2 BvR 1261/16, 2 BvR 1593/16, 2 BvR 2354/16, 2 BvR 2527/16

Volltext der Entscheidung

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Leitsätze: 

1. a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.

b) Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.

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Mein Leben – mein Tod: Ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben – Anmerkung zu BVerfG, Urt. v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15, 2 BvR 651/16, 2 BvR 1261/16, 2 BvR 1593/16, 2 BvR 2354/16 und 2 BvR 2527/16

von Alyssa Siems 

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Nicht erst seit Inkrafttreten des § 217 StGB[1] am 10.12.2015 wurden Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Sterbehilfe laut.[2] Bereits in seinem Urteil vom 2.3.2017 hatte das BVerwG entschieden, dass sich aus der Schutzpflicht des Staates auch die Pflicht ergeben kann, dem Bürger, der sich aufgrund seiner schweren und unheilbaren Krankheit in einer „extremen Notlage“ befindet, Zugang zu Betäubungsmitteln zu gewähren, um eine schmerzlose Selbsttötung zu ermöglichen, da dies der grundrechtliche Schutz des Selbstbestimmungsrechts gebiete.[3] Nunmehr hat das BVerfG das in § 217 StGB normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Sterbehilfe etwas mehr als vier Jahre nach seinem Inkrafttreten für nichtig erklärt und damit nicht nur der Unantastbarkeit der Menschenwürde Rechnung getragen, sondern auch die Freiheit gestärkt. Die Diskussion um Leben und Tod ist damit noch nicht am Ende.

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Sarah Bayer: Die strafrechtliche Wiederaufnahme im deutschen, französischen und englischen Recht

von Tino Haupt

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2019, Nomos, Baden-Baden, ISBN 978-3-8487-5495-3, S. 373, Euro 96,00.

I. Einleitung

Nur wenige Normen der Strafprozessordnung haben potentiell soviel Öffentlichkeitswirksamkeit wie die zur Wiederaufnahme in den §§ 359 ff. StPO. Dies haben in den letzten Jahren einige Fälle gezeigt, die in der Öffentlichkeit thematisiert und zumeist auch emotional diskutiert wurden.[1] Zum einen mag dies an den teils spektakulären Umständen der jeweiligen Sachverhalte liegen, zum anderen sind diese Fälle aber auch mit erheblichen rechtlichen Problemen verbunden. Mit der rechtlichen Betrachtung dieser Thematik setzt sich die zu Beginn des Jahres 2019 erschienene Dissertation von Sarah Bayer auseinander. Die Verfasserin stellt in ihrer Dissertationsschrift die historische und aktuelle Situation des Wiederaufnahmerechts in Deutschland, sowie rechtsvergleichend die Möglichkeiten zur Überprüfung rechtskräftiger Strafurteile nach geltendem französischem und englischem Recht dar, um hieraus letztendlich Ideen für eine Reform des deutschen Rechts zu gewinnen. Diese Darstellung mit Rechtsstand April 2018, erfolgt auf insgesamt 373 Seiten.

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KriPoZ-RR, Beitrag 20/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 10.10.2019 – 1 StR 632/18: 1. Senat hält Verfahrensrüge bei Divergenz zwischen Hauptverhandlungsprotokoll und Urteilsurkunde für nicht erforderlich (a.A.: 3. Senat)

Leitsatz der Redaktion:

Weicht das verkündete Urteil laut Hauptverhandlungsprotokoll von der späteren schriftlichen Urteilsurkunde ab, stellt dies einen Rechtsfehler dar, der von Amts wegen zu prüfen ist und nicht mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden muss.

Sachverhalt:

Das LG Nürnberg-Fürth hat den Angeklagten wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen nach der schriftlichen Urteilsurkunde zu 13 Jahren Haft verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte eine Bande zum Absatz von Heroin gegründet, deren Chef er gewesen war. Er hatte das Heroin beschafft, die anderen Mitglieder angewiesen es zu portionieren und abzupacken und dann von weiteren Mitgliedern zu einem festgelegten Preis verkaufen lassen.

Das schriftliche Urteil des LG weist dafür eine Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren aus. In der Sitzungsniederschrift ist der verkündete Tenor allerdings mit 12 Jahren Freiheitsstrafe angegeben worden. Der dem Protokoll angefügte und unterschriebene Tenor enthalte ebenso wie die Haftentscheidung und der Haftbefehl wiederum eine Strafe von 13 Jahren.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das ansonsten im Schuld- und Maßregelausspruch rechtsfehlerfreie Urteil auf, da die Begründung des Strafausspruchs, gerade bei einer solch hohen Freiheitsstrafe, die nötige Begründungstiefe vermissen lasse.

Zu den unterschiedlichen Strafhöhen führte der Senat aus:

Die Ansicht des 3. Senats, dass eine Divergenz zwischen dem Urteilstenor aus dem Hauptverhandlungsprotokoll und dem des schriftlichen Urteils mit der Verfahrensrüge vom Beschwerdeführer anzugreifen sei, begegne Bedenken.

§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gelte nur für Verfahrensverstöße und gerade nicht für Fehler, die von Amts wegen zu prüfen seien. Um einen solchen Fehler handele es sich jedoch bei der verfahrensgegenständlichen Konstellation. Dies folge daraus, dass ein Urteil mit der Verkündung der Urteilsformel nach § 268 Abs. 2 Satz 1 StPO entstehe. Die nachträgliche schriftliche Abfassung und Übernahme des Tenors in eine Urteilsurkunde, seien nicht maßgeblich.

Da das Revisionsverfahren ein zu prüfendes erstinstanzliches Urteil voraussetze, sei auch dessen Bestehen, ebenso wie das Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen der wirksamen Anklageerhebung und des Eröffnungsbeschlusses, von Amts wegen zu prüfen. Somit sei die wirksame Verkündung des Urteils, bewiesen durch das Hauptverhandlungsprotokoll (§ 274 Satz 1 StPO) eine Verfahrensvoraussetzung und von Amts wegen zu prüfen.

Bei einem Auseinanderfallen des Protokolls und der schriftlichen Urteilsurkunde, sei dann die Sitzungsniederschrift maßgeblich.

 

Anmerkung der Redaktion:

Den die Gegenansicht vertretenden Beschluss des 3. Senats finden Sie hier.

 

 

 

Gesetz zur Effektivierung des Bußgeldverfahrens

Gesetzentwürfe: 

 

Die Länder Hessen und NRW haben am 23. Februar 2022 einen Gesetzesantrag zur Effektivierung des Bußgeldverfahrens auf den Weg gebracht, der bereits in der vergangenen Legislaturperiode im Bundestag dem Grundsatz der Diskonitnuität unterlag. Am 11. März 2022 entschied das Plenum, den Gesetzentwurf erneut in den Bundestag einzubringen. In der am 29. April 2022 veröffentlichten Stellungnahme (BT Drs. 20/1545) äußerte sich die Bundesregierung ablehnend:

„Die Bundesregierung hält das Anliegen der Länder, das gerichtliche Bußgeldverfahren effektiver zu gestalten, für nachvollziehbar; einzelne Vorschläge mögen dazu geeignet sein. Insgesamt sind die vorgeschlagenen, teils erheblichen Änderungen der Verfahrensvorschriften des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) jedoch aus Sicht der Bundesregierung nicht der richtige Weg. (…) Zudem sollte eine Effektivierung des OWiG einen angemessenen Ausgleich der Interessen aller Verfahrensbeteiligten im Blick haben. Auch das ist durch den Gesetzentwurf des Bundesrates nicht gewährleistet. Die Bundesregierung lehnt daher den Gesetzentwurf des Bundesrates ab.“

 


19. Legislaturperiode:

 

Das Land Hessen hat einen Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht, mit dem es das Bußgeldverfahren unter Beibehaltung notwendiger hoher rechtsstaatlicher Standards effektiver gestalten und einen zügigen Verfahrensabschluss gewährleisten möchte.

Die Justiz habe auch in Bußgeldverfahren immer vielfältigere Lebenssachverhalte aufzuklären. Die Geldbußen im unteren zweistelligen Bereich nahmen in der Vergangenheit einen großen Raum ein. Insbesondere sei dies bei Verkehrsordnungswidrigkeiten nach § 24 StVG der Fall. Rund 30.000 solcher Verfahren seien bei den Staatsanwaltschaften pro Jahr anhängig. Dies sei mit dem Rechtsstaatsprinzip, das einen Einsatz der Arbeitsressourcen der Justiz unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache vorsieht, nicht zu vereinbaren. Dies gelte vor allem vor dem Hintergrund, dass eine zügige Durchführung des Bußgeldverfahrens im Interesse des Bürgers erforderlich bleibe. Daher sieht das Land Hessen dringenden Handlungsbedarf.

Der Gesetzentwurf sieht daher vor:

  • Änderung des gerichtlichen Verfahrens nach einem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid (Beschlusswege ohne Hauptverhandlung)
  • Erweiterung der Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens durch das Gericht auch ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft
  • Anpassung der Begründungserfordernisse bei Beschlüssen und Urteilen an die Bedeutung der Sache
  • Überarbeitung des Rechtsmittelverfahrens uns Anpassung der Wertgrenzen
  • Einführung einer Anhörungsrüge nach § 80a OWiG-E, mit der der Betroffene sich gegen Entscheidungen des Instanzgerichts wenden kann, auch wenn die Rechtsbeschwerde nicht statthaft ist

Der Entwurf stand am 13. März 2020 auf der Tagesordnung des Bundesrates und wurde im Anschluss auf Antrag des Landes Hessen zwecks Beratung an die Fachausschüsse überwiesen. 

Am 3. Juli 2020 beschloss der Bundesrat, den Entwurf aus Hessen in geänderter Fassung (BR Drs. 107/20 (B)) in den Bundestag einzubringen. Dies wurde am 12. August 2020 umgesetzt (BT Drs. 19/12611). 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 19/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 29.01.2020 – 4 StR 605/19: Revisionsrechtliche Prüfung von Erziehungsmaßregeln auch bei rechtsfehlerfreiem Schuldspruch

Amtlicher Leitsatz:

Das Revisionsgericht hat auf eine unbeschränkt eingelegte und auch sonst zulässige Revision die vorinstanzlich angeordneten Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel ohne die Beschränkung in § 55 Abs. 1 Satz 1 JGG auch dann auf Rechtsfehler zu überprüfen, wenn es den Schuldspruch unangetastet lässt.

Sachverhalt:

Das LG Dessau-Roßlau hat den jugendlichen Angeklagten wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung zu 150 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt.

Hiergegen richtete sich die unbeschränkt eingelegte Revision des Angeklagten, mit der er ebenfalls den Umfang der ihm erteilten Auflagen rügt.

Nach Ansicht des Generalbundesanwalts könne der BGH diese jedoch nicht prüfen, da § 55 Abs. 1 Satz 1 JGG den Prüfungsumfang des Revisionsgerichts einschränke.

Entscheidung des BGH:

Der BGH widersprach dem Generalbundesanwalt und geht von einer umfassenden Prüfungskompetenz aus.

Aus § 337 StPO und § 2 Abs. 2 JGG ergebe sich eine umfassende Prüfungspflicht des Revisionsgerichts, wenn das Rechtsmittel zulässig und unbeschränkt eingelegt worden sei.

Eine Beschränkung dieses Prüfungsumfangs sei nur aufgrund einer besonderen gesetzlichen Regelung möglich. Eine solche stelle § 55 Abs. 1 Satz 1 JGG jedoch nicht dar, da der Beschwerdeführer ausdrücklich auch gegen den Schuldspruch vorgegangen sei. Zudem sei die Norm als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und ihrem Wortlaut daher keine weitergehende Beschränkung zu entnehmen. Dies sei auch vor dem Hintergrund der Garantie eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) geboten.

 

Anmerkung der Redaktion:

Ein Urteil im Jugendstrafverfahren kann nicht dadurch angefochten werden, dass der Revisionsantrag sich ausschließlich gegen Art oder Umfang der verhängten Erziehungsmaßregel wendet: BGH, Beschl. v. 10.07.2013 – 1 StR 278/13.

Sein Angriffsziel muss der Revisionsführer bei Revision gegen ein Zuchtmittelurteil klar benennen: OLG Hamm, Beschl. v. 07.02.2017 – III-5 RVs 6/17.

Eine Umgehung des § 55 Abs. 1 Satz 1 JGG kann nicht durch lediglich formale Angreifung des Schuldspruchs erfolgen: OLG Nürnberg, Beschl. v. 30.03.2016 – 1 OLG 8 Ss 49/16.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 18/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 04.02.2020 – StB 2/20: § 88 JGG gilt auch bei Vollstreckung der Jugendstrafe im Erwachsenenvollzug

Amtlicher Leitsatz:

Die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung einer Restjugendstrafe ist auch dann nach § 88 JGG zu treffen, wenn die Jugendstrafe gemäß § 89b JGG nach den Vorschriften des Strafvollzuges für Erwachsene vollzogen wird und ihre Vollstreckung gemäß § 85 Abs. 6 Satz 1 JGG an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde abgegeben worden ist.

Sachverhalt:

Das OLG München hatte den mittlerweile 38jährigen Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen, die er als Heranwachsender geleistet hatte, zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt.

Die Strafe war gemäß § 89b JGG nach den Vorschriften des Strafvollzuges für Erwachsene vollstreckt worden.

Nach Verbüßung eines Drittels der Haftzeit hatte der Verurteilte einen Antrag auf Restaussetzung der Strafe zur Bewährung gestellt. Diesen Antrag hat das OLG verworfen, da sich die Vollstreckung mittlerweile nach § 57 StGB richte und damit der maßgebliche Halbstrafenzeitpunkt noch nicht erreicht sei.

Gegen diese Entscheidung wendete sich der Verurteilte mit der sofortigen Beschwerde zum BGH.

Entscheidung des BGH:

Der BGH half der Beschwerde ab.

Grundsätzlich sei gemäß § 1 Abs. 2 JGG und § 105 Abs. 1 JGG der Tatzeitpunkt der für die Anwendung des Jugendstrafrechts gemäß § 110 Abs. 1 JGG maßgebliche Zeitpunkt. Damit sei die Geltung des § 88 JGG gesetzlich angeordnet.

Dieser Grundsatz gelte im Erkenntnisverfahren zwingend, auch wenn in Fallkonstellationen wie der verfahrensgegenständlichen der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts nicht mehr zum Tragen komme.

Für eine Einschränkung im Vollstreckungsverfahren, wie vom OLG angenommen, bestünde ebenfalls kein Raum, so der BGH.

Mit der Entscheidung nach § 85 Abs. 6 Satz 1 JGG könne nicht die Feststellung verbunden werden, dass aufgrund fallbedingter Umstände kein Bedürfnis für die Anwendung des Jugendstrafrechts mehr bestehe.

Dies folge zum einen daraus, dass die besonderen Wertungen des Jugendstrafrechts bereits im Erkenntnisverfahren, wenn überhaupt, nur noch eine untergeordnete Rolle gespielt hätten und dennoch eine Jugendstrafe mit geringerem Strafrahmen habe gebildet werden müssen. Der Charakter einer Jugendstrafe ändere sich durch die Herausnahme des Verurteilten aus dem Jugendstrafvollzug gerade nicht, so der BGH.

Zum anderen bestehe für eine Anwendung des § 57 StGB kein zwingender Grund, da § 88 JGG eine Ermessensentscheidung über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung ermögliche, in deren Abwägung dann die besonderen Umstände, wie das hohe Alter des Verurteilten und die Vollstreckung der Strafe nach Erwachsenenstrafrecht, eingestellt werden könnten.

Schließlich spreche auch gegen die Anwendung des § 57 StGB, dass mit einer Abgabeentscheidung nach § 85 Abs. 6 JGG, gegen die lediglich eine gerichtliche Kontrolle gemäß §§ 23 ff. EGGVG möglich ist, dann eine Änderung der materiellen Rechtslage von erheblicher Bedeutung für den Verurteilten einhergehen würde. Vor dem Hintergrund, dass gegen solche Entscheidungen mit ähnlicher Tragweite nach der StPO Rechtsmittel wie die sofortige Beschwerde oder die ausnahmsweise Anfechtbarkeit einer oberlandesgerichtlichen Entscheidung statthaft seien, wäre eine solche Konstellation nicht vom Willen des Gesetzgebers umfasst.

Ebenfalls lasse sich eine Anwendbarkeit des § 57 StGB nicht aus einer Auslegung der §§ 89b Abs. 1, 85 Abs. 6 JGG ableiten.

Der Wortlaut des § 89b JGG spreche gerade von der Vollziehung und nicht Vollstreckung einer Jugendstrafe und nicht Strafe.

Zudem verweise § 85 Abs. 6 Satz 2 JGG nur auf die StPO sowie das GVG und gerade nicht auf das StGB. Eine mittelbare Verweisung auf das StGB über § 454 Abs. 1 StPO liege nach Ansicht des BGH fern.

Abschließend seien zudem keine systematischen oder historischen Argumente ersichtlich, die ein anderes Ergebnis der Auslegung erzwingen würden.

Damit sei der Antrag des Verurteilten auf Aussetzung der Restjugendstrafe zur Bewährung im Ergebnis nicht schon aufgrund der erst zu einem Drittel verbüßten Haftstrafe unzulässig gewesen.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Frage, ob eine nach den Regeln des Erwachsenenvollzugs vollstreckte Jugendstrafe schon nach Verbüßung eines Drittels der Haft zur Bewährung ausgesetzt werden kann, ist in der Rechtsprechung und Literatur umstritten.

Für eine Anwendung des § 57 StGB zum Beispiel: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 25.04.1995 – 1 Ws 332 – 333/95; OLG München, Beschl. v. 12.11.2008 – 2 Ws 986 – 988/08; KG, Beschl. v. 05.04.2011 – 2 Ws 102/11.

 

 

 

Verbesserung der Strafverfolgung hinsichtlich des Handels mit inkriminierten Gütern unter Nutzung von Postdienstleistern

Gesetz zur Verbesserung der Strafverfolgung hinsichtlich des Handels mit inkriminierten Gütern unter Nutzung von Postdienstleistern sowie zur Änderung weiterer Vorschriften vom 9. März 2021: BGBl. I 2021, S. 324 ff. 

Gesetzentwürfe: 

 

Das Land Hessen hat einen Gesetzesantrag zur Verbesserung der Strafverfolgung hinsichtlich des Handels mit inkriminierten Gütern unter Nutzung von Postdienstleistern in den Bundesrat eingebracht (BR Drs. 106/20). Häufig kommt es bei beschädigten oder unzustellbaren Brief- und Paketsendungen zu sog. Zufallsfunden an Betäubungsmitteln oder anderen inkriminierten Gütern, wenn die Sendungen durch Beschäftigte des Postdienstleisters zwecks Ermittlung des Empfängers oder Absenders geöffnet werden. Eine Mitteilung an die Strafverfolgungsbehörden ist allerdings nur in eng begrenzten Fällen verpflichtend. Neben der Verpflichtung für Jedermann zur Anzeige einer geplanten und in § 138 StGB erfassten Straftat, sieht das PostG eine gefahrenabwehrrechtliche Befugnis zur Übergabe der gefährlichen Güter durch die Beschäftigten der Postdienstleister an die Polizeibehörden vor. Nicht hingegen erfasst ist die Aushändigung weiterer Bestandteile der Sendung. 

Der Handel mit inkriminierten Gütern unter Nutzung von Postdienstleistungen, insbesondere im Darknet, nimmt stetig zu. Das Land Hessen ist daher der Ansicht, dass das geltende Recht dem Aspekt der Effektivität der Strafrechtspflege nur einen unzureichenden Stellenwert zuschreibe. Der Gesetzentwurf sieht daher vor, eine Verpflichtung für Beschäftigte von Postdienstleistern zur Vorlage von Postsendungen bei den Strafverfolgungsbehörden einzuführen, bei denen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Straftaten nach dem BtMG, NpSG, AMG, AntiDopG, WaffG oder dem SprengG begangen werden. Für eine vorsätzliche oder fahrlässige Pflichtverletzung sieht der Entwurf einen Ordnungswidrigkeitentatbestand und einen Geldbuße von bis zu 500.000 EUR für das jeweilige Dienstleistungsunternehmen vor. 

Der Gesetzesantrag stand am 13. März 2020 auf der Tagesordnung des Bundesrates und wurde im Anschluß zwecks weiterer Beratung an die Ausschüsse überwiesen. Am 17. Juli 2020 brachte der Bundesrat seinen Gesetzentwurf (BT Drs. 19/20347) in den Bundestag ein. 

Am 12. Februar 2021 hat der Bundestag das Gesetz in der geänderten Fassung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (Drs. 26583/19) angenommen. Letztlich stimmte auch der Bundesrat am 5. März 2021 dem Gesetz zu. Es wurde am 17. März 2021 im Bundesgesetzblatt verkündet und trat einen Tag nach seiner Verkündung in Kraft. 

 

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 17/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 28.01.2020 – 4 StR 303/19: Keine teleologische Reduktion des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG

Amtlicher Leitsatz:

Zur Ablehnung einer teleologischen Reduktion des Tatbestands des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln.

Sachverhalt:

Das LG Bielefeld hat den Angeklagten wegen bewaffneten unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit bewaffnetem unerlaubten Sichverschaffens von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte verschiedene Betäubungsmittel in nicht geringer Menge in seiner Wohnung vorrätig gehalten, um sie teils selbst zu konsumieren und teils zu veräußern.

Diese waren bei einer Wohnungsdurchsuchung neben zwei Teleskopschlagstöcken, einem Jagd- und einem Springmesser sowie einer halbautomatischen Schreckschusspistole sichergestellt worden. Zeitgleich hatte der Angeklagte auch eine weitere Bestellung von Betäubungsmittel bei seinem Lieferanten aufgegeben, was dazu geführt hatte, dass der Kurier ebenfalls von der Polizei festgesetzt werden konnte.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Verurteilung des Angeklagten wegen § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG, da es für den Tatbestand ausreiche, dass dem Täter die Schusswaffe oder der gefährliche Gegenstand während eines Teilakts (hier der Bestellung bei seinem Lieferanten) der Tatbestandsverwirklichung zur Verfügung gestanden habe. Eine Verwendungsabsicht fordere die Qualifikation gerade nicht.

Ebenfalls sei eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs nicht angezeigt.

Telos der Norm sei es, die erhöhte Gefährlichkeit zu adressieren, die von einem Täter bei einem Akt des Betäubungsmittelhandels ausgehe, der jederzeit Zugriff auf eine Waffe habe. Daher schütze die Qualifikation nicht nur das Rechtsgut der Volksgesundheit, sondern darüber hinaus als abstraktes Gefährdungsdelikt auch das Leben und die körperliche Unversehrtheit von Personen, die gewollt oder ungewollt mit dem Täter während des Umsatzgeschäfts in Kontakt kämen.

Dabei sei dem Gesetzgeber bei der Einführung des Tatbestandes die weite Auslegung des Handeltreibens in der Rechtsprechung bekannt gewesen, was schon gegen eine einschränkende Auslegung spreche.

Zudem seien keine klaren Kriterien ersichtlich, anhand derer eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs der Norm festgemacht werden könne, so der BGH.

Eine Begrenzung auf Konstellationen, in denen ein zeitgleicher Zugriff auf die Waffe bestanden habe, würde bewaffnete und nicht am Umsatzgeschäft unmittelbar beteiligte Hintermänner privilegieren.

Da die Norm alle Personen schützen solle, die mit dem Täter während des Handeltreibens in Kontakt kämen, scheide auch eine Begrenzung auf vom Täter gewollte Begegnungen mit Dritten unter dem Gesichtspunkt der Gefährlichkeit aus. Auch oder gerade die ungewollten Begegnungen von Dritten mit einem bewaffneten Täter, böten gefährliches Eskalationspotential.

Zudem habe der Gesetzgeber den Tatbestand bewusst als abstraktes und gerade nicht als konkretes Gefährdungsdelikt ausgestaltet, um das Erfordernis einer gefährlichen Situation im Einzelfall mit einer bevorstehenden Rechtsgutsverletzung auszuschließen.

Für eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs bestehe auch deshalb kein Bedürfnis, da atypische Fallkonstellationen mit geringem Schuldumfang des Täters über § 30a Abs. 3 BtMG erfasst werden könnten.

Lediglich die konkurrenzrechtliche Bewertung durch das LG sei rechtsfehlerhaft, da der Waffenbesitz beide Taten des bewaffneten Handeltreibens zu einer Tateinheit verknüpfe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Überlegungen, Fälle, bei denen keine Gefahr für das geschützte Rechtsgut bestand, von der Strafbarkeit der Qualifikation auszunehmen, finden sich beispielsweise in BGH, Urt. v. 14.08.2018 – 1 StR 149/18 und BGH, Beschl. v. 03.04.2002 – 1 ARs 14/02.

 

 

 

 

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