KriPoZ-RR, Beitrag 36/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 19.04.2021 – 1 BvR 1732/14: Dritte Verfassungsbeschwerde gegen Bestandsdatenauskunft ohne Erfolg

Leitsatz der Redaktion:

Die bloße Behauptung, Telemediendienste zu nutzen, genügt nicht, um die wahrscheinliche persönliche Betroffenheit von einer heimlichen Auskunftsabfrage darzulegen.

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführenden haben sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die Regelungen zur (Bestands-)Datenauskunft in § 180a des Landesverwaltungsgesetztes Schleswig-Holstein und § 8a Abs. 1 des Landesverfassungsschutzgesetztes Schleswig-Holstein sowie gegen § 15 Abs. 5 Satz 4 TMG in der Fassung des Gesetzes vom 26. Februar 2007 gewendet.

Sie sähen sich in ihren Grundrechten auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), Telekommunikationsgeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) und effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzt.

Die Befugnisse zum Datenabruf für Polizei- und Verfassungsschutzbehörden bei Telekommunikations- und Telemediendiensteanbietern seien unverhältnismäßig, da die Eingriffsschwellen zu niedrig angesetzt und die Vorgaben an Transparenz, Rechtsschutz und Kontrolle nicht gewahrt seien.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an, da sie zum Teil unzulässig und zum Teil unbegründet seien.

Soweit sich die Beschwerden gegen § 15 Abs. 5 Satz 4 TMG und gegen die Befugnisse der §§ 180a Abs. 4 LVwG, 8a Abs. 1 Satz 1 LVerfSchG in Bezug auf Telemediendiensteanbieter richteten, seien sie unzulässig.

Zum einen sei bezüglich der §§ 15 Abs. 5 Satz 4 TMG und 8a Abs. 1 Satz 1 HS 1 LVerfSchG Verfristung nach § 93 Abs. 3 BVerfGG eingetreten, da die Jahresfrist seit Inkrafttreten der Normen bereits verstrichen sei und die inhaltlichen Änderungen der Regelungen im Nachgang keinen nicht schon vorher bestehenden Regelungsinhalt eingeführt hätten, so das BVerfG.

Hinsichtlich der Befugnisse in § 180a Abs. 4 LVwG und § 8a Abs. 1 Satz 1 HS 2 LVerfSchG zum Datenabruf bei Telemediendiensteanbietern hätten die Beschwerdeführenden keine hinreichende persönliche Betroffenheit geltend gemacht.

Zwar genüge bei Ausforschungsbefugnissen, die eine Mitteilung ihres Vollzugs an den Betroffenen nicht vorsehen, die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführende von staatlichen Ausforschungsmaßnahmen betroffen sei. Diese Wahrscheinlichkeit müsse allerdings nachvollziehbar dargelegt und verdichtet sein. Der allgemeine Hinweis auf die Nutzung von Telemediendiensten durch die Beschwerdeführenden als Abgeordnete genüge für eine solche hinreichend verdichtete Wahrscheinlichkeit nicht, da es im Gegensatz zu Telekommunikationsdiensten bei Telemediendiensten eine Fülle von Angeboten mit mal intensiverer und mal wenig intensiver Datenspeicherung gebe. Daher sei es auch für die Nutzer solcher Dienste nicht gleichermaßen wahrscheinlich in das Visier staatlicher Überwachungsbehörden zu gelangen. Es komme immer auf den jeweiligen Nutzer und den jeweiligen genutzten Telemediendienst an. Daher genüge die pauschale Behauptung, man nutze solche Dienste, nicht, um die persönliche Betroffenheit von einer Ausforschungsmaßnahme zu begründen.

Im Übrigen seien die Verfassungsbeschwerden unbegründet, da die Befugnisse zum Datenabruf bei Telekommunikationsdienstleistern den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit genügten.

Die Befugnisse sähen jeweils ausreichende Eingriffsschwellen in Form einer konkreten Gefahr, teilweise für nur bestimmte gewichtige Rechtsgüter, im Einzelfall vor. Damit genügten sie den Anforderungen des BVerfG sowohl für den Bestandsdatenabruf bei Telekommunikationsdiensteanbietern als auch den Abruf solcher Daten über dynamische IP-Adressen zu nachrichtendienstlichen Zwecken, da sie zweckgebunden und zum Schutz gewichtiger Rechtsgüter eingesetzt werden müssten.

 

Anmerkung der Redaktion:

Das BVerfG hat in seinen Entscheidungen zur Bestandsdatenauskunft (Bestandsdatenauskunft I im Jahr 2012 und II im Jahr 2020) bereits festgelegt, dass der Gesetzgeber sowohl Übermittlungs- als auch Abrufbefugnisse schaffen muss, die die Verwendungszwecke der Daten hinreichend begrenzen, mithin die Datenverwendung an bestimmte Zwecke, tatbestandliche Eingriffsschwellen und einen hinreichenden gewichtigen Rechtsgüterschutz binden.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 35/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 16.03.2021 – 5 StR 35/21: Beweisantrag ins Blaue hinein bleibt nur in Ausnahmefällen Beweisermittlungsantrag

Leitsatz der Redaktion:

Ein als Beweisantrag bezeichneter Antrag, der lediglich eine Beweisbehauptung ins Blaue hinein aufstellt und dem es an der Ernsthaftigkeit i.S.d. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO fehlt, kann von den Gerichten nach einer Gesamtschau aller relevanten Faktoren als Beweisermittlungsantrag behandelt werden.

Sachverhalt:

Das LG Leipzig hat die Angeklagten aufgrund mehrerer Raub und Körperverletzungstaten verurteilt.

Im Prozess hatte der Verteidiger des Angeklagten eine Zeugenvernehmung beantragt, die das Alibi seines Mandanten hatte bestätigen und diesen als Mittäter in zwei Fällen hatte ausschließen sollen.

Diesen Antrag hatte das LG am nächsten Verhandlungstag nach einer argumentativen Auseinandersetzung abgelehnt, da die Beweisbehauptung nur ins Blaue hinein abgegeben worden sei und der Antrag deshalb lediglich als Beweisermittlungsantrag zu werten sei.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Entscheidung des LG.

Es entspreche der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung, dass Beweisanträge keine Beweisanträge im Rechtssinne darstellten, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne jede begründete Vermutung lediglich aufs Geratewohl und ins Blaue hinein aufgestellt werde, so dass es sich nur um einen nicht ernstlich gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag handele. An dieser Wertung habe der Gesetzgeber trotz der breiten Kritik auch festhalten wollen, da er das Beweisantragsrecht mit dem Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens angepasst, aber diese Wertung gezielt übernommen habe, so der BGH. Demnach komme es auch in Zukunft nicht auf die Sichtweise des Tatgerichts an, ob dieses eine beantrage Beweiserhebung für erforderlich halte, sondern die Ernsthaftigkeit eines solchen Antrags beurteile sich aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht in Frage gestellten Tatsachen. Eine Ablehnung mangels Ernsthaftigkeit habe äußerst zurückhaltend und nur unter diesen strengen Voraussetzungen zu erfolgen.

Diese Entscheidung des Gesetzgebers sei von der Rechtsprechung zu akzeptieren, auch wenn sie zu Widersprüchen mit der Neuregelung des § 244 Abs. 6 Satz 2 StPO führe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Alle Informationen zum Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 34/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 26.01.2021 – 1 StR 463/20: Rechtfertigende Einwilligung in Körperverletzung in einer Haftanstalt

Leitsatz der Redaktion:

Verabreden sich zwei Insassen einer Haftanstalt (auch konkludent) zu einer körperlichen Auseinandersetzung, die grundsätzlich nicht lebensgefährlich werden soll, sind die gegenseitigen Körperverletzungen aufgrund einer Einwilligung gerechtfertigt.

Sachverhalt:

Das LG Traunstein hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen waren der Angeklagte und das Opfer Insassen in verschiedenen Häusern derselben Justizvollzugsanstalt gewesen. Sie hatten sich in der Vergangenheit vermehrt gestritten und es war allen Beteiligten klar gewesen, dass es bald zu einer körperlichen Auseinandersetzung kommen würde. Bei dem nächsten Aufeinandertreffen der beiden Insassen hatten sie sodann mit Fäusten aufeinander eingeschlagen, wobei das Opfer nach einem wuchtigen Schlag gegen den Kopf aufgrund dessen Beschleunigung einen Gefäßabriss im Bereich der Hirnbasis erlitten hatte, was zu starken Blutungen und wenig später zu seinem Tod geführt hatte. Das LG hat weder feststellen können, wer die tätliche Auseinandersetzung letztendlich begonnen, noch welcher Schlag des Angeklagten zum Tode geführt hatte. Zugunsten des Angeklagten ist es davon ausgegangen, dass der zu Boden gestürzte Angeklagte noch für einen Moment eingeschränkt handlungsfähig war und versucht hatte, sich am Shirt des Angeklagten hochzuziehen, weshalb dieser ihm nochmals in das Gesicht geschlagen hatte. Schließlich hatte der Angeklagte dem Opfer noch einen Tritt auf die Stirn versetzt.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da die Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge rechtsfehlerhaft erfolgt sei.

Da der Grundtatbestand der Körperverletzung aufgrund einer Einwilligung des Geschädigten gerechtfertigt gewesen sei, könne der Angeklagte sich nicht wegen Körperverletzung mit Todesfolge strafbar gemacht haben, wenn man zu seinen Gunsten annehme, dass der erste Schlag gegen den Kopf bereits tödlich gewesen sei.

Beide Beteiligten hätten sich durch ihr Verhalten vor der Auseinandersetzung konkludent zu dieser verabredet, wobei sie davon ausgegangen seien, dass es zu gegenseitigen Körperverletzungen in Form von Schlägen gegen den Körper und ins Gesicht kommen werde. Dadurch hätten beide wirksam über ihre körperliche Unversehrtheit disponiert und in das Tatgeschehen rechtfertigend eingewilligt (§ 228 StGB).

Eine Unwirksamkeit der Einwilligung wegen Verstoßes gegen die guten Sitten sei abzulehnen, so der BGH.

Zwar sei eine Körperverletzung als sittenwidrig und damit einwilligungsunfähig zu bewerten, wenn bei objektiver Betrachtung unter Einbeziehung aller maßgeblichen Umstände die einwilligende Person durch die Körperverletzungshandlung in konkrete Todesgefahr gebracht werde. Dabei seien auch Eskalationsgefahren von gruppendynamischen Prozessen zu berücksichtigen. Sorge das konkret vereinbarte Geschehen jedoch für eine ausreichende Sicherheit der Verhinderung solch gravierender Folgen und begrenze die Gefahr für die Beteiligten, sei dies als freie Disposition des Rechtsgutträgers hinzunehmen.

Nach diesen Maßstäben sei die Körperverletzungshandlung nicht als sittenwidrig einzustufen, da beide Kontrahenten abwehrbereit und abwehrfähig gewesen waren und mit einer konkreten Todesgefahr nicht hätte gerechnet werden müssen. Ebenfalls war ein Eingreifen anderer Gefangener nicht verabredet, sodass zwar im Grundsatz eine Eskalationsgefahr bestanden habe, diese jedoch aufgrund anderer Argumente, wie beispielsweise des präsenten Wachpersonals und ihrer Doppelrelevanz als deeskalierendes Eingreifen der anderen Gefangenen, nicht zu einer Sittenwidrigkeit führe.

Dass eine körperliche Auseinandersetzung in einer Haftanstalt unerwünscht sei und disziplinarisch geahndet werde, mache diese noch nicht sittenwidrig, so der BGH, da dieses ordnungsrechtliche Verbot nur den äußeren Rahmen der einverständlichen Körperverletzungshandlungen berühre.

Etwas Anderes gelte für den Sturz des Opfers auf den Boden bzw. den darauffolgenden Stampftritt des Angeklagten, da dieser Geschehensablauf nicht mehr von der Vereinbarung gedeckt gewesen und darüber hinaus aufgrund der konkreten Todesgefahr eines Tritts gegen den Kopf auch sittenwidrig gewesen sei. Allerdings müsse in dubio pro reo davon ausgegangen werden, dass dieses Verhalten des Angeklagten nicht todesursächlich gewesen sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits 2013 hatte der BGH entschieden, dass die Eskalationsgefahr gruppendynamischer Prozesse zu einer Sittenwidrigkeit der Körperverletzungshandlung führen kann (BGH, Beschl. v. 20.02.2013 – 1 StR 585/12).

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 33/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 12.01.2021 – 4 StR 280/20: Vorbehaltene Sicherungsverwahrung im JGG

Amtlicher Leitsatz:

Zu den formellen und materiellen Voraussetzungen einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 2 Satz 1 JGG.

Sachverhalt:

Das LG Bochum hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit Diebstahl sowie wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Einheitsjugendstrafe verurteilt und die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte mit dem Mitangeklagten das Opfer gewaltsam zu Boden gebracht, um ihm Wertsachen und Betäubungsmittel zu entwenden. Nach der Wegnahme hatte der Angeklagte dem Opfer einen wuchtigen Tritt in das Gesicht versetzt.

Bei der zweiten Tat hatte der Angeklagte die Nebenklägerin unter Anwendung von Gewalt und trotz ihrer Gegenwehr gezwungen, den vaginalen und analen Geschlechtsverkehr mit ihm auszuüben, wobei sie sich Verletzungen zugezogen hatte. Im Anschluss daran hatte der Angeklagten dann noch ihr Mobiltelefon und eine Packung Zigaretten entwendet.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte das Urteil des LG hob jedoch die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung gem. § 7 Abs. 2 Satz 1 JGG auf.

Die formellen Voraussetzungen einer vorbehaltenen Anordnung der Sicherungsverwahrung seien allerdings erfüllt gewesen, so der BGH. Der Angeklagte sei wegen eines Verbrechens gegen die sexuelle Selbstbestimmung verurteilt worden, durch welches das Opfer auch schwere seelische und körperliche Schäden erlitten habe. Ebenfalls sei eine Strafe oberhalb der Siebenjahresgrenze ausgeurteilt worden. Dass es sich bei der Strafe um eine einheitliche Jugendstrafe handele, die neben der Katalogtat auch andere tateinheit- und –mehrheitlich begangene Nicht-Katalogtaten ahnde, sei nicht von Belang.

Der Wortlaut widerspreche dem nicht und auch der gesetzgeberische Wille lasse nichts Anderes erkennen, da im Gesetzgebungsprozess literaturseitig auf diesen Punkt hingewiesen worden sei und der Gesetzgeber die Regelung dennoch unverändert beibehalten habe.

Es sei auch nicht als besondere Einschränkung zu verlangen, dass das Tatgericht in den Urteilsgründen festhalte, dass die Katalogtat schon alleinig eine Strafe über der Siebenjahresgrenze rechtfertige. Eine solche Einschränkung sei im Wortlaut der Norm nicht angelegt und der Gesetzgeber habe mit dem Erfordernis der schweren seelischen oder körperlichen Schäden durch die Katalogtat schon für eine hinreichend prägende Bedeutung der Katalogtat für die Strafzumessung Sorge getragen, so der Senat. Die anderslautende Rechtsprechung, die sich zu § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB und § 66a Abs. 1 Nr. 1 StGB entwickelt habe, sei auf die vorbehaltene Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 2 Satz 1 JGG nicht übertragbar, da sich die Tatbestandsvoraussetzungen beider Normen derart unterschieden, dass eine vergleichbare Rechtslage nicht bestehe.

Ebenfalls könne eine solche Einschränkung nicht aus dem Umstand abgeleitet werden, dass eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung nach Erwachsenenstrafrecht bei Heranwachsenden gemäß § 106 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 JGG auch anhand der Strafzumessung für die konkrete Katalogtat anzuordnen sei. Eine drohende Schlechterstellung, wenn ein Heranwachsender nach Jugendstrafrecht verurteilt werde, sei nicht gegeben, da die sonstigen formellen Voraussetzungen ein gleiches Schutzniveau für den Täter gewährleisten würden.

Dennoch sei die vorbehaltene Sicherungsverwahrung hier aufzuheben gewesen, da die Gefährlichkeitsprognose als materielle Voraussetzung nicht den revisionsrechtlichen Anforderungen entspreche.

Erforderlich sei eine Gesamtwürdigung des Jugendlichen und seiner Tat oder seiner Taten, die ergebe, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der in § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 JGG bezeichneten Art begehen werde.

Der Begriff „hohe Wahrscheinlichkeit“ in § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 JGG entspreche der Gefährlichkeitsstufe für die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach einer Maßregelerledigung gemäß § 66b Satz 1 Nr. 2 StGB. Diese liege über der Gefährlichkeit im Sinne von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB, § 106 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 JGG und der Erwartung erheblicher Straftaten gemäß § 66a Abs. 3 Satz 2 StGB und könne nur angenommen werden, wenn ein „hohes Maß an Gewissheit“ (Prognosesicherheit) über die Gefahr bestehe, dass der Täter neue Katalogtaten begehen werde, so der BGH.

Die Prognose müsse inhaltlich eine Auseinandersetzung mit der Person des Betroffenen, seiner Taten und seiner Entwicklung bis zur Entscheidung erkennen lassen und sowohl inhaltlich, als auch qualitativ höchsten Anforderungen entsprechen.

 

Anmerkung der Redaktion:

Im Februar 2021 hatte der BGH entschieden, unter welchen Voraussetzungen eine vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung endgültig durchgeführt werden kann. Mehr dazu im KriPoZ-RR, Beitrag 16/2021.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 32/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 24.03.2021 – 4 StR 416/20: Garantenstellung aus Ingerenz als bes. pers. Merkmal

Amtliche Leitsätze:

1a. Die Garantenstellung aus Ingerenz ist ein besonderes persönliches Merkmal im Sinne von § 28 Abs. 1 StGB.

 b. Fehlen mehrere besondere persönliche Merkmale, welche die Strafbarkeit des Täters begründen, beim Teilnehmer, so ist dessen Strafe nach § 28 Abs. 1 StGB i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB nur einmal zu mildern (insoweit nicht tragend).

2. Die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB gilt nur für den Täter.

Sachverhalt:

Das LG Aachen hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Beihilfe zum versuchten Mord und zum unerlaubten Entfernen vom Unfallort verurteilt. Daneben hat es eine Fahrerlaubnissperre von fünf Jahren angeordnet.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatten der Angeklagte und der Mitangeklagte in einer Gaststätte Alkohol konsumiert und waren danach jeweils in ihren Autos ohne Fahrerlaubnis und mit überhöhter Geschwindigkeit nach Hause gefahren. Dabei hatte der Mitangeklagte einen vorfahrtsberechtigten Radfahrer übersehen und diesen tödlich verletzt. Er hatte angehalten und es für möglich gehalten, dass das Opfer noch gelebt hatte und durch seine Hilfe hätte gerettet werden können. Dennoch hatte er sich zur Weiterfahrt entschieden. Währenddessen war der Angeklagte nach Hause gefahren. Dem Mitangeklagten war die Weiterfahrt nicht gelungen, sodass er den Angeklagten angerufen und um Hilfe gebeten hatte. Dieser war der Bitte nachgekommen und hatte den Mitangeklagten daraufhin abgeschleppt. Auch er war im Zeitpunkt des Abschleppens davon ausgegangen, dass das Opfer noch gelebt hatte und hätte gerettet werden können.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte den Schuldspruch und hob das Urteil im Strafausspruch aus, da das LG eine Strafmilderung gem. § 28 Abs. 1 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB nicht bedacht habe.

Indem der Mitangeklagte davon ausging, dem Opfer noch das Leben retten zu können und dennoch die Unfallstelle verließ, um seine Trunkenheitsfahrt zu verschleiern, habe sich dieser wegen versuchten Mordes durch Unterlassen strafbar gemacht. Im Abschleppen des Angeklagten sei daher eine Beihilfehandlung zu dieser Tat zu sehen. Da dieser den Unfall jedoch nicht verursacht hätte, fehle bei ihm die Garantenstellung aus Ingerenz.

Weil diese allerdings ein besonderes persönliches Merkmal nach § 28 Abs. 1 StGB darstelle, hätte das LG eine Strafmilderung i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB in Erwägung ziehen müssen, so der BGH.

Zwar werde in der Literatur konstatiert, dass Garantenstellungen generell nicht dem § 28 Abs. 1 StGB unterfielen, da diese lediglich die Funktion hätten, positives Tun und Unterlassen bei der Zurechnung des Erfolgs gleichzustellen. Nach dieser Ansicht sei es ungerecht, dem nicht garantenpflichtigen Teilnehmer eines unechten Unterlassungsdelikts eine Strafmilderung zuzugestehen, welche der Teilnehmer an einem durch aktives Tun verwirklichten Delikt nicht erhalte, wenn dem Haupttäter beide Tatvarianten zur Verfügung gestanden hätten.

Eine andere Meinung ginge davon aus, dass jedenfalls die Garantenstellung aus Ingerenz bzw. Überwachungsgaratenstellungen generell keine besonderen persönlichen Merkmale seien, das diese an situative, also tatbezogene, Umstände vor der Tat anknüpfe.

Nach Ansicht des BGH, charakterisiere eine Garantenstellung aus Ingerenz jedoch den Täter und seine persönliche Verpflichtung zur Erfolgsabwendung. Die Erfolgsabwendungspflicht sei eine Verpflichtung mit starkem persönlichen Einschlag, da sie ausschließlich in der Person des Täters verankert sei, was auch ihren maßgeblicheen Unterschied zur unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c Abs. 1 StGB darstelle.

Daneben gab der BGH noch den Hinweis, dass bei fehlender Verdeckungsabsicht des Angeklagten die Strafmilderung nach § 28 Abs. 1 StGB dennoch nur einmal in Betracht komme.

Außerdem äußerte er sich zur Maßregelanordnung nach § 69a Abs. 1 S. 3 StGB, die ebenfalls nicht bestehen bleiben könne, da das LG die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB angewendet hätte, diese jedoch nur für Täter und nicht für Gehilfen gelte. Dies ergebe sich schon aus dem Wortlaut der Norm und auch aus den Gesetzesmaterialien. Auch beeinflusse der Tatbeitrag eines Gehilfen die Sicherheit des Straßenverkehrs meist weniger stark, als der des Täters, weshalb auch nach dem Telos der Norm, eine Vermutungswirkung nur für den Täter der Katalogtaten anzunehmen sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

Da die Garantenstellung bei unechten Unterlassensdelikten immer ein strafbegründendes Merkmal ist und das LG sich hier nicht von einer eignen Verdeckungsabsicht des Angeklagten hatte überzeugen können, kam es hier auf die Streitfrage des Verhältnisses von Mord und Totschlag nicht an. Zu diesem Problem siehe: BGH, Beschl. v. 10.01.2006 – 5 StR 341/05

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 31/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 24.03.2021 – 6 StR 240/20: Zum gewerblichen Zweck bei der Nutzung von Cannabis i.S.d. Anlage I zum BtMG

Leitsatz der Redaktion:

Bei der Nutzung von Cannabis privilegierter Herkunft zu gewerblichen Zwecken im Sinne der Anlage I (Buchst. b) zu § 1 Abs. 1 BtMG kommt es für ein Eingreifen der Ausnahmeregelung nicht darauf an, ob der Endabnehmer ebenfalls einen solchen gewerblichen Zweck verfolgt.

Sachverhalt:

Das LG Braunschweig hat die Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatten die Angeklagten Cannabispflanzenteile bestellt und diese in Ladenlokalen als Hanfblütentee an Endabnehmer verkauft. Dabei waren sie davon ausgegangen, dass der THC-Gehalt im Pflanzenmaterial im Durchschnitt bei 0,1% gelegen habe.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da das LG ein zu enges Verständnis des gewerblichen Zwecks gezeigt habe.

Das LG war davon ausgegangen, dass gewerbliche Zwecke auch beim Endabnehmer Erwerbsgrund sein müssten, um so eine Nutzung des Cannabis zu Konsumzwecken auszuschließen.

Diese Ansicht finde im Wortlaut der Anlage jedoch keine Stütze, so der BGH.

Auch entspräche eine solche enge Auslegung nicht der gesetzgeberischen Zielsetzung. Dadurch, dass der Gesetzgeber explizit im Wortlaut die Ausnahme nur eingreifen lasse, wenn durch den Zweck der gewerblichen Nutzung ein Missbrauch zu Rauschzwecken auszuschließen sei, stelle er klar, dass beim Endabnehmer gerade keine gewerblichen Zwecke vorliegen müssten. Wäre auch beim Endabnehmer eine gewerbliche Nutzung zu verlangen, wäre dieses Einschränkende Tatbestandsmerkmal, welches nachträglich in die Anlage eingefügt worden war, redundant, so der BGH.

Darüber hinaus würde man auch beim Endabnehmer eine gewerbliche Nutzung fordern, so würde man – zumindest objektiv – den am Beginn der Lieferkette stehenden Lieferanten von Nutzhanf für einen von ihm nicht bezweckten Konsum durch den Endabnehmer strafrechtlich zur Verantwortung ziehen.

Da sich die Verurteilung auf das Merkmal des gewerblichen Zwecks gestützt habe, sei sie aufzuheben gewesen. Für das tatsächlich nicht erfüllte Merkmal des Auschlusses eines Missbrauchs zu Rauschzwecken, fehle es an Feststellungen zur subjektiven Tatseite.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Ausnahmeregelung der Anlage I zum BtMG war am 29. März 1996 dahingehend geändert worden, dass nur noch ein solcher gewerbliche Gebrauch verboten sein sollte, der einen Missbrauch zu Rauschzwecken ermöglicht. Die Änderungsverordnung finden Sie hier.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 30/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 23.03.2021 – 6 StR 452/20: Zum zeitlichen Anwendungsbereich des § 30 Abs. 2a OWiG

Amtlicher Leitsatz:

Bei einer unter der Geltung des § 30 Abs. 2a OWiG erfolgten Gesamtrechtsnachfolge kann eine Geldbuße gegen den Rechtsnachfolger auch dann festgesetzt werden, wenn die Anknüpfungstat vor Inkrafttreten der Vorschrift am 30. Juni 2013 begangen worden ist.

Sachverhalt:

Das LG Neuruppin hat den Angeklagten wegen Bestechung im geschäftlichen Verkehr verurteilt. Gegen die Nebenbeteiligte hat es eine Geldbuße festgesetzt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte als Geschäftsführer der M-GmbH spätestens am 26. September 2012 eine Abmachung mit dem Mitangeklagten S. getroffen, wonach dieser der M-GmbH Informationen aus einem Vergabeverfahren verschafft und für ihre Beauftragung gesorgt hatte und dafür im Gegenzug kostenlose Bauleistungen der M-GmbH an seinem privaten Einfamilienhaus erhalten hatte.

Am 14. August 2013 war die M-GmbH durch Übertragung ihres Vermögens als Ganzes unter Auflösung auf die Nebenbeteiligte verschmolzen worden, deren Geschäftsführer der Angeklagte seit dem 12. Oktober 2012 gewesen war.

Entscheidung des BGH:

Der BGH sah die Festsetzung der Geldbuße gegen die Nebenbeteiligte als rechtlich unbedenklich an.

Zwar sei die Anknüpfungstat nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 OWiG in Form der Bestechung im geschäftlichen Verkehr gem. § 299 Abs. 2 StGB vor dem Inkrafttreten des § 30 Abs. 2a OWiG begangen worden. Dies hindere ihre Anwendung jedoch nicht.

Mit der Verschmelzung der M-GmbH und der Nebenbeteiligten, sei diese Gesamtrechtsnachfolgerin der M-GmbH gem. §§ 2 ff., 20 UmwG geworden. Für diesen Fall sehe § 30 Abs. 2a OWiG grundsätzlich vor, dass auch gegen die Rechtsnachfolgerin eine Geldbuße verhängt werden könne.

Die Rechtsnachfolge trat auch nach Inkrafttreten des § 30 Abs. 2a OWiG ein, daher sei den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genüge getan.

§ 30 Abs. 2a OWiG stelle eine Rechtsgrundlage zur Verhinderung der Umgehung einer Bebußung eines Unternehmens durch die gezielte Ausnutzung der gesellschaftsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten dar. Daher sei die Norm kein eigenständiger Ahndungstatbestand und somit nicht in seiner Gänze an Art. 103 Abs. 2 GG zu messen. Er bewirke lediglich ein Einrücken des Rechtsnachfolgers in die Adressatenstellung der Bußgeldsanktion, welche schon zuvor ohne Verletzung des Rückwirkungsverbots zustande gekommen sei. Ein (Organ-)Verschulden oder eine andere persönliche Vorwerfbarkeit werde ihm gerade nicht zur Last gelegt.

Daher sei der maßgebliche, den Tatbestand des § 30 Abs. 2a OWiG erfüllende Akt die Begründung der Gesamtrechtsnachfolge. Da diese hier nach Inkrafttreten der Norm eingetreten sei, sei die Entscheidung des LG zu bestätigen, so der BGH.

 

Anmerkung der Redaktion:

Zu einem solchen Fall der sog. unechten Rückwirkung hatte sich das BVerfG im Februar 2021 auf dem Gebiet der Vermögensabschöpfung geäußert. Die Entscheidung finden Sie im KriPoZ-RR, Beitrag 15/2021.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 29/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 03.03.2021 – 4 StR 338/20: Diebstahl am Geldautomaten

Amtlicher Leitsatz:

Zum Gewahrsam des Bankkunden am Bargeld im Ausgabefach eines Geldautomaten, wenn er den Auszahlungsvorgang durch Einführen seiner Karte und Eingabe der zugehörigen PIN-Nummer ausgelöst hat.

Sachverhalt:

Das LG Dortmund hat die Angeklagten L. und B.R. wegen Diebstahls in einem besonders schweren Fall in fünf Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit versuchter Nötigung, den Angeklagten T. wegen besonders schweren räuberischen Diebstahls sowie Diebstahls in einem besonders schweren Fall und den Angeklagten D.R. wegen besonders schweren räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatten sich die Angeklagten L. und B.R. neben Bankkunden an den Geldautomaten gestellt und nachdem diese ihre Karte und PIN in den Automaten eingegeben hatten, das Eingabefeld verdeckt und selbst Beträge eingegeben und die Auszahlung bestätigt. Danach hatten sie das Geld entnommen und sich entfernt. Teilweise hatten sie dabei eine Kundin vom Automaten weggeschubst. Die Angeklagten T. und D.R. hatten teils an den Taten mitgewirkt und die Flucht der Täter gesichert.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Verurteilungen durch das LG, da es sich bei der Entnahme der Geldscheine aus dem Automaten um eine Wegnahme gehandelt habe.

Bei der Freigabe des Geldes in dem Ausgabefach des ordnungsgemäß bedienten Automaten könne es sich, wie vom Zweiten Strafsenat vertreten, um eine Preisgabe des Gewahrsams durch das Geldinstitut handeln, was einen Bruch desselben unmöglich machte.

Andererseits nehme der Dritte Strafsenat einen Gewahrsamsbruch an, da die Bank den Gewahrsam am Geld nur an den den Geldautomaten ordnungsgemäß Bedienenden übertragen wolle und gerade nicht an eine später eingreifende Person.

Dies Streitfrage entschied der Vierte Strafsenat jedoch nicht, da er jedenfalls von einem im Zeitpunkt der Entnahme des Geldes bestehenden Mitgewahrsam der Bankkunden ausgeht, der unproblematisch durch den Täter gebrochen worden sei.

Gewahrsam sei definiert als die von einem Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft. Eine solche sei gegeben, wenn jemand auf eine Sache unter normalen Umständen einwirken kann und seiner Herrschaft keine Hindernisse entgegenstehen. Dabei seien die Umstände des Einzelfalls und die Anschauungen des täglichen Lebens maßgeblich, so der BGH.

Die Verkehrsanschauung ordne Bargeld, das im geöffneten Ausgabefach eines Geldautomaten liege zumindest auch der Person zu, die den Automaten bedient habe, der somit zumindest ein Mitgewahrsam zufalle. Dieser sei auch von einem Herrschaftswillen getragen, da die Person wisse, dass ihr Konto mit dem Betrag belastet werde. Daher sei es auch unerheblich, dass die Täter den genauen Betrag eingegeben hätten.

Diesen Mitgewahrsam hätten die Täter jedenfalls gebrochen.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Entscheidung des Zweiten Strafsenats finden Sie hier.

Den KriPoZ-RR Beitrag zur Entscheidung des Dritten Senats finden Sie hier.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 28/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 17.03.2021 – 2 BvR 194/20: Zur Sphäre vertraulicher Kommunikation bei Gefangenenpost

Leitsatz der Redaktion:

Führt ein Gefangener mit mehreren engen Vertrauenspersonen eine Unterhaltung per Brief, unterfallen diese dem besonderen persönlichkeitsrechtlichen Schutz einer Sphäre vertraulicher Kommunikation, was eine Einzelfallabwägung bei der Ermessensentscheidung nach Art. 34 Abs. 1 BayStVollzG erforderlich macht, selbst wenn Belange der Sicherheit und Ordnung der Anstalt betroffen sind.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer ist Gefangener im Strafvollzug und hat sich gegen Entscheidungen des LG Augsburg – Strafvollstreckungskammer und des BayObLG mit einer Verfassungsbeschwerde an das BVerfG gewendet.

Durch beide Entscheidungen hat er sich in seinen Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG verletzt gesehen, da die Fachgerichte das Anhalten eines seiner Briefe durch die Anstaltsleitung als rechtlich zulässig erachtet hatten.

In dem Brief hatte er sich gegenüber seiner Lebenspartnerin abfällig über seinen ehemaligen Chef geäußert bzw. solche Aussagen wiedergegeben. Darüber hinaus hatte er den Freistaat Bayern als „Nazi- und Bullenstaat“ bezeichnet und von einem Plan berichtet, um über die Anstaltspsychologin an Informationen über eine ehemalige Bedienstete der Anstalt zu gelangen, für die der Beschwerdeführer ein (auch sexuelles) Interesse entwickelt hatte.

Daraufhin hatte die Anstaltsleitung den Brief anhalten lassen, da er gem. Art. 34 Abs. 1 Nr. 1 BayStVollzG die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährdet hätte.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr statt, da die gerichtlichen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seiner Meinungsfreiheit in Verbindung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und in seinem Grundrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz verletzten.

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit erzeuge in Verbindung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht bei Briefwechseln von Gefangenen eine Sphäre vertraulicher Kommunikation, deren persönlichkeitsrechtlicher Schutz auch nicht dadurch entfalle, dass der Staat diesen überwache und sich Kenntnis vom Inhalt des Schriftwechsels verschaffe. Dieser Grundsatz betreffe nicht nur etwaige Beleidigende Äußerungen, sondern die gesamte Kommunikation, so das BVerfG.

Daher sei eine Abwägung der betroffenen Grundrechte und Rechtsgüter bei Entscheidungen nach Art. 34 Abs. 1 BayStVollzG generell erforderlich und nicht direkt entbehrlich, wenn die Sicherheit und Ordnung der Anstalt tangiert sei, wie das BayObLG meine.

Darüber hinaus sei es auch unschädlich, dass ein Gefangener mit mehreren Personen ein derartig enges Vertrauensverhältnis pflege, in dem Kommunikation stattfinde. Der besondere Schutz vertraulicher Kommunikation sei nicht auf eine Vertrauensperson begrenzt, sondern müsse bei allen Kommunikationsvorgängen Berücksichtigung finden, bei denen eine enge Vertrauensperson des Gefangenen auf der anderen Seite stehe.

Eine Abwägung, ob dem Sicherheitsinteresse der Anstalt mit einer milderen Maßnahme, beispielsweise dem Ablichten und Weiterleiten des Briefs, hätte Rechnung getragen werden können, ließen die Beschlüsse vermissen.

 

Anmerkung der Redaktion:

Den Grundsatz der vertraulichen Angehörigen Kommunikation hatte das BVerfG im Kontext einer Beleidigung in einem Brief eines Gefangenen entwickelt. Nach der aktuellen Entscheidung ist er allerdings nicht nur auf solche Fälle der sog. beleidigungsfreien Sphäre begrenzt. Die ursprüngliche Entscheidung finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 27/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 12.11.2020 – 3 StR 31/20: Zur Wesentlichkeit von Gegenständen oder Stoffen für die Herstellung eines Kampfmittels

Amtliche Leitsätze:

a) Wesentlich im Sinne des § 89a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 StGB sind nur solche Gegenstände oder Stoffe, die im Falle ihrer Zusammenfügung oder technischen Manipulation ein taugliches Kampfmittel oder eine taugliche Vorrichtung im Sinne des § 89a Abs. 2 Nr. 2 StGB ergeben. Ob die Grenze der Wesentlichkeit überschritten ist, ist stets im Wege einer wertenden Gesamtschau des Einzelfalls zu beurteilen.

Dabei ist einerseits zu vermeiden, dass bereits der Erwerb oder Besitz eines einzelnen Gegenstands mit einem alltäglichen Verwendungszweck vom Tatbestand erfasst wird; andererseits verhindert insbesondere das Fehlen von Kleinteilen von untergeordneter Bedeutung die Verwirklichung des Tatbestands nicht.

b) § 89c Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und § 91 Abs. 1 Nr. 2 StGB sind – insbesondere mit Blick

auf das Bestimmtheitsgebot und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – verfassungsgemäß.

c) Bei elektronischen Schriften setzt ein Sichverschaffen im Sinne des § 91 Abs. 1 Nr. 2 StGB ein Herunterladen und Speichern der Anleitungsschrift nicht voraus. Ausreichend, aber auch erforderlich ist ein intellektueller Bezug der Schrift im Sinne eines „Sich-Kenntnis-Verschaffens“.

Sachverhalt:

Das LG München I hat den Angeklagten wegen Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte sich, ohne es auf seinem Laptop zu speichern, vertieft mit einem Tutorial zur Herstellung einer Bombe auseinandergesetzt, woraufhin er dann eine Skizze zur Herstellung des Sprengstoffs Triacetontriperoxid angefertigt hatte. Er hatte einige der Teile für die Sprengstoffvorrichtung in seinem Keller verwahrt, war jedoch nicht im Besitz der erforderlichen Grundsubstanzen Aceton und Wasserstoffperoxid gewesen. Ziel des Angeklagten war es gewesen, einen Sprengstoffanschlag auf Mitarbeiter des Verfassungsschutzes zu begehen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob den Schuldspruch auf, da das LG seiner Kognitionspflicht nicht abschließend nachgekommen sei.

Rechtsfehlerfrei sei das Absehen von einer Verurteilung wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gewesen, da die vom Angeklagten verwahrten Gegenstände nicht wesentlich für den Bau eines Kampfmittels i.S.d. § 89a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 StGB gewesen seien, so der BGH.

Dafür spräche neben dem Wortlaut auch das systematische Argument, dass die verschiedenen Tatbestandsvarianten mit gleicher Strafandrohung auch einen ähnlichen Unwertgehalt aufweisen müssten. Würde man nun Abs. 2 Nr. 3 StGB extensiv dahingehend auslegen, dass schon unvollständige Vorrichtungsteile als wesentlich anzusehen wären, wäre der Unwertgehalt deutlich geringer.

Dennoch sei die Wesentlichkeit anhand einer wertenden Gesamtschau im Einzelfall zu beurteilen, da nur dies dem Telos der Norm, nämlich in das Vorfeld eines möglichen Terroranschlags hineinzureichen und ein frühzeitiges Eingreifen des Strafrechts zu gewährleisten, gerecht werde.

Dabei sei jedoch einerseits zu vermeiden, dass bereits der Erwerb oder Besitz eines einzelnen Gegenstands mit einem alltäglichen Verwendungszweck, wie ein Wecker oder ein Mobiltelefon, als mögliche Zündvorrichtung vom Tatbestand erfasst werde. Andererseits verhindere insbesondere das Fehlen von Kleinteilen von untergeordneter Bedeutung, wie Schrauben oder Drähte, die Verwirklichung des Tatbestands nicht, so der BGH.

Rechtsfehlerhaft sei jedoch, dass das LG die naheliegende Strafbarkeit wegen Terrorismusfinanzierung (§ 89c Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB) nicht in den Blick genommen habe. Der Tatbestand sei verfassungsgemäß, da er dem Bestimmtheitsgebot (Art. 20 Abs. 3, 103 Abs. 2 GG) und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trage.

Da nach der neuen Gesetzesfassung als Vermögenswerte auch geringwertige bewegliche und unbewegliche Sachen mit wirtschaftlichem Wert vom Tatbestand umfasst seien, liege eine Strafbarkeit des Angeklagten, der sich eine Metallschachtel mit 26 Metallkugeln, Streichhölzer, zwei Portionierungsspritzen, eine Leuchtdiode mit angelöteten Kabeln sowie Schwefelsäure verschafft hatte, nahe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Zum reformierten Terrorismusstrafrecht finden Sie einen Aufsatz von Prof. Dr. Jens Puschke in der KriPoZ 2018, 101 ff.

 

 

 

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