KriPoZ-RR, Beitrag 46/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 24.07.2019 – 1 StR 185/19: Abweichende Motivlage begründet Hinweispflicht nach § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO

Leitsatz der Redaktion:

Weicht das Motiv für einen Mord aus niedrigen Beweggründen, welches in der Anklageschrift genannt wird vom demjenigen ab, auf welches das Gericht die Verurteilung zu stützen gedenkt, folgt daraus eine Hinweispflicht gemäß § 265 Abs. 2 Nr. 3 iVm Abs. 1 StPO.

Sachverhalt:

Das LG Stuttgart hat den Angeklagten wegen Mordes verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte seine ehemalige Lebensgefährtin getötet, um das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn zu behalten. Zunächst hatte er sich das Sorgerecht durch eine Täuschung gegenüber dem Familiengericht erschlichen. Als seine ehemalige Partnerin dies bemerkt und Beschwerde beim OLG eingelegt hatte, hatte der Angeklagte sie erwürgt.

Nach Ansicht des LG war dem Angeklagten das Sorgerecht so enorm wichtig gewesen, weil er sich dadurch erhoffte, dem Strafvollzug wegen einer anderen Verurteilung entgehen zu können. Diese Motivlage war allerdings in der Anklageschrift nicht genannt worden. Ein Hinweis gem. § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO war in der Hauptverhandlung nicht erteilt worden.

Gegen dieses Vorgehen hat sich der Angeklagte mit der Verfahrensrüge gewendet.

Entscheidung des BGH:

Der BGH gab der Revision statt und verwies die Sache zurück an das LG Stuttgart.

Zur Begründung führte der Senat an, dass die Reform des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens die Hinweispflicht aus § 265 Abs. 1 StPO ausgedehnt habe. Ein Hinweis sei nun immer erforderlich, wenn sich der Sachverhalt in der Hauptverhandlung als unterschiedlich zu dem in der Anklageschrift genannten herausstelle und der Hinweis zur genügenden Verteidigung erforderlich sei. Maßgeblich dafür seien der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und das Gebot eines fairen Verfahrens.

Der Gesetzgeber habe mit der Reform die vom BGH entwickelten Grundsätze zur Hinweispflicht kodifizieren wollen, wonach ein Hinweis bei einer wesentlichen Veränderung des Tatbildes (z.B. Tatzeit, Tatort, Tatobjekt, Tatrichtung oder beteiligte Personen) oder bei Aufklärung von Ungenauigkeiten der Faktenlage in der Anklage erforderlich sei.

Eine Offenlegung der gerichtlichen Beweiswürdigung oder Hinweise bezüglich der Bewertung von Indiztatsachen seien jedoch weiterhin nicht erforderlich, so der BGH.

Nach diesen Maßstäben sei der Angeklagte über die geänderte Tatsachengrundlage, die nach Ansicht des Tatgerichts das Mordmerkmal der Heimtücke begründe, förmlich zu informieren gewesen. Erst der Hinweis hätte es dem Angeklagten ermöglicht, sich gegen die neuen Vorwürfe angemessen verteidigen zu können.

Anmerkung der Redaktion:

Alle Informationen zum Gesetzgebungsverfahren des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens finden Sie hier.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 45/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 05.06.2019 – 1 StR 34/19: Rücktritt vom Versuch der räuberischen Erpressung mit Todesfolge auch ohne Rücktritt vom Versuch der schweren räuberischen Erpressung möglich

Amtlicher Leitsatz:

Ein wirksamer Rücktritt vom Versuch der räuberischen Erpressung mit Todesfolge (§§ 251, 255, 22 StGB) durch Verhinderung der Todesfolge gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 StGB setzt nicht voraus, dass der Täter auch vom Versuch der schweren räuberischen Erpressung (§§ 250, 255 StGB) zurücktritt. Dies gilt selbst dann, wenn der Täter für den Fall, dass seine Forderungen nicht erfüllt werden, damit droht, erneut ein Mittel einzusetzen, das geeignet ist, den Tod anderer Menschen herbeizuführen.

Sachverhalt:

Das LG Ravensburg hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchter schwerer räuberischer Erpressung mit Todesfolge verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte als sog. Lebensmittelerpresser fünf Gläser mit vergifteter Babynahrung in verschiedenen, zum Tatzeitpunkt geöffneten, Supermärkten ausgebracht. Danach hatte er per Mail auf die Gläser aufmerksam gemacht und von den betroffenen Unternehmen die Zahlung von 11,75 Mio. Euro verlangt. Bei Unterlassen der Zahlung hatte der Beschuldigte damit gedroht, weitere Gläser in verschiedenen Supermarktfilialen zu verteilen. Den Tod von Säuglingen hatte er dabei billigend in Kauf genommen. Alle Gläser waren von der Polizei aufgefunden und sichergestellt worden. Zu einer Geldzahlung war es nicht gekommen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da der Angeklagte strafbefreiend vom versuchten Mord und der versuchten schweren räuberischen Erpressung mit Todesfolge zurückgetreten sei.

Zwar habe das LG rechtsfehlerfrei angenommen, dass der Angeklagte den Tatbestand des versuchten Mordes und den der schweren räuberischen Erpressung mit Todesfolge (in der Konstellation der sog. versuchten Erfolgsqualifizierung) verwirklicht habe. Allerdings habe er durch seinen Hinweis an die Behörden und die Unternehmen die Vollendung gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 StGB verhindert.

Dabei komme es nach der Rechtsprechung des BGH nicht darauf an, ob der Täter die beste oder effektivste Möglichkeit zur Erfolgsverhinderung gewählt habe, sondern es genüge das In-Gang-Setzen eines neuen Kausalverlaufs, der für die Verhinderung der Tatvollendung ursächlich werde.

Die Mail des Angeklagten habe zum Auffinden der vergifteten Gläser geführt, was auch seinem Tatplan entsprochen habe und damit die Vollendung des Mordversuches und das Eintreten der Erfolgsqualifikation bei §§ 251, 250, 255, 22, 23 StGB verhindert.

Da ein Rücktritt vom versuchten erfolgsqualifizierten Delikt in der Variante des Versuchs der Erfolgsqualifikation auch durch das Verhindern des Eintritts der Folge möglich sei, liege damit ein strafbefreiender Rücktritt von beiden Delikten vor.

Lediglich von der besonders schweren räuberischen Erpressung sei der Angeklagte nicht zurückgetreten, da er durch die Verwendung des Drohmittels die Qualifikation schon vollendet habe und die für die Qualifikation maßgebliche erhöhte Gefahr schon eingetreten gewesen sei. Für einen wirksamen Rücktritt hätte der Beschuldigte daher seinen Tatentschluss im Ganzen aufgeben müssen, so der BGH.

 

Anmerkung der Redaktion:

Der Fall hatte unter dem Stichwort Lebensmittel-Erpresser bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt. Einen Bericht über das Verfahren vor dem LG finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 44/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 24.09.2019 – 1 StR 346/18: Irrtum über eigene Arbeitgeberstellung begründet Tatbestandsirrtum im Rahmen des § 266a Abs. 1 und 2 StGB

Amtliche Leitsätze:

1. Vorsätzliches Handeln ist bei pflichtwidrig unterlassenem Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a Abs. 1 und 2 StGB) nur dann anzunehmen, wenn der Täter auch die außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts – zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre – nachvollzogen hat, er also seine Stellung als Arbeitgeber und die daraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen hat.

2. Irrt der Täter über seine Arbeitgeberstellung oder die daraus resultierende Pflicht zum Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen, liegt ein Tatbestandsirrtum vor; an seiner entgegenstehenden, von einem Verbotsirrtum ausgehenden Rechtsprechung hält der Senat nicht fest.

Sachverhalt:

Das LG Augsburg hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte er u.a. in Polen und Rumänien ungelernte Arbeitskräfte als Pflegekräfte rekrutiert, in Deutschland vermittelt und dafür sowohl eine einmalige Vermittlungsgebühr als auch eine monatliche Kostenpauschale von den Pflegebedürftigen oder deren Angehörigen erhalten.

In der Pauschale war ein Krankenversicherungsbeitrag für die Beschäftigten enthalten gewesen. Angeleitet, kontrolliert und bezahlt worden waren die Pflegekräfte direkt von den Familien, in denen sie tätig gewesen waren. Während der pflegerischen Tätigkeit hatte kein Kontakt zum Angeklagten bestanden. Auch die Unterkunft im Haus des Pflegebedürftigen war den Pflegekräften von der jeweiligen Familie zur Verfügung gestellt worden. Dem Angeklagten war bekannt gewesen, dass das Arbeitsverhältnis der Pflegekräfte als abhängige und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu qualifizieren gewesen war und die Familien höchstwahrscheinlich keine Anmeldung der Arbeitskräfte vornehmen würden. Auf den eingesparten Beiträgen und Steuern und dem daraus resultierenden Wettbewerbsvorteil hatte das Geschäftsmodell des Angeklagten gefußt. Die beschäftigenden Familien hatten es nach der Wertung des LG auch für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, dass sie als Arbeitgeber zu qualifizieren gewesen waren und ihre sozialversicherungsrechtlichen Pflichten nicht erfüllt hatten.

 

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da der bedingte Vorsatz der Haupttäter (Pflegebedürftige oder deren Angehörige)  zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt vom LG nicht rechtsfehlerfrei festgestellt worden sei.

Für eine Strafbarkeit nach § 266a StGB sei erforderlich, dass der Arbeitgeber erkannt und billigend in Kauf genommen habe, dass eine sozialversicherungspflichtige abhängige Beschäftigung bestehe und daraus eine sozialversicherungsrechtliche Pflicht zur Abführung von Beiträgen entstehe, die von ihm verletzt werde. Die bloße Kenntnis der Umstände und die Erkennbarkeit für den Täter genügten nicht, denn die Arbeitgeberstellung sei ein normatives Tatbestandsmerkmal, das somit zumindest eine zutreffende rechtliche Parallelwertung in der Laiensphäre fordere.

Daraus folge, dass eine Fehlvorstellung über die eigene Arbeitgebereigenschaft oder die dadurch begründete Pflicht zur Beitragsentrichtung als Tatbestandsirrtum nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zu qualifizieren sei.

Zudem sei § 266a StGB (mit Ausnahme des § 266a Abs. 2 Nr. 1 StGB) ein echtes Unterlassungssonderdelikt, bei dem sich der Vorsatz auf die handlungspflichtbegründenden Umstände erstrecken müsse.

Ob die nötige Parallelwertung der rechtlichen Implikationen des Sozialversicherungsrechts bei einem Täter vorgelegen habe, sei vom Tatgericht anhand der konkreten Tatumstände des jeweiligen Einzelfalls wertend zu ermitteln. Maßgebliche Indizien stellten dafür beispielsweise die Erfahrung des Angeklagten im geschäftlichen Verkehr, die Gefahr illegaler Beschäftigung in der jeweiligen Branche, soweit sie im öffentlichen Diskurs präsent gewesen sei, oder die von vornherein bestehende Zielsetzung zur Umgehung von sozialversicherungsrechtlichen Pflichten durch das Geschäftsmodell dar.

Diesen Maßstäben habe das landgerichtliche Urteil nicht genügt, da keine hinreichend gewichtigen Indizien festgestellt worden seien, die eine vorsatzbegründende Parallelwertung in der Laiensphäre nahegelegt hätten.

Zudem sei die Höhe der hinterzogenen Sozialabgaben vom LG rechtsfehlerhaft berechnet worden, weil die bereitgestellte Wohnmöglichkeit für die Pflegekräfte nicht als Sachleistung zu qualifizieren gewesen sei, da diese nicht als vertragliche Gegenleistung für die Pflegetätigkeit sondern gerade zu ihrer Ermöglichung gedacht gewesen sei.

Zusätzlich begegne auch die pauschale Annahme einer Eingruppierung aller Pflegekräfte in die Steuerklasse IV durchgreifenden rechtlichen Bedenken, da es dem LG durch eine Befragung der Pflegekräfte möglich gewesen wäre, die individuellen steuerlichen Abzugsmerkmale zu ermittlen, so der BGH.

 

Anmerkung der Redaktion:

Mit diesem Beschluss weicht der Senat erstmals von seiner eigenen Rechtsprechung ab, die bisher bei einem solchen Sachverhalt einen vermeidbaren Verbotsirrtum angenommen hatte. Beispiele finden Sie hier und hier. Die Rechtsprechungsänderung hatte sich bereits in einem Beschluss vom 24. Januar 2018 angedeutet. Diesen Beschluss finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 43/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 07.08.2019 – 4 StR 189/19: Keine analoge Anwendung des § 32 Satz 1 JGG iVm § 105 Abs. 1 JGG

Amtlicher Leitsatz:

Wird der Angeklagte (nur) wegen Taten verurteilt, die er als Erwachsener begangen hat, hatte die Staatsanwaltschaft jedoch hinsichtlich weiterer Taten, die der Angeklagte bereits als Heranwachsender begangen hatte, von einer Verfolgung gemäß § 154 Abs. 1 StPO  abgesehen, kommt eine analoge Anwendung des § 32 Satz 1 JGG iVm § 105 Abs. 1 JGG nicht in Betracht.

Sachverhalt:

Das LG Essen hat den Angeklagten wegen gewerbsmäßiger Bandenhehlerei in zwei Fällen, gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Bandenurkundenfälschung, versuchten gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Bandenurkundenfälschung und Beihilfe zum gewerbsmäßigen Bandenbetrug in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Bandenurkundenfälschung unter Freispruch im Übrigen verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatten sich der am 17. Juni 1996 geborene Angeklagte und die weiteren Täter spätestens im April 2017 zu einer Bande zusammengeschlossen, um von anderen gestohlene Fahrzeuge mit gefälschten Zulassungspapieren gewinnbringend weiter zu veräußern. An diesen Taten hatte sich der Angeklagte in fünf Fällen als Erwachsener beteiligt, wobei er meist unterstützende und überwachende Tätigkeiten übernahm. Zur Tatzeit von zwei weiteren ähnlichen Taten war der Angeklagte allerdings noch Heranwachsender gewesen.

Diese Taten waren von der StA gemäß § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt und vom LG strafschärfend berücksichtigt worden.

Der Angeklagte hat in der Revision gerügt, dass es das LG unterlassen hatte, eine zur Anwendung des Jugendstrafrechts führende analoge Anwendung des § 32 Satz 1 JGG iVm § 105 Abs. 1 JGG zu prüfen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf die Revision als unbegründet, da weder eine direkte noch analoge Anwendung des § 32 Satz 1 JGG in Betracht komme.

Für eine unmittelbare Anwendung fehle es schon an der gemeinsamen Aburteilung der Taten.

Aber auch eine entsprechende Anwendung der Norm, wie sie der 1. Strafsenat präferiere, sei abzulehnen, da es sich bei dieser Regelung um eine Ausnahmevorschrift für den Fall der gemeinsamen Aburteilung von Taten handele, die ein Täter in unterschiedlichen Altersstufen begangen habe.

Für eine Analogie sprächen sich zwar das OLG Düsseldorf und Teile der Literatur aus, da der Gesetzgeber die aus einer möglichen Einstellung nach § 154 StPO folgende Verfahrenskonstellation nicht bedacht habe und es dem gesetzgeberischen Vereinheitlichungszweck widerspreche, wenn die Anwendung des Jugendstrafrechts von der Einstellung abhängig sei.

Allerdings sei die Gegenansicht, die auf den eindeutigen Wortlaut der Norm und die bei einer Einstellung wegfallende Grundlage für die Prüfung des Schwergewichts abstelle, aus folgenden Gründen vorzugswürdig:

Eine entsprechende Anwendung würde den klaren Normwortlaut sowohl auf der Tatbestands- als auch der Rechtsfolgenseite überdehnen. Tatbestandlich sei nämlich eine gleichzeitige Aburteilung vorausgesetzt, die bei einer Einstellung nicht gegeben sei. Als Rechtsfolge ordne § 32 Satz 1 JGG an, dass auf die verschiedenen Taten je nach Schwerpunkt einheitlich Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anzuwenden sei. Auch dies wäre bei einer Einstellung nicht möglich, da auf die eingestellten Taten weder das Jugend- noch das Erwachsenenstrafrecht anwendbar wäre.

Damit würden sich die eingestellten Taten alleinig auf die im Erwachsenenalter begangenen Taten auswirken, was die Vorschrift gerade nicht erlaube.

Auch eine historische Auslegung komme zu diesem Ergebnis, denn der erste Entwurf der Vorschrift habe keine Einschränkung enthalten, welche dann aber im Gesetzgebungsverfahren mit dem Erfordernis der gleichzeitigen Aburteilung aufgenommen worden sei. Maßgeblich sei dafür die Bundesregierung verantwortlich gewesen, die eine Anwendung von Jugendstrafrecht auf Taten im Erwachsenenalter allein aus dem Grund, dass die früheren Verfahren noch nicht erledigt gewesen waren, verhindern wollte. Dieser Sichtweise habe sich der Rechtsausschuss angeschlossen.

Teleologisch fordere § 32 Satz 1 JGG die einheitliche Sanktionierung bei gleichzeitiger Aburteilung nicht etwa aus Gerechtigkeitsgründen oder dem Erziehungsgedanken, sondern allein aus Pragmatismus, damit die gleichzeitige Aburteilung von Taten aus unterschiedlichen Altersstufen einfacher sei.

Abschließen spreche auch sie Systematik des JGG gegen eine analoge Anwendung, da das abschließende System der §§ 31 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 32 Satz 1, 66 Abs. 1 und 105 Abs. 2 JGG immer voraussetze, dass die Taten der Kognitionspflicht des Tatrichters (§ 264 StPO) unterlägen. Der Tatrichter müsse also von jeder Tat die Strafbarkeitsvoraussetzungen unter allen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten ermittelt und geprüft haben, was bei eingestellten Taten wiederum nicht möglich sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Urteile des OLG Düsseldorf und des 1. Strafsenats, die beide eine entsprechende Anwendung der Vorschrift befürworten, finden Sie hier und hier.

Der obige Beschluss des 4. Senats ist mit der bisherigen Rechtsprechung des BGH zu Fällen, in denen der Angeklagte zu einer Jugendstrafe verurteilt worden ist und später eine Freiheitsstrafe für eine vor der Verurteilung zur Jugendstrafe begangenen Tat als Erwachsender verbüßen muss, vereinbar.

Beispiele dieser Rechtsprechung finden Sie hier und hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 42/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 23.09.2019 – 2 BvR 903/18: Verstoß gegen Rechtsschutzgarantie bei unzureichender Beweiserhebung im Verfahren eines Maßregelvollzugspatienten

Leitsatz der Redaktion:

Rügt ein Patient die Zustände und Beschränkungen in einer Maßregelvollzugsanstalt, haben die Instanzgerichte den Sachverhalt hinreichend aufzuklären, um der Rechtschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG Genüge zu tun.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war in einer forensischen Psychiatrie im Maßregelvollzug untergebracht worden.

Nach seinem Vortrag habe er dort für den Hofgang im November nur ein T-Shirt, eine Jogginghose und Badelatschen ohne Socken bekommen, sodass er es draußen nicht lange ausgehalten habe. Zudem sei ihm Schreibmaterial verweigert und er für Anwaltsgespräche auf das Telefon verwiesen worden.

Gegen diese Maßnahmen der Klinik hatte sich der Beschwerdeführer an das LG Marburg gewandt und Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahmen beantragt.

Die Klinik hatte erwidert, dass die Beschränkungen nach einem noch nicht aufgeklärten Fluchtversuch des Beschuldigten erforderlich gewesen seien und ihm für den Hofgang auch Straßenkleidung zur Verfügung gestanden hätte.

Das LG hat den Antrag des Patienten abgelehnt und auch das zuständige OLG Frankfurt a. M. hat die vom Beschwerdeführer erhobene Rechtsbeschwerde als unzulässig und ohne Begründung verworfen.

Hiergegen hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erhoben.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG hob die Entscheidungen des LG und OLG auf und verwies die Sache zu neuer Entscheidung zurück an das LG.

Zur Begründung führte es an, dass Art. 19 Abs. 4 GG jedem einen Anspruch auf effektive gerichtliche Kontrolle von grundrechtsrelevanten Maßnahmen zugestehe. Diese Kontrolle sei jedoch nur möglich, wenn sie auf einer hinreichenden Sachverhaltsaufklärung beruhe.

Diesen Ansprüchen werde der Beschluss des LG nicht gerecht, da das Gericht nicht aufgeklärt habe, welche Kleidung dem Beschwerdeführer tatsächlich zur Verfügung gestanden habe. Auch die in sich widersprüchliche Stellungnahme der Klinik (einerseits habe dem Patienten Straßenkleidung zur Verfügung gestanden andererseits habe er die Badelatschen zur Fluchthemmung tragen müssen) habe das Gericht nicht zu eignen Nachforschungen angeregt. Zudem habe das Gericht nicht aufgeklärt, ob dem Beschwerdeführer tatsächlich verboten worden war, Kontakt mit der Staatsanwaltschaft oder den Gerichten aufzunehmen.

Nur weil der Beschluss des OLG ohne Begründung abgelehnt worden sei, entziehe er sich keinesfalls einer Prüfung durch das BVerfG, sondern sei schon aufzuheben, wenn an der Verfassungsmäßigkeit erhebliche Zweifel bestünden. Dies treffe hier zu, weshalb auch der Beschluss des OLG aufzuheben gewesen sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits am 5. Juli 2019 hatte das Verfassungsgericht ein Urteil aufgrund mangelnder Sachverhaltsaufklärung im Zusammenhang mit einer Maßregel aufgehoben. Die Entscheidung finden Sie hier: KriPoZ-RR, Beitrag 16/2019.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 41/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 05.09.2019 – 1 StR 99/19: Keine Einziehung von ersparter Einkommensteuer, wenn diese zu einer Doppelbelastung des Beschuldigten geführt hätte

Leitsatz der Redaktion:

Erhält der Täter ein Bestechungsgeld, das er nicht in seiner Steuererklärung angibt und so Aufwendungen für die Einkommenssteuer erspart, können nicht zugleich die erhaltene Bestechungssumme und die ersparten Steueraufwendungen als Taterträge eingezogen werden, da dies zu einer Doppelbelastung des Täters führen würde.

Sachverhalt:

Das LG Neuruppin hat den Angeklagten wegen Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr und wegen Steuerhinterziehung verurteilt und die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe der Bestechungssumme und der ersparten Aufwendungen für verkürzte Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag angeordnet.

Die Revision hat sich gegen die Einziehung der ersparten Aufwendungen gerichtet.

Entscheidung des BGH:

Der BGH gab dem Rechtsmittel statt und ordnete die Einziehung von Taterträgen nur hinsichtlich der erhaltenen Bestechungszahlungen an.

Dazu führte er aus, dass die Einziehung von ersparten Steueraufwendungen zwar im Grundsatz rechtsfehlerfrei sei, da solche ein erlangtes Etwas iSd § 73 Abs. 1 StGB darstellten. Allerdings komme in diesem Fall eine Einziehung beider Positionen nicht in Betracht, da dem Angeklagten dann in Summe ein mehr als 40% höherer Betrag eingezogen würde, als er überhaupt erlangt habe. Dies sei mit der Rechtsprechung des BVerfG, die Doppelbelastungen ausschließe, nicht zu vereinbaren.

Nach dem Willen des Gesetzgebers, erkennbar durch die Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, sollten solche Doppelbelastungen dadurch vermieden werden, dass die eingezogenen ersparten Aufwendungen selbst wiederum als Ausgaben von der Steuer absetzbar seien. Ein solches Vorgehen führe allerdings dazu, dass der Ausgleich der Doppelbelastung erst im Rahmen der steuerlichen Veranlagung für den maßgeblichen Zeitraum vorgenommen werden könne. Dies sei im Hinblick darauf, dass der Steuerbetrag dem Staat im Ergebnis ohnehin nicht dauerhaft zufließe, nicht zu rechtfertigen.

Auch könne ein solches Vorgehen dazu führen, dass die Beträge der ursprünglich eingezogenen ersparten Steueraufwendungen und der Steuerersparnis (durch die Anrechnung des eingezogenen Betrages als Ausgaben) unterschiedlich hoch seien.

All das führe dazu, dass die Einziehung der ersparten Steueraufwendungen zu unterbleiben habe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die strafrechtliche Vermögensabschöpfung wurde im April 2017 durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung novelliert. Alle Materialien zum Gesetzgebungsverfahren finden Sie hier.

Die Entscheidung des BVerfG zum Verbot der Doppelbelastung finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 40/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 18.09.2019 – 2 BvR 1165/19: Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit auch ohne konkrete Anzeichen einer drohenden Depravation

Leitsatz der Redaktion:

§ 53 Abs. 3 StVollzG NRW fordert im Lichte des Gebots, die Lebenstüchtigkeit eines Gefangenen zu erhalten und zu festigen, keine konkreten Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation. Vor solchen konkreten Anzeichen soll das Gebot gerade schützen.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war wegen Totschlags zu einer zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt worden.

Nachdem er etwas mehr als sechs Jahre verbüßt hatte, hatte er im Jahr 2018 bei der Justizvollzugsanstalt eine erste Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit beantragt, welche von der JVA mit der Begründung abgelehnt worden war, dass der Beschwerdeführer keine Anzeichen einer drohenden Einschränkung der Lebenstüchtigkeit aufweise.

Nachdem dieser Bescheid vom LG Bielefeld aufgehoben worden war, weil er keine ausreichende Abwägung erkennen lassen hatte, hatte die JVA den Antrag erneut negativ beschieden, da der Inhaftierte keine Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten zeige und eine Ausführung nur in gefesseltem Zustand möglich sei, was dem Zweck der Ausführung zuwiderlaufe.

Dieser Bescheid war sowohl vom LG als auch vom OLG Hamm aufrechterhalten worden. Der Beurteilungsspielraum, der der JVA zustünde, sei gewahrt worden, da alle Gründe die für und gegen eine Ausführung gesprochen hatten, abgewogen worden seien. Eine drohende Einschränkung der Lebenstüchtigkeit sei rechtsfehlerfrei und unter Anwendung der Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation abgelehnt worden. Die Eingangsvoraussetzung des § 53 Abs. 3 Satz 1 StVollzG NRW fordere, dass eine Einschränkung der Lebenstüchtigkeit entweder feststellbar sei oder nach konkreten Anhaltspunkten zumindest drohe, eine lange Haftdauer allein genüge unterdessen nicht.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG hob die Beschlüsse des LG Bielefeld und des OLG Hamm auf, da sie den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Resozialisierung aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG verletzten.

Dieses Grundrecht verpflichte zu einer auf Resozialisierung und Behandlung ausgerichteten Ausgestaltung des Strafvollzuges. Gerade bei langen Haftstrafen müsse den schädlichen Auswirkungen des Vollzugs entgegengewirkt werden, wobei das Gebot zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit nicht erst dann eingreife, wenn der Gefangene bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweise.

Um dieses Ziel zu erreichen, seien dem Gefangenen Vollzugslockerungen oder vollzugsöffnende Maßnahmen, wie beispielsweise eine Ausführung, zu gewähren soweit dies möglich sei. Deren Ablehnung greife in das durch Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Resozialisierungsinteresse des Insassen ein.

Daher dürfe eine Ablehnung durch die JVA insbesondere nicht unter Hinweis auf pauschale Wertungen oder einer abstrakten Flucht- bzw. Missbrauchsgefahr erfolgen, so das BVerfG. Es sei vielmehr eine Gesamtwürdigung vorzunehmen und konkrete Anhaltspunkte darzulegen, die eine Prognoseentscheidung zur tatsächlichen Flucht- oder Missbrauchsgefahr des Gefangenen stützten.

Anhand dieser Maßstäbe hätten das LG und das OLG die Voraussetzungen an eine Ausführung nach § 53 Abs. 3 StVollzG NRW fehlerhaft ausgelegt.

Indem die Instanzgerichte eine konkrete Gefahr für eine drohende Einschränkung der Lebenstüchtigkeit gefordert hätten, hätten sie den Sinn des grundrechtlichen Gebots, den Strafvollzug am Resozialisierungsziel auszurichten, verkannt.

Weise ein Gefangener bereits Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation auf, handele es sich schon um konkrete haftbedingte Schädigungen, vor denen der Inhaftierte zu schützen gewesen sei.

Daraus folge, dass einem langjährig inhaftierten Gefangenen Ausführungen zu gewähren seien, auch, wenn er noch keine Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation zeige. Anders sei nur zu entscheiden, wenn eine konkrete und durch aktuelle Tatsachen belegbare Missbrauchs- oder Fluchtgefahr bestehe, der nicht durch die Begleitung von Bediensteten, der Festlegung von zusätzlichen Auflagen oder der verhältnismäßigen Anordnung einer Fesselung begegnet werden könne.

Ein pauschaler Verweis auf eine frühere aus dem offenen Vollzug heraus begangen Tat ohne aktuelle Gefahrenprognose genüge ebensowenig, wie eine Versagung mit dem pauschalen Argument, eine Ausführung unter Fesselung entspreche nicht dem realen Erleben und verfehle daher ihren Zweck.

Anmerkung der Redaktion:

Bereits 2017 hatte das OLG Hamm entschieden, dass die Annahme einer Missbrauchs- oder Fluchtgefahr positiv festgestellt werden müsse (OLG Hamm, Beschl. v. 06.07.2017 – 1 Volz (Ws) 209/17).

Am 14. Dezember 2017 hat das OLG Hamm beschlossen, dass keine konkreten Anzeichen für eine drohende Einschränkung der Lebenstüchtigkeit zur Anordnung von Maßnahmen nach § 53 Abs. 3 StVollzG NRW erforderlich seien. Daher verwirrt das Abweichen von der eigenen Rechtsprechung in diesem Fall.

Den Beschluss vom Dezember 2017 finden Sie hier.

Zur Fesselung, die dem Zweck der Ausführung nicht entgegenwirke, hat das OLG Hamm am 28.12.2018 entschieden.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 39/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 15.10.2019 – C-128/18: Überprüfung der Haftbedingungen durch den Ausstellungsstaat vor Erlass eines Europäischen Haftbefehls

Amtliche Leitsätze:

Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats belegen, zum Zweck der Beurteilung, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, nach ihrer Übergabe an diesen Mitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt sein wird, alle relevanten materiellen Aspekte der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der diese Person konkret inhaftiert werden soll, berücksichtigen muss, wie etwa den persönlichen Raum, über den jeder Gefangene in einer Zelle dieser Anstalt verfügt, die sanitären Verhältnisse und das Ausmaß der Bewegungsfreiheit des Gefangenen innerhalb dieser Anstalt. Diese Beurteilung ist nicht auf die Prüfung offensichtlicher Unzulänglichkeiten beschränkt. Für eine solche Beurteilung muss die vollstreckende Justizbehörde von der ausstellenden Justizbehörde die für notwendig erachteten Informationen erbitten und sich grundsätzlich auf die Zusicherungen dieser Behörde verlassen, wenn keine konkreten Anhaltspunkte darauf schließen lassen, dass die Haftbedingungen gegen Art. 4 der Charta verstoßen.

Was speziell den persönlichen Raum betrifft, über den jeder Gefangene verfügt, so muss die vollstreckende Justizbehörde, da im Unionsrecht gegenwärtig keine Mindestnormen hierzu existieren, die Mindestanforderungen berücksichtigen, die sich aus Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergeben. Bei der Berechnung dieses verfügbaren Raums ist zwar die durch Sanitärvorrichtungen belegte Fläche nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche. Den Gefangenen muss es jedoch möglich bleiben, sich in der Zelle normal zu bewegen.

Die vollstreckende Justizbehörde darf das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nicht allein deshalb ausschließen, weil die betroffene Person im Ausstellungsmitgliedstaat über einen Rechtsbehelf verfügt, der es ihr ermöglicht, die Bedingungen ihrer Haft zu beanstanden, oder weil es in diesem Mitgliedstaat gesetzgeberische oder strukturelle Maßnahmen gibt, die darauf abzielen, die Kontrolle der Haftbedingungen zu verstärken.

Stellt diese Justizbehörde fest, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der sie konkret inhaftiert werden soll, einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird, so darf bei der Entscheidung über die Übergabe keine Abwägung zwischen dieser Feststellung und Erwägungen im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung erfolgen.

Sachverhalt:

Bei dem OLG Hamburg ist ein Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls anhängig. Ausstellungsstaat ist Rumänien in einem Verfahren zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen Vermögens- und Urkundsdelikten.

Im Rahmen dieses Verfahrens hat das OLG dem EuGH die Frage vorgelegt, inwieweit die um Vollstreckung ersuchte Justizbehörde die Haftbedingungen im Ausstellungsstaat auf ein Mindestmaß an persönlichem Raum für den Gefangen hin zu prüfen hat. Zudem wollte es wissen, ob ihm eine Abwägung zwischen der Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Strafvollzug einerseits und den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der Anerkennung zwischen den Mitgliedsstaaten andererseits, möglich sei.

Antwort des EuGH:

Zunächst erinnerte der EuGH an die grundlegende Prämisse des Europarechts, dass alle Mitgliedsstaaten gemeinsame Werte teilten und dies auch gegenseitig anerkennen würden, was einen gegenseitigen Vertrauensvorschuss im Hinblick auf die Einhaltung von Grundrechten rechtfertige.

Unter außergewöhnlichen Umständen sei dieser Vertrauensgrundsatz jedoch einzuschränken, was dazu führen könne, dass ein um Vollstreckung ersuchter Mitgliedsstaat bei gewichtigen Anhaltspunkten dafür, dass eine Auslieferung an den Ausstellungsstaat zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen würde, die Auslieferung stoppen müsse.

In einem solchen Fall habe die vollstreckende Behörde konkret und genau zu beurteilen, ob die vorliegenden Anhaltspunkte zustimmten oder nicht, um die Einhaltung des Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union zu gewährleisten, so der EuGH.

Explizit zur Prüfung der Haftbedingungen führte der EuGH aus, dass eine solche auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen beruhen müsse. Daraus folge, dass im Hinblick auf die Konkretheit und Genauigkeit der Nachforschungen, nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in allen Haftanstalten dieses Mitgliedstaats abgestellt werden dürfe, sondern nur die Anstalten zu prüfen seien, in denen die betroffene Person konkret inhaftiert werden solle.

Im konkreten Falle werde der Inhaftierte in einer Gemeinschaftszelle untergebracht. Bei dieser Art der Unterbringung könne ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK vermutet werden, wenn der dem Gefangenen zur Verfügung stehende Raum unter 3 m² betrage. Zwar könne ein Mitgliedstaat strengere Haftbedingungen festlegen als es Art. 4 der Charta und Art. 3 EMRK forderten, allerdings habe der vollstreckende Mitgliedstaat die Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls von der Erfüllung gerade dieser Kriterien abhängig zu machen. Die Einhaltung dieser Kriterien zu prüfen sei Aufgabe des vollstreckenden Staates.

Zudem sei allein die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsbehelfs durch den Betroffenen im Ausstellungsstaat kein Grund für den Vollstreckungsstaat, eine Gefahr für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung pauschal zu verneinen. 

Stelle der vollstreckende Staat ernsthafte Tatsachen fest, die den Schluss zuließen, dass der Inhaftierte in seinem konkreten Gefängnis im Ausstellungsstaat aufgrund der Haftbedingungen unmenschlich oder erniedrigend behandelt werde, dürfe bei der Auslieferungsentscheidung keine Abwägung zwischen diesen Tatsachen und Erwägungen im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit sowie den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der Anerkennung mehr stattfinden.

Anmerkung der Redaktion:

Im Mai 2019 hatte der EuGH entschieden, dass die deutschen Staatsanwaltschaften für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nicht unabhängig genug seien. Das Urteil finden Sie hier.

Daraufhin hatte das OLG Hamm eine gerichtliche Zuständigkeit für den Erlass solcher Haftbefehle begründet. Den Beitrag zu diesem Urteil finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 38/2019

Die Pressemitteilung zur Entscheidung finden Sie hier.

BayObLG, Beschl. v. 02.10.2019 – 206 StRR 1013/19; 206 StRR 1015/19: Containern

Leitsatz der Redaktion:

Das Entwenden von Lebensmitteln aus einem Abfallcontainer eines Supermarktes ist als Diebstahl strafbar.

Sachverhalt:

Das AG Fürstenfeldbruck hat die Angeklagten wegen Diebstahls verurteilt.

Nach den Feststellungen des Gerichts hatten sie sich in der Nacht auf das nichtöffentliche Gelände eines Supermarktes begeben und dort einen verschlossenen Abfallcontainer mit einem Werkzeugschlüssel geöffnet. In dem Container waren Lebensmittel zur Abholung durch ein Entsorgungsunternehmen gesammelt worden. Die Angeklagten hatten den Container daraufhin durchsucht und einige Lebensmittel entwendet.

Entscheidung des BayObLG:

Das BayObLG verwarf die Revision der Angeklagten als unbegründet.

Zur Begründung führte es an, dass die zur Tatzeit im Eigentum des Supermarktes stehenden Lebensmittel für die Angeklagten fremd gewesen seien.

Ein erkennbarer Wille des Marktes, das Eigentum aufgeben zu wollen, sei nicht erkennbar gewesen. Dies folge schon aus dem Umstand, dass die Lebensmittel in einem verschlossenen Container für die Abholung des Entsorgungsunternehmens gelagert und vor dem Zugriff durch Dritte geschützt worden seien.

Zudem sei der Supermarkt für die Qualität der Lebensmittel, die er in den Verkehr bringe, verantwortlich. Damit habe der Markt ein berechtigtes Interesse daran, die Lebensmittel, die er für nicht mehr verkehrsfähig halte, nur an den Entsorger abzugeben und eine anderweitige Wegnahme nicht zu dulden.

Anmerkung der Redaktion:

Der Fall hatte bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Mittlerweile hat die Fraktion Die Linke einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der das Containern von Lebensmitteln entkriminalisieren soll, da solche Taten nach ihrer Motivlage nicht den Supermarkt schädigen sollen. Es ginge den Tätern vielmehr darum, Lebensmittel vor der Verschwendung zu „retten“.

Alles zum Gesetzesantrag und zur Entkriminalisierungsdebatte finden Sie hier.

Ein ähnliches Urteil erließ das AG Köln in einem Prozess um Skizzen des Künstlers Gerhard Richter, die dieser im Papiermüll entsorgen wollte. Die zugehörige Pressemitteilung finden sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 37/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 12.09.2019 – 5 StR 325/19: Fahrlässigkeitsvorwurf beim Transport einer größeren Menge Rauschgift als gedacht

Leitsatz der Redaktion:

Das Unvermögen eines Drogenkuriers, die tatsächlich transportierte Menge an Drogen festzustellen, und das Durchführen einer Transportfahrt trotz des bestehenden Risikos, mehr Drogen zu transportieren als gedacht, kann einen Fahrlässigkeitsvorwurf begründen.

Sachverhalt:

Das LG Hamburg hat den Angeklagten wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte Schulden, die er durch den Transport von Drogen für seinen Bekannten hatte abbauen wollen.

Für einen dieser Transporte hatte er einen großen und im Laderaum leeren Lieferwagen gestellt bekommen, in dem, wie der Angeklagte gewusst hatte, irgendwo Drogen professionell versteckt gewesen waren. Der Beschuldigte hatte keine Kenntnis davon, wie groß die von ihm transportierte Drogenmenge gewesen war. Er hatte zudem keine Möglichkeit gehabt, die Menge vor Ort zu überprüfen. Allerdings war er lediglich von einer zu transportierenden Menge von ca. 15 kg Haschisch ausgegangen. Tatsächlich waren bei einer Kontrolle auf der Autobahn 350 kg des Betäubungsmittels durch den Zoll gefunden und sichergestellt worden.

Das LG hat keinen Fahrlässigkeitsvorwurf für die die 15 kg übersteigende Menge Haschisch angenommen, wogegen sich die Revision der StA gerichtet hat.

Entscheidung des BGH:

Der BGH gab der Revision statt, da das LG den Fahrlässigkeitsvorwurf rechtsfehlerhaft verneint habe.

Die eingeführte Rauschgiftmenge, die nicht vom Vorsatz des Täters umfasst sei, dürfe nur schulderhöhend berücksichtigt werden soweit den Täter bezüglich dieser Menge ein Fahrlässigkeitsvorwurf treffe.

Die Anforderungen an diesen Fahrlässigkeitsvorwurf bestimmten sich nach der konkreten Tatsituation und den konkreten Kenntnissen und Fähigkeiten des Täters. Dabei müssten nicht alle Tatfolgen ganz genau vorhersehbar sein, es genüge vielmehr auch, dass der Täter trotz ungewisser Folgen und Tragweite seiner Tat gehandelt habe.

Dem Angeklagten sei bekannt gewesen, dass er ein großes Fahrzeug bewegte, in dem sich eine ihm unbekannte Menge Haschisch befunden habe. Es sei damit für ihn auch vorhersehbar gewesen, eine wesentlich größere Menge an Drogen zu transportieren als angenommen, so der Senat.

Das Unvermögen des Angeklagten, das Rauschgift selbst zu finden und die konkrete Menge festzustellen, ändere an dieser Bewertung nichts, denn gerade die Durchführung der Fahrt trotz Unkenntnis der konkreten Menge und der damit einhergehenden Gefahr für die Volksgesundheit, begründe die Sorgfaltspflichtverletzung.

 

Anmerkung der Redaktion:

Welche Anforderungen an den Vorsatz eines Drogenkuriers bezüglich der transportierten Menge zu stellen sind, hat der BGH in diesem Urteil aktuell wiedergegeben.

 

 

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