KriPoZ-RR, Beitrag 51/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 24.07.2019 – 1 StR 363/18: Hinweispflicht auf mögliche Nebenfolge nach § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO erforderlich

Leitsatz der Redaktion:

Nach dem klaren Wortlaut des neu gefassten § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO ist ein Hinweis nach Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes auch bei der möglichen Anordnung von Nebenfolgen erforderlich.

Sachverhalt:

Das LG Neuruppin hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung verurteilt und ihm das Recht, öffentliche Ämter zu bekleiden, und die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen für 3 Jahre aberkannt.

Gegen die Anordnung dieser Nebenfolge nach §§ 375 Abs. 1 AO, 45 Abs. 2 StGB hat der Angeklagte Verfahrensrüge erhoben.

Die Möglichkeit, dass eine solche Nebenfolge angeordnet werden kann, war in der Anklageschrift nicht thematisiert worden, da der Angeklagte erst ca. drei Monate nach Anklageerhebung als Abgeordneter Mitglied eines Landtags geworden war. Auch während des Prozesses war kein dahingehender Hinweis von Seiten des Gerichts erfolgt.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hielt die Verfahrensrüge für begründet, da ein Verstoß gegen § 265 Abs. 1 Nr. 1 iVm Abs. 1 StPO vorliege.

Durch die Änderung der Norm durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens habe der Gesetzgeber explizit auch Nebenstrafen und –folgen in den Anwendungsbereich der Norm aufnehmen wollen. Begründet worden sei dies damit, dass auch Nebenstrafen und –folgen für den Täter erhebliche Einschränkungen bedeuten könnten, was einen Hinweis aufgrund von Art. 103 Abs. 1 GG und des Fair Trial-Grundsatzes erforderlich mache, um dem Angeklagten eine sachgerechte Verteidigung zu ermöglichen.

Auf eine entsprechende Anwendung des § 265 Abs. 2 StPO komme es somit nicht mehr an und die frühere, eine Hinweispflicht verneinende Rechtsprechung, sei überholt.

Da ein Hinweis durch das Gericht unterblieben gewesen war, aber förmlich hätte erteilt werden müssen, sei das Urteil insoweit aufzuheben gewesen, so der BGH.

 

Anmerkung der Redaktion:

Informationen zum Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens finden Sie hier.

Beispiele für die frühere Rechtsprechung des BGH finden Sie hier.

Weitere KriPoZ-RR Beiträge zu § 265 StPO:

KriPoZ-RR, Beitrag 22/2019

KriPoZ-RR, Beitrag 46/2019

KriPoZ-RR, Beitrag 49/2019

KriPoZ-RR, Beitrag 50/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 03.09.2019 – 3 StR 291/19: Einführung von DNA-Gutachten im Selbstleseverfahren

Leitsatz der Redaktion:

Liegt kein Einverständnis des Angeklagten vor, kann ein von einem nicht allgemein vereidigten Sachverständigen erstelltes DNA-Gutachten, nicht im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingebracht werden.

Sachverhalt:

Das LG Wuppertal hat den Angeklagten wegen mehreren Wohnungseinbruchdiebstählen verurteilt.

Während der Hauptverhandlung hatte der Vorsitzende das Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO unter anderem auch für acht DNA-Gutachten angeordnet. Die Gutachten waren von privaten und nicht nach § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO vereidigten Sachverständigen erstellt worden und hatten maßgeblich zur Verurteilung durch das LG beigetragen.

Ein ausdrückliches Einverständnis hatten weder der Angeklagte noch sein Verteidiger erklärt. Ein Widerspruch gegen die Verlesung war ebenfalls nicht erhoben worden.

Gegen diese Verfahrensweise hat der Angeklagte die Verfahrensrüge erhoben und eine Verletzung von § 250 StPO gerügt.

Entscheidung des BGH:

Der BGH sah die Rüge als begründet an, da das LG den Grundsatz der persönlichen Vernehmung (§ 250 StPO) umgangen habe.

Die beiden einzig in Betracht kommenden Ausnahmetatbestände – § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO und § 256 Abs. 1 Nr. 1 StPO – seien nicht erfüllt gewesen, sodass das Tatgericht die Sachverständigen persönlich in der Hauptverhandlung hätte befragen müssen.

Ein ausdrücklich erklärtes Einverständnis iSd § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO des Angeklagten habe nicht vorgelegen. Die Einlassung des Verteidigers, dem Selbstleseverfahren nicht entgegenzutreten, sei lediglich dahingehend zu verstehen gewesen, dass er mit den Modalitäten des Selbstleseverfahren einverstanden sei und sein Mandant die Urkunden auch als Nichtmuttersprachler lesen und verstehen könne.

Eine Aussage zum „Ob“ der Verlesung der Urkunden im Selbstleseverfahren sei hierin nicht zu sehen, so der BGH.

Auch eine konkludente oder stillschweigende Zustimmung sei nicht anzunehmen gewesen, da das Erfordernis eines Einverständnisses nie in der Verhandlung thematisiert worden sei und man daher nicht davon ausgehen dürfe, dass die Beteiligten die Tragweite ihres Schweigens realisiert hätten. Zudem hätte ein solches stillschweigendes Einverständnis auch im Zeitpunkt der Anordnung der Verlesung bereits bestehen müssen. Da der Vorsitzende aber erst in der Anordnung des Selbstleseverfahrens die betroffenen Urkunden benannt hatte, habe den Beteiligten die Möglichkeit gefehlt, ein Einverständnis bezogen auf die zur Verlesung bestimmten Urkunden zu erklären.

§ 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO sei schon deshalb nicht einschlägig, weil es sich bei den Gutachtern nicht um allgemein vereidigte Sachverständige gehandelt habe. Eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Norm komme nicht in Betracht, da diese als Ausnahmevorschrift zu § 250 StPO eng auszulegen sei und somit die Reputation der Gutachter keine Rolle spiele. Es komme gerade auf die im Vereidigungsverfahren geprüfte sachliche und persönliche Befähigung des Sachverständigen an, die ihn mit einer Autorität ausstatteten, welche eine Gleichstellung mit einer öffentlichen Behörde (vgl. § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StPO) rechtfertige. Werde das Vereidigungsverfahren nicht durchlaufen, sei daher für die Ausnahme kein Raum.

Schließlich sei eine Beanstandung gemäß § 238 Abs. 2 StPO nicht erforderlich gewesen, da nach § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO der gesamte Spruchkörper über eine Verlesung zu entscheiden habe, was die Rüge einer Verletzung des § 251 Abs. 1 StPO ohne vorherige Beanstandung ermögliche. Zum anderen hätte der Vorsitzende bei der Stützung seines Vorgehens auf § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO zwingendes Recht ohne eigenen Ermessenspielraum anwenden müssen. Die Rüge der Verletzung solch zwingenden Rechts sei auch ohne Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO möglich.

Damit verstoße das Vorgehen des LG gegen § 250 StPO.

Anmerkung der Redaktion:

Schon in früheren Urteilen hat der BGH klargestellt, dass die gesetzlichen Ausnahmen zu § 250 StPO eng auszulegen und nur in besonderen Fällen zu erweitern sind.

Beispiele für diese Rechtsprechung finden Sie hier und hier.

An dieser Rechtsprechung hat der Gesetzgeber auch mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens nichts ändern wollen.

KriPoZ-RR, Beitrag 49/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 10.10.2019 – 1 ARs 14/19: Antwort auf Anfragebeschluss des 5. Strafsenats (18.06.2019 – 5 StR 20/19)

Leitsatz der Redaktion:

§ 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO macht einen gerichtlichen Hinweis auf eine mögliche Einziehung auch dann erforderlich, wenn die Tatsachen zwar schon in der Anklageschrift angegeben waren, das Gericht aber deren Bedeutungsgehalt erst in der Hauptverhandlung realisiert hat.

Sachverhalt:

Der 5. Strafsenat des BGH hat in einem Anfragebeschluss an den 1. Strafsenat (KriPoZ-RR, Beitrag 22/2019) mitgeteilt, dass er beabsichtige von dessen bisheriger Rechtsprechung abzuweichen und gefragt, ob der 1. Senat an seiner entgegenstehenden Rechtsprechung festhalte.

Gegenstand der Anfrage war die Auslegung des § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO, der nach Ansicht des 5. Senats keine Hinweispflicht auslöse, wenn die entscheidungserheblichen Tatsachen für eine Einziehungsentscheidung bereits in der Anklageschrift angegeben gewesen waren.

Entscheidung des 1. Senats:

Der Senat hält an seiner entgegenstehenden Rechtsprechung fest.

Dies begründet er zum einen mit der Systematik der Norm. Die Hinweispflicht des § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO sei auf alle Maßnahmen im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB anzuwenden. Eine Unterscheidung innerhalb der verschiedenen Maßnahmen finde im Gesetz gerade nicht statt, was für eine einheitliche Anwendung aller Rechtsfolgen spreche.

Dann zieht der 1. Senat einen Vergleich zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung, bei deren Anwendung es der ständigen Rechtsprechung entspreche, einen Hinweis auch bei lediglich neuer Bewertung schon bekannter Tatsachen zu erteilen. Für die Einziehung dürfe nichts anderes gelten, so der Senat, da ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung fehle.

Zudem seien in Abs. 2 des § 265 StPO sowohl Hinweispflichten für Fälle der Änderung des tatsächlichen, als auch des rechtlichen Gesichtspunktes geregelt. Das verhindere eine Abgrenzung der Absätze 1 und 2 anhand dieses Kriteriums.

Auch die Gesetzeshistorie spreche für die Wertung des 1. Senats, da der Gesetzgeber durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens in § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO nicht einfach den Fall der Einziehung eingefügt habe. Er habe in Kenntnis der bisherigen Senatsrechtsprechung die Hinweispflichten für Einziehungsentscheidungen und Maßregeln der Besserung und Sicherung unter dem Oberbegriff der Maßnahmen gebündelt, was ebenfalls für eine Gleichbehandlung beider Nebenfolgen spreche.

Der zur Begründung einer engen Auslegung der Hinweispflicht vom 5. Senat herangezogene Vergleich der Einziehung mit dem Fahrverbot sei insoweit nicht tragfähig, als dass die Anordnung der Einziehung von weiteren tatsächlichen Voraussetzungen abhängig sei. Dies mache es möglicherweise für den Angeklagten erforderlich, sich gegen eine Einziehungsentscheidung in der Hauptverhandlung anders zu verteidigen, als gegen den Hauptvorwurf selbst. Eine solche abweichende Verteidigung könne es beim Fahrverbot nicht geben, da dessen Anordnung von denselben Voraussetzungen abhängig sei, wie die Strafe selbst.

Auch der Telos des § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO erfordere eine weite Auslegung, da Art. 103 Abs. 1 GG und der sog. Fair Trial-Grundsatz eine effektive Verteidigung des Angeklagten geböten, was einen Schutz vor Überraschungsentscheidungen des Gerichts erforderlich mache.

Insoweit spiele es für den Angeklagten keine Rolle, ob er schon Kenntnis der Tatsachenlage habe. Diese sei für ihn regelmäßig nutzlos. Relevant sei einzig und allein die rechtliche Bewertung der Tatsachengrundlage, was eine Hinweispflicht bei fehlender Bedeutungskenntnis auslöse.

Abschließend führte der Senat aus, dass eine unterschiedliche Behandlung von Einziehungsentscheidungen und Anordnungsentscheidungen von Maßregeln der Besserung und Sicherung weder nach dem Kriterium des Schwierigkeitsgrades der rechtlichen Bewertung noch nach der Eingriffsintensität der Maßnahmen zu rechtfertigen sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

Den KriPoZ-RR Beitrag über den Anfragebeschluss des 5. Senats finden Sie hier.

Eine Aufbereitung des Gesetzgebungsverfahrens des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens finden Sie hier.

KriPoZ-RR, Beitrag 48/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 11.09.2019 – 2 StR 350/19: BGH erweitert Definition der Beendigung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln

Leitsatz der Redaktion:

Das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln ist schon dann beendet, wenn alle Bemühungen um einen erfolgreichen Güterumsatz und einen Waren- und Geldfluss endgültig eingestellt worden sind.

Sachverhalt:

Das LG Frankfurt a. M. hat den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte er sich mit einer Bekannten verabredet, um von ihr angekauftes Marihuana auf dessen Qualität hin zu prüfen. Als Entlohnung war ihm eine kleine Menge des Rauschgifts für den Eigenverbrauch versprochen worden.

Auf Anweisung seiner Bekanntschaft hatte der Angeklagte das Marihuana aus dem Versteck in einer Tiefgarage geholt und in ihre Wohnung gebracht. Dort hatte er die Qualität überprüft und beim anschließenden Verpacken der Drogen geholfen. Nach den Feststellungen des LG hatte er dabei vom Drogengeschäft seiner Bekannten gewusst und dieses auch fördern wollen. Daraufhin war es zu einem Polizeieinsatz in der Wohnung gekommen bei dem der Beschuldigte verhaftet worden war.

Die Polizei hatte die Wohnung observiert, da die Bekannte des Angeklagten am Tag zuvor selbst bei den Beamten angegeben hatte, dass ein Drogengeschäft in ihrer Wohnung stattfinden werde, um eine Strafmilderung nach § 31 BtMG zu erhalten.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob den Schuldspruch wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge auf.

Eine Beihilfehandlung könne nur bis zur Beendigung der Haupttat vorgenommen werden. In diesem Fall bestehe jedoch die Möglichkeit, dass die Haupttat im Zeitpunkt der Hilfeleistung durch den Angeklagten schon beendet gewesen sei. Das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln sei nämlich beendet, wenn der erstrebte Erfolg des Güterumsatzes und der Bezahlung eingetreten und der Waren- und Geldfluss zur Ruhe gekommen sei oder wenn alle Bemühungen darum endgültig eingestellt worden seien.

Da die Bekannte des Angeklagten zuvor selbst bei der Polizei angegeben hatte, dass ein Drogengeschäft in ihrer Wohnung stattfinden werde, könnte von einer Einstellung der Bemühungen auszugehen sein, so der BGH.

Zu diesem Komplex habe sich das LG allerdings nicht geäußert, was die Aufhebung des Urteils erfordere.

Anmerkung der Redaktion:

Die bisher ständige Definition der Beendigung des Handeltreibens entwickelte der BGH in diesem Beschluss.

Dass nach dem Waren- und Geldaustausch des Drogenkuriers eine noch offene Forderung des Großhändlers für die Beendigung der Tat keine konkrete Bedeutung hat, entschied der BGH in diesem Urteil.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 47/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 06.08.2019 – 3 StR 190/19: Zum subjektiven Tatbestand der Volksverhetzung

Leitsätze der Redaktion:

  1. Die Verwirklichung des § 130 Abs. 3 StGB setzt zumindest bedingten Vorsatz auch in Bezug auf die Wahrheit der geleugneten Tatsache voraus.
  2. Die Tatbestandsvarianten des § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB und die des § 130 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a und c StGB schützen jeweils dasselbe Rechtsgut, was dazu führt, dass bei gleichzeitiger Verwirklichung mehrerer Varianten eines Absatzes nur eine Tat gegeben ist.

Sachverhalt:

Das LG München II hat den Angeklagten A wegen Volksverhetzung in elf Fällen, davon in acht Fällen in Tateinheit mit zwei weiteren Fällen der Volksverhetzung, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und in einem Fall in Tateinheit mit einem weiteren Fall der Volksverhetzung sowie wegen eines weiteren Falls des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verurteilt.

Die Angeklagte B hat es wegen Volksverhetzung in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit einem weiteren Fall der Volksverhetzung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte A zehn Videos produziert und im Internet veröffentlicht, in denen er den Holocaust geleugnet hatte und gegen Juden und Flüchtlinge hetzte. B hatte ihm teilweise bei der Produktion geholfen und auch selbst in Videos als Darstellerin mitgewirkt und den Holocaust geleugnet.

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf die Revision überwiegend und änderte lediglich den Schuldspruch aufgrund einer abweichenden konkurrenzrechtlichen Bewertung.

Die Ansicht des LG, dass die Angeklagten zumindest billigend in Kauf genommen hatten, den Völkermord an der jüdischen Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus zu leugnen, sei rechtsfehlerfrei belegt, so der BGH.

Der subjektive Tatbestand des § 130 Abs. 3 StGB setze zumindest bedingten Vorsatz voraus. Dabei leugne den Holocaust, wer diese historische Tatsache in Abrede stelle, obwohl er entweder wisse oder zumindest billigend in Kauf nehme, dass der Holocaust entgegen seiner Behauptung tatsächlich stattgefunden habe.

Die Unwahrheit der eignen Behauptung sei dabei gerade keine objektive Bedingung der Strafbarkeit, sondern ein Tatbestandsmerkmal, das vom Vorsatz umfasst sein müsse.

Gerade nicht ausreichend sei, dass der Täter bewusst eine allgemein akzeptierte Ansicht bestreite, da sich der Vorsatz dann nur auf den Widerspruch der eigenen Aussage zur allgemein akzeptierten Ansicht erstrecken müsse. Dies würde dazu führen, dass auch durch Dummheit, Unwissenheit oder Ungläubigkeit motivierte Aussagen strafbar wären, was nicht mit dem Schuldgrundsatz übereinstimmte, so der Senat.

Nach diesen Maßstäben habe das LG zu Recht argumentiert, dass die beiden Angeklagten nicht irrig an die Nichtexistenz des NS-Genozids geglaubt, sondern die Beweise für den Völkermord bewusst ignoriert hätten. Damit hätten sie die Unrichtigkeit ihrer eignen Beweise auch mangels kritischer Auseinandersetzung mit ihnen zumindest billigend in Kauf genommen.

Des Weiteren stellte der BGH klar, dass seine ständige Rechtsprechung zur Mittäterschaft unverändert fortbestehe. Für die Annahme einer solchen, sei neben einem gemeinsamen Tatplan ein eigener Tatbeitrag des Mittäters erforderlich, der weder in einer Mitwirkung am Kerngeschehen noch in der Anwesenheit am Tatort bestehen müsse. Es genüge, dass der objektive wesentliche Tatbeitrag in einer Vorbereitungs- oder Unterstützungshandlung liege, die der Mittäter subjektiv als Teil der Tätigkeit aller begreife. Maßgebliche Kriterien dafür seien der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung, die Tatherrschaft und der Wille zur Tatherrschaft.

Insoweit sie eine in der Literatur vertretene Ansicht, aus der Rechtsprechung des Senat ergebe sich zur Annahme einer Mittäterschaft im Lichte der Tatherrschaft die Voraussetzung, dass der Täter durch seinen Beitrag die Tatausführung beeinflussen können müsse, nicht richtig. Dies folge daraus, dass es sich bei der Tatherrschaft lediglich um ein Kriterium zur Annahme einer mittäterschaftlichen Begehungsweise handele. Sei dieses nur schwach ausgeprägt oder nicht vorhanden, könne eine Mittäterschaft im Wege einer Gesamtwürdigung aller Kriterien dennoch begründet werden.

Nach diesen Maßstäben sei die Annahme einer Mittäterschaft durch das LG rechtsfehlerfrei, da die Angeklagte B zwar nicht unmittelbar an der Veröffentlichung mancher Videos beteiligt gewesen war, ihr Beitrag im Vorfeld (Idee zum Video, Schreiben des Drehbuchs und Mitwirkung als Darstellerin) jedoch wesentlich gewesen war.

Zur konkurrenzrechtlichen Bewertung führte der Senat aus, dass die Tatbestandsvarianten des § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB und die des § 130 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a und c StGB jeweils dasselbe Rechtsgut schützten. Da somit lediglich gleichwertige Tatmodalitäten bestraft würden, handele es sich bei gleichzeitiger Verwirklichung mehrerer Varianten innerhalb eines Absatzes nur um eine Tat. Dadurch sei der Schuldspruch teilweise abzuändern gewesen. Die Tateinheit zwischen den Taten nach § 130 Abs. 1 StGB und § 130 Abs. 3 StGB sei allerdings möglich.

 

Anmerkung der Redaktion:

Zur Abgrenzung der Tathandlungen des Verharmlosens und des Leugnens hat das OLG Celle im August 2019 ein Urteil gefällt. Sie finden es hier.

Auch der EGMR hat sich bereits mit § 130 Abs. 3 StGB befasst. Das Urteil finden Sie hier.

Weitere Urteile des BGH und des BVerfG finden Sie hier und hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 46/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 24.07.2019 – 1 StR 185/19: Abweichende Motivlage begründet Hinweispflicht nach § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO

Leitsatz der Redaktion:

Weicht das Motiv für einen Mord aus niedrigen Beweggründen, welches in der Anklageschrift genannt wird vom demjenigen ab, auf welches das Gericht die Verurteilung zu stützen gedenkt, folgt daraus eine Hinweispflicht gemäß § 265 Abs. 2 Nr. 3 iVm Abs. 1 StPO.

Sachverhalt:

Das LG Stuttgart hat den Angeklagten wegen Mordes verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte seine ehemalige Lebensgefährtin getötet, um das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn zu behalten. Zunächst hatte er sich das Sorgerecht durch eine Täuschung gegenüber dem Familiengericht erschlichen. Als seine ehemalige Partnerin dies bemerkt und Beschwerde beim OLG eingelegt hatte, hatte der Angeklagte sie erwürgt.

Nach Ansicht des LG war dem Angeklagten das Sorgerecht so enorm wichtig gewesen, weil er sich dadurch erhoffte, dem Strafvollzug wegen einer anderen Verurteilung entgehen zu können. Diese Motivlage war allerdings in der Anklageschrift nicht genannt worden. Ein Hinweis gem. § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO war in der Hauptverhandlung nicht erteilt worden.

Gegen dieses Vorgehen hat sich der Angeklagte mit der Verfahrensrüge gewendet.

Entscheidung des BGH:

Der BGH gab der Revision statt und verwies die Sache zurück an das LG Stuttgart.

Zur Begründung führte der Senat an, dass die Reform des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens die Hinweispflicht aus § 265 Abs. 1 StPO ausgedehnt habe. Ein Hinweis sei nun immer erforderlich, wenn sich der Sachverhalt in der Hauptverhandlung als unterschiedlich zu dem in der Anklageschrift genannten herausstelle und der Hinweis zur genügenden Verteidigung erforderlich sei. Maßgeblich dafür seien der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und das Gebot eines fairen Verfahrens.

Der Gesetzgeber habe mit der Reform die vom BGH entwickelten Grundsätze zur Hinweispflicht kodifizieren wollen, wonach ein Hinweis bei einer wesentlichen Veränderung des Tatbildes (z.B. Tatzeit, Tatort, Tatobjekt, Tatrichtung oder beteiligte Personen) oder bei Aufklärung von Ungenauigkeiten der Faktenlage in der Anklage erforderlich sei.

Eine Offenlegung der gerichtlichen Beweiswürdigung oder Hinweise bezüglich der Bewertung von Indiztatsachen seien jedoch weiterhin nicht erforderlich, so der BGH.

Nach diesen Maßstäben sei der Angeklagte über die geänderte Tatsachengrundlage, die nach Ansicht des Tatgerichts das Mordmerkmal der Heimtücke begründe, förmlich zu informieren gewesen. Erst der Hinweis hätte es dem Angeklagten ermöglicht, sich gegen die neuen Vorwürfe angemessen verteidigen zu können.

Anmerkung der Redaktion:

Alle Informationen zum Gesetzgebungsverfahren des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens finden Sie hier.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 45/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 05.06.2019 – 1 StR 34/19: Rücktritt vom Versuch der räuberischen Erpressung mit Todesfolge auch ohne Rücktritt vom Versuch der schweren räuberischen Erpressung möglich

Amtlicher Leitsatz:

Ein wirksamer Rücktritt vom Versuch der räuberischen Erpressung mit Todesfolge (§§ 251, 255, 22 StGB) durch Verhinderung der Todesfolge gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 StGB setzt nicht voraus, dass der Täter auch vom Versuch der schweren räuberischen Erpressung (§§ 250, 255 StGB) zurücktritt. Dies gilt selbst dann, wenn der Täter für den Fall, dass seine Forderungen nicht erfüllt werden, damit droht, erneut ein Mittel einzusetzen, das geeignet ist, den Tod anderer Menschen herbeizuführen.

Sachverhalt:

Das LG Ravensburg hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchter schwerer räuberischer Erpressung mit Todesfolge verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte als sog. Lebensmittelerpresser fünf Gläser mit vergifteter Babynahrung in verschiedenen, zum Tatzeitpunkt geöffneten, Supermärkten ausgebracht. Danach hatte er per Mail auf die Gläser aufmerksam gemacht und von den betroffenen Unternehmen die Zahlung von 11,75 Mio. Euro verlangt. Bei Unterlassen der Zahlung hatte der Beschuldigte damit gedroht, weitere Gläser in verschiedenen Supermarktfilialen zu verteilen. Den Tod von Säuglingen hatte er dabei billigend in Kauf genommen. Alle Gläser waren von der Polizei aufgefunden und sichergestellt worden. Zu einer Geldzahlung war es nicht gekommen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da der Angeklagte strafbefreiend vom versuchten Mord und der versuchten schweren räuberischen Erpressung mit Todesfolge zurückgetreten sei.

Zwar habe das LG rechtsfehlerfrei angenommen, dass der Angeklagte den Tatbestand des versuchten Mordes und den der schweren räuberischen Erpressung mit Todesfolge (in der Konstellation der sog. versuchten Erfolgsqualifizierung) verwirklicht habe. Allerdings habe er durch seinen Hinweis an die Behörden und die Unternehmen die Vollendung gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 StGB verhindert.

Dabei komme es nach der Rechtsprechung des BGH nicht darauf an, ob der Täter die beste oder effektivste Möglichkeit zur Erfolgsverhinderung gewählt habe, sondern es genüge das In-Gang-Setzen eines neuen Kausalverlaufs, der für die Verhinderung der Tatvollendung ursächlich werde.

Die Mail des Angeklagten habe zum Auffinden der vergifteten Gläser geführt, was auch seinem Tatplan entsprochen habe und damit die Vollendung des Mordversuches und das Eintreten der Erfolgsqualifikation bei §§ 251, 250, 255, 22, 23 StGB verhindert.

Da ein Rücktritt vom versuchten erfolgsqualifizierten Delikt in der Variante des Versuchs der Erfolgsqualifikation auch durch das Verhindern des Eintritts der Folge möglich sei, liege damit ein strafbefreiender Rücktritt von beiden Delikten vor.

Lediglich von der besonders schweren räuberischen Erpressung sei der Angeklagte nicht zurückgetreten, da er durch die Verwendung des Drohmittels die Qualifikation schon vollendet habe und die für die Qualifikation maßgebliche erhöhte Gefahr schon eingetreten gewesen sei. Für einen wirksamen Rücktritt hätte der Beschuldigte daher seinen Tatentschluss im Ganzen aufgeben müssen, so der BGH.

 

Anmerkung der Redaktion:

Der Fall hatte unter dem Stichwort Lebensmittel-Erpresser bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt. Einen Bericht über das Verfahren vor dem LG finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 44/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 24.09.2019 – 1 StR 346/18: Irrtum über eigene Arbeitgeberstellung begründet Tatbestandsirrtum im Rahmen des § 266a Abs. 1 und 2 StGB

Amtliche Leitsätze:

1. Vorsätzliches Handeln ist bei pflichtwidrig unterlassenem Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a Abs. 1 und 2 StGB) nur dann anzunehmen, wenn der Täter auch die außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts – zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre – nachvollzogen hat, er also seine Stellung als Arbeitgeber und die daraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen hat.

2. Irrt der Täter über seine Arbeitgeberstellung oder die daraus resultierende Pflicht zum Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen, liegt ein Tatbestandsirrtum vor; an seiner entgegenstehenden, von einem Verbotsirrtum ausgehenden Rechtsprechung hält der Senat nicht fest.

Sachverhalt:

Das LG Augsburg hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte er u.a. in Polen und Rumänien ungelernte Arbeitskräfte als Pflegekräfte rekrutiert, in Deutschland vermittelt und dafür sowohl eine einmalige Vermittlungsgebühr als auch eine monatliche Kostenpauschale von den Pflegebedürftigen oder deren Angehörigen erhalten.

In der Pauschale war ein Krankenversicherungsbeitrag für die Beschäftigten enthalten gewesen. Angeleitet, kontrolliert und bezahlt worden waren die Pflegekräfte direkt von den Familien, in denen sie tätig gewesen waren. Während der pflegerischen Tätigkeit hatte kein Kontakt zum Angeklagten bestanden. Auch die Unterkunft im Haus des Pflegebedürftigen war den Pflegekräften von der jeweiligen Familie zur Verfügung gestellt worden. Dem Angeklagten war bekannt gewesen, dass das Arbeitsverhältnis der Pflegekräfte als abhängige und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu qualifizieren gewesen war und die Familien höchstwahrscheinlich keine Anmeldung der Arbeitskräfte vornehmen würden. Auf den eingesparten Beiträgen und Steuern und dem daraus resultierenden Wettbewerbsvorteil hatte das Geschäftsmodell des Angeklagten gefußt. Die beschäftigenden Familien hatten es nach der Wertung des LG auch für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, dass sie als Arbeitgeber zu qualifizieren gewesen waren und ihre sozialversicherungsrechtlichen Pflichten nicht erfüllt hatten.

 

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da der bedingte Vorsatz der Haupttäter (Pflegebedürftige oder deren Angehörige)  zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt vom LG nicht rechtsfehlerfrei festgestellt worden sei.

Für eine Strafbarkeit nach § 266a StGB sei erforderlich, dass der Arbeitgeber erkannt und billigend in Kauf genommen habe, dass eine sozialversicherungspflichtige abhängige Beschäftigung bestehe und daraus eine sozialversicherungsrechtliche Pflicht zur Abführung von Beiträgen entstehe, die von ihm verletzt werde. Die bloße Kenntnis der Umstände und die Erkennbarkeit für den Täter genügten nicht, denn die Arbeitgeberstellung sei ein normatives Tatbestandsmerkmal, das somit zumindest eine zutreffende rechtliche Parallelwertung in der Laiensphäre fordere.

Daraus folge, dass eine Fehlvorstellung über die eigene Arbeitgebereigenschaft oder die dadurch begründete Pflicht zur Beitragsentrichtung als Tatbestandsirrtum nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zu qualifizieren sei.

Zudem sei § 266a StGB (mit Ausnahme des § 266a Abs. 2 Nr. 1 StGB) ein echtes Unterlassungssonderdelikt, bei dem sich der Vorsatz auf die handlungspflichtbegründenden Umstände erstrecken müsse.

Ob die nötige Parallelwertung der rechtlichen Implikationen des Sozialversicherungsrechts bei einem Täter vorgelegen habe, sei vom Tatgericht anhand der konkreten Tatumstände des jeweiligen Einzelfalls wertend zu ermitteln. Maßgebliche Indizien stellten dafür beispielsweise die Erfahrung des Angeklagten im geschäftlichen Verkehr, die Gefahr illegaler Beschäftigung in der jeweiligen Branche, soweit sie im öffentlichen Diskurs präsent gewesen sei, oder die von vornherein bestehende Zielsetzung zur Umgehung von sozialversicherungsrechtlichen Pflichten durch das Geschäftsmodell dar.

Diesen Maßstäben habe das landgerichtliche Urteil nicht genügt, da keine hinreichend gewichtigen Indizien festgestellt worden seien, die eine vorsatzbegründende Parallelwertung in der Laiensphäre nahegelegt hätten.

Zudem sei die Höhe der hinterzogenen Sozialabgaben vom LG rechtsfehlerhaft berechnet worden, weil die bereitgestellte Wohnmöglichkeit für die Pflegekräfte nicht als Sachleistung zu qualifizieren gewesen sei, da diese nicht als vertragliche Gegenleistung für die Pflegetätigkeit sondern gerade zu ihrer Ermöglichung gedacht gewesen sei.

Zusätzlich begegne auch die pauschale Annahme einer Eingruppierung aller Pflegekräfte in die Steuerklasse IV durchgreifenden rechtlichen Bedenken, da es dem LG durch eine Befragung der Pflegekräfte möglich gewesen wäre, die individuellen steuerlichen Abzugsmerkmale zu ermittlen, so der BGH.

 

Anmerkung der Redaktion:

Mit diesem Beschluss weicht der Senat erstmals von seiner eigenen Rechtsprechung ab, die bisher bei einem solchen Sachverhalt einen vermeidbaren Verbotsirrtum angenommen hatte. Beispiele finden Sie hier und hier. Die Rechtsprechungsänderung hatte sich bereits in einem Beschluss vom 24. Januar 2018 angedeutet. Diesen Beschluss finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 43/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 07.08.2019 – 4 StR 189/19: Keine analoge Anwendung des § 32 Satz 1 JGG iVm § 105 Abs. 1 JGG

Amtlicher Leitsatz:

Wird der Angeklagte (nur) wegen Taten verurteilt, die er als Erwachsener begangen hat, hatte die Staatsanwaltschaft jedoch hinsichtlich weiterer Taten, die der Angeklagte bereits als Heranwachsender begangen hatte, von einer Verfolgung gemäß § 154 Abs. 1 StPO  abgesehen, kommt eine analoge Anwendung des § 32 Satz 1 JGG iVm § 105 Abs. 1 JGG nicht in Betracht.

Sachverhalt:

Das LG Essen hat den Angeklagten wegen gewerbsmäßiger Bandenhehlerei in zwei Fällen, gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Bandenurkundenfälschung, versuchten gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Bandenurkundenfälschung und Beihilfe zum gewerbsmäßigen Bandenbetrug in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Bandenurkundenfälschung unter Freispruch im Übrigen verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatten sich der am 17. Juni 1996 geborene Angeklagte und die weiteren Täter spätestens im April 2017 zu einer Bande zusammengeschlossen, um von anderen gestohlene Fahrzeuge mit gefälschten Zulassungspapieren gewinnbringend weiter zu veräußern. An diesen Taten hatte sich der Angeklagte in fünf Fällen als Erwachsener beteiligt, wobei er meist unterstützende und überwachende Tätigkeiten übernahm. Zur Tatzeit von zwei weiteren ähnlichen Taten war der Angeklagte allerdings noch Heranwachsender gewesen.

Diese Taten waren von der StA gemäß § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt und vom LG strafschärfend berücksichtigt worden.

Der Angeklagte hat in der Revision gerügt, dass es das LG unterlassen hatte, eine zur Anwendung des Jugendstrafrechts führende analoge Anwendung des § 32 Satz 1 JGG iVm § 105 Abs. 1 JGG zu prüfen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf die Revision als unbegründet, da weder eine direkte noch analoge Anwendung des § 32 Satz 1 JGG in Betracht komme.

Für eine unmittelbare Anwendung fehle es schon an der gemeinsamen Aburteilung der Taten.

Aber auch eine entsprechende Anwendung der Norm, wie sie der 1. Strafsenat präferiere, sei abzulehnen, da es sich bei dieser Regelung um eine Ausnahmevorschrift für den Fall der gemeinsamen Aburteilung von Taten handele, die ein Täter in unterschiedlichen Altersstufen begangen habe.

Für eine Analogie sprächen sich zwar das OLG Düsseldorf und Teile der Literatur aus, da der Gesetzgeber die aus einer möglichen Einstellung nach § 154 StPO folgende Verfahrenskonstellation nicht bedacht habe und es dem gesetzgeberischen Vereinheitlichungszweck widerspreche, wenn die Anwendung des Jugendstrafrechts von der Einstellung abhängig sei.

Allerdings sei die Gegenansicht, die auf den eindeutigen Wortlaut der Norm und die bei einer Einstellung wegfallende Grundlage für die Prüfung des Schwergewichts abstelle, aus folgenden Gründen vorzugswürdig:

Eine entsprechende Anwendung würde den klaren Normwortlaut sowohl auf der Tatbestands- als auch der Rechtsfolgenseite überdehnen. Tatbestandlich sei nämlich eine gleichzeitige Aburteilung vorausgesetzt, die bei einer Einstellung nicht gegeben sei. Als Rechtsfolge ordne § 32 Satz 1 JGG an, dass auf die verschiedenen Taten je nach Schwerpunkt einheitlich Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anzuwenden sei. Auch dies wäre bei einer Einstellung nicht möglich, da auf die eingestellten Taten weder das Jugend- noch das Erwachsenenstrafrecht anwendbar wäre.

Damit würden sich die eingestellten Taten alleinig auf die im Erwachsenenalter begangenen Taten auswirken, was die Vorschrift gerade nicht erlaube.

Auch eine historische Auslegung komme zu diesem Ergebnis, denn der erste Entwurf der Vorschrift habe keine Einschränkung enthalten, welche dann aber im Gesetzgebungsverfahren mit dem Erfordernis der gleichzeitigen Aburteilung aufgenommen worden sei. Maßgeblich sei dafür die Bundesregierung verantwortlich gewesen, die eine Anwendung von Jugendstrafrecht auf Taten im Erwachsenenalter allein aus dem Grund, dass die früheren Verfahren noch nicht erledigt gewesen waren, verhindern wollte. Dieser Sichtweise habe sich der Rechtsausschuss angeschlossen.

Teleologisch fordere § 32 Satz 1 JGG die einheitliche Sanktionierung bei gleichzeitiger Aburteilung nicht etwa aus Gerechtigkeitsgründen oder dem Erziehungsgedanken, sondern allein aus Pragmatismus, damit die gleichzeitige Aburteilung von Taten aus unterschiedlichen Altersstufen einfacher sei.

Abschließen spreche auch sie Systematik des JGG gegen eine analoge Anwendung, da das abschließende System der §§ 31 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 32 Satz 1, 66 Abs. 1 und 105 Abs. 2 JGG immer voraussetze, dass die Taten der Kognitionspflicht des Tatrichters (§ 264 StPO) unterlägen. Der Tatrichter müsse also von jeder Tat die Strafbarkeitsvoraussetzungen unter allen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten ermittelt und geprüft haben, was bei eingestellten Taten wiederum nicht möglich sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Urteile des OLG Düsseldorf und des 1. Strafsenats, die beide eine entsprechende Anwendung der Vorschrift befürworten, finden Sie hier und hier.

Der obige Beschluss des 4. Senats ist mit der bisherigen Rechtsprechung des BGH zu Fällen, in denen der Angeklagte zu einer Jugendstrafe verurteilt worden ist und später eine Freiheitsstrafe für eine vor der Verurteilung zur Jugendstrafe begangenen Tat als Erwachsender verbüßen muss, vereinbar.

Beispiele dieser Rechtsprechung finden Sie hier und hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 42/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 23.09.2019 – 2 BvR 903/18: Verstoß gegen Rechtsschutzgarantie bei unzureichender Beweiserhebung im Verfahren eines Maßregelvollzugspatienten

Leitsatz der Redaktion:

Rügt ein Patient die Zustände und Beschränkungen in einer Maßregelvollzugsanstalt, haben die Instanzgerichte den Sachverhalt hinreichend aufzuklären, um der Rechtschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG Genüge zu tun.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war in einer forensischen Psychiatrie im Maßregelvollzug untergebracht worden.

Nach seinem Vortrag habe er dort für den Hofgang im November nur ein T-Shirt, eine Jogginghose und Badelatschen ohne Socken bekommen, sodass er es draußen nicht lange ausgehalten habe. Zudem sei ihm Schreibmaterial verweigert und er für Anwaltsgespräche auf das Telefon verwiesen worden.

Gegen diese Maßnahmen der Klinik hatte sich der Beschwerdeführer an das LG Marburg gewandt und Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahmen beantragt.

Die Klinik hatte erwidert, dass die Beschränkungen nach einem noch nicht aufgeklärten Fluchtversuch des Beschuldigten erforderlich gewesen seien und ihm für den Hofgang auch Straßenkleidung zur Verfügung gestanden hätte.

Das LG hat den Antrag des Patienten abgelehnt und auch das zuständige OLG Frankfurt a. M. hat die vom Beschwerdeführer erhobene Rechtsbeschwerde als unzulässig und ohne Begründung verworfen.

Hiergegen hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erhoben.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG hob die Entscheidungen des LG und OLG auf und verwies die Sache zu neuer Entscheidung zurück an das LG.

Zur Begründung führte es an, dass Art. 19 Abs. 4 GG jedem einen Anspruch auf effektive gerichtliche Kontrolle von grundrechtsrelevanten Maßnahmen zugestehe. Diese Kontrolle sei jedoch nur möglich, wenn sie auf einer hinreichenden Sachverhaltsaufklärung beruhe.

Diesen Ansprüchen werde der Beschluss des LG nicht gerecht, da das Gericht nicht aufgeklärt habe, welche Kleidung dem Beschwerdeführer tatsächlich zur Verfügung gestanden habe. Auch die in sich widersprüchliche Stellungnahme der Klinik (einerseits habe dem Patienten Straßenkleidung zur Verfügung gestanden andererseits habe er die Badelatschen zur Fluchthemmung tragen müssen) habe das Gericht nicht zu eignen Nachforschungen angeregt. Zudem habe das Gericht nicht aufgeklärt, ob dem Beschwerdeführer tatsächlich verboten worden war, Kontakt mit der Staatsanwaltschaft oder den Gerichten aufzunehmen.

Nur weil der Beschluss des OLG ohne Begründung abgelehnt worden sei, entziehe er sich keinesfalls einer Prüfung durch das BVerfG, sondern sei schon aufzuheben, wenn an der Verfassungsmäßigkeit erhebliche Zweifel bestünden. Dies treffe hier zu, weshalb auch der Beschluss des OLG aufzuheben gewesen sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits am 5. Juli 2019 hatte das Verfassungsgericht ein Urteil aufgrund mangelnder Sachverhaltsaufklärung im Zusammenhang mit einer Maßregel aufgehoben. Die Entscheidung finden Sie hier: KriPoZ-RR, Beitrag 16/2019.

 

 

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