KriPoZ-RR, Beitrag 82/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 26.05.2020 – 2 StR 434/19: Zur mutmaßlichen Einwilligung in eine palliativmedizinische Behandlung trotz Überschreitens der ärztlichen Anordnung

Leitsatz der Redaktion:

Überschreitet ein Nichtarzt bei einer palliativmedizinischen Medikamentenverabreichung eigenmächtig den Rahmen der ärztlichen Anordnung, schließt das nicht per se eine Rechtfertigung aufgrund einer mutmaßlichen Einwilligung aus. Das Vorliegen einer solchen ist vielmehr im Wege einer Gesamtbetrachtung aller Umstände vom Tatgericht zu ermitteln.

Sachverhalt:

Das LG Darmstadt hat den Angeklagten wegen Körperverletzung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen war der als Pfleger des Opfers tätige Angeklagte mit einer weiteren unerfahrenen Kollegin im Nachtdienst eingeteilt gewesen. Der Geschädigte hatte aufgrund einer Krebserkrankung starke Schmerzen und sein Tod hatte unmittelbar bevorgestanden. Für den Fall, dass der Angeklagte starke Schmerzen verspüre und die bisherige Medikation nicht ausreiche, hatte der zuständige Arzt die Verabreichung von 5mg Morphium angeordnet. Gegen 22:30 Uhr hatte der Patient über starke Schmerzen geklagt und die verordnete Dosis vom Angeklagten gespritzt bekommen.

Gegen 6:00 Uhr litt der Geschädigte wiederum sehr stark, sodass der Angeklagte und seine Kollegin Mitleid mit ihm hatten und seinen Zustand nur schwer mit ansehen konnten. Um seiner Kollegin zu imponieren, weil er in sie verliebt war, und aus Mitleid mit dem Geschädigten, hatte der Angeklagte ihm daraufhin 10mg Morphin, also das doppelte der ärztlich verordneten Maximaldosis, verabreicht.

Wenig später verstarb der Patient. Das Morphium war nicht todesursächlich.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob die Verurteilung durch das LG auf.

Die Verabreichung des Medikaments sei tatbestandlich zwar eine Körperverletzung, das LG habe jedoch die Möglichkeit einer Rechtfertigung nicht ausreichend geprüft.

Eine ausdrückliche Einwilligung des Patienten habe nicht vorgelegen. Die Wertung des LG, dass auch eine mutmaßliche Einwilligung von vornherein ausscheide, da der Eingriff durch einen Nichtarzt erfolgt sei, sei jedoch rechtsfehlerhaft, so der BGH.

Einwilligungsfähig seien nach den Grundsätzen der Rechtfertigung von Maßnahmen zur Ermöglichung eines schmerzfreien Todes auch Maßnahmen eines Nichtarztes, wenn diese den Regeln der ärztlichen Kunst und dem mutmaßlichen Willen des Patienten entsprächen.

Gerade bei der Schmerzlinderung im Todeskampf bestünde eine besondere Ausnahmesituation, die auch das Handeln eines Nichtarztes unter Abweichung von der ärztlichen Anordnung rechtfertigen könne. Somit wäre die Möglichkeit einer Rechtfertigung aufgrund einer mutmaßlichen Einwilligung des Geschädigten zumindest vom Tatgericht zu prüfen gewesen.

Dies habe im Wege einer Gesamtabwägung und im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten anhand seiner persönlichen Umstände, individuellen Interessen, Wünsche, Bedürfnisse und Wertvorstellungen zu erfolgen. Dass die Beachtung und Einhaltung der ärztlichen Anordnung gemeinhin als Vernünftig anzusehen sei, sei lediglich ein Indiz für die gerichtliche Bewertung. Gerade im Todeskampf könne jedoch auch ein darüberhinausgehendes Handeln innerhalb den Regeln der ärztlichen Kunst als vernünftig angesehen werden. Vor allem, wenn – wie im vorliegenden Fall – die ärztliche Anordnung an der Untergrenze des medizinisch Angemessenen gelegen habe.

Eine solche Gesamtabwägung lasse das landgerichtliche Urteil vermissen.

Auch, dass der Angeklagte neben Mitleid mit dem Geschädigten auch handelte, um seiner unerfahrenen Kollegin zu imponieren, sei kein Ausschlussgrund für eine Rechtfertigung, da das Mitleidsmotiv nicht völlig in den Hintergrund gedrängt worden sei.

Anmerkung der Redaktion:

Gerade vor dem Hintergrund des Urteils des BVerfG zur Straffreiheit der Sterbehilfe wird hier deutlich, dass der Wille des einzelnen Patienten auch bei einer Einwilligung in palliativmedizinische Behandlungen sehr großes Gewicht hat und sogar die Abweichung von ärztlichen Anordnungen rechtfertigen kann.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 81/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 17.03.2020 – 3 StR 574/19: Raub mit Todesfolge bei Tod aufgrund wirksamer Patientenverfügung

Amtlicher Leitsatz:

Der qualifikationsspezifische Risikozusammenhang im Sinne des § 251 StGB wird nicht dadurch unterbrochen, dass die behandelnden Ärzte mit Blick auf eine wirksame Patientenverfügung in rechtmäßiger Weise von einer Weiterbehandlung des moribunden Raubopfers absehen.

Sachverhalt:

Das LG Krefeld hat den Angeklagten wegen Raubes mit Todesfolge verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte seinem 84jährigen Opfer die Handtasche aus dem Rollator gerissen, um diese zu entwenden. Da die Schlaufe der Tasche um den Griff der Gehhilfe gewickelt war, war die Geschädigte schwer gestürzt und musste aufgrund ihrer Verletzungen im Krankenhaus operiert werden. Nach der Operation hatte sich der Gesundheitszustand der vorerkrankten Geschädigten massiv verschlechtert, sodass die Ärzte nach Absprache mit den Angehörigen und aufgrund einer wirksamen Patientenverfügung die weitere Behandlung eingestellt hatten. Das Opfer war 13 Tage nach der Tat verstorben.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Verurteilung des LG wegen Raubes mit Todesfolge.

Die empfindlich höhere Strafandrohung des § 251 StGB erfordere eine einschränkende Auslegung der Norm, der mit dem Erfordernis des gefahrspezifischen Zusammenhangs Rechnung getragen werde. Dieser Zusammenhang sei nur gegeben, wenn zwischen den tatbestandsspezifischen Risiken und der Todesfolge eine Verknüpfung bestehe. Beim Dazwischentreten Dritter oder des Opfers könne dieser Zusammenhang unterbrochen werden, was jedoch nicht bedeute, dass in den Fällen, in denen die tödliche Folge nicht unmittelbar durch die Nötigungshandlung eintrete, stets die Verwirklichung des § 251 StGB ausscheide.

Es komme vielmehr auf eine Gesamtbetrachtung der Umstände im Einzelfall an. In diese müssten alle maßgeblichen Faktoren Einfluss finden, wie beispielsweise das Gewicht und die Bedeutung des Eingriffs des Dritten für den weiteren Geschehensablauf, ob das Eingreifen des Opfers die Todesgefahr erst geschaffen oder nur beschleunigt habe sowie die rechtliche Einordnung der Handlung des Dritten bzw. des Opfers.

Nach dieser Abwägung sei dem Angeklagten hier der Tod des Opfers trotz dessen Patientenverfügung und dem letztlich todesursächlichen Behandlungsabbruch zuzurechnen.

Zwar sei der Tod nicht auf die durch die Tat ausgelöste Gehirnblutung direkt zurückzuführen, sondern auf die Vorerkrankungen des Opfers in Kombination mit der Operation. Diese lege artis durchgeführte Behandlung und die mit ihr verbundenen Risiken seien jedoch bereits zum Zeitpunkt der Tat in der Konstitution des Raubopfers angelegt gewesen.

Auch der Abbruch der Weiterbehandlung aufgrund der Patientenverfügung vermöge den Risikozusammenhang nicht unterbrechen, so der BGH.

Generell setzte das Verzichten des Opfers auf ärztliche Hilfe kein neues Todesrisiko. Es wirke nur dem vom Täter gesetzten Risiko nicht entgegen. Dazu sei ein Gewaltopfer jedoch auch nicht verpflichtet, da es jedem Opfer aufgrund seines verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts frei bleibe selbstbestimmt zu entschieden, ob es ärztliche Hilfe in Anspruch nehme oder nicht. Dies gelte auch für eine Patientenverfügung, denn vor dem Hintergrund dieser verfassungsrechtlichen und gesetzgeberischen Wertung sei der Wille des Opfers einer Straftat, dem durch diese in Gang gesetzten tödlichen Verlauf nicht um jeden Preis durch lebenserhaltende Maßnahmen Einhalt zu gebieten, als eine aus der Schwere der Verletzung folgende und mit der Rechtsordnung in Einklang stehende Reaktion zu werten.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bei einem schweren ärztlichen Behandlungsfehler komme eine Unterbrechung des Gefahrzusammenhangs durchaus in Betracht, so der BGH: Beschl. v. 08.07.2008 – 3 StR 190/08

Dennoch müsse auch in dieser Konstellation eine sorgfältige Abwägung im Einzelfall erfolgen.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 80/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 23.09.2020 – 2 BvR 1810/19: Zur Ermessensausübung bei körperlichen Durchsuchungen im Strafvollzug

Leitsatz der Redaktion:

Bei einer körperlichen Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung im Strafvollzug genügt ein Formblatt mit Ankreuzmöglichkeiten nicht, um eine genügende Ermessenausübung durch die Strafvollzugsbeamten zu dokumentieren.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer hat sich gegen die Entscheidungen des LG Regensburg – Strafvollstreckungskammer und des Bayerischen Obersten Landesgerichts zum BVerfG gewendet.

Er war nach einem Familienbesuch in der Anstaltscafeteria unter vollständiger Entkleidung körperlich durchsucht worden. Die Durchsuchung war auf einem Formblatt mit Ankreuzmöglichkeiten von zwei männlichen Strafvollzugsbeamten protokolliert worden. Die Anstaltsleitung hatte zuvor die Durchsuchung jedes sechsten Gefangenen nach Besuchskontakten genehmigt, wobei die Maßnahme bei einer sehr fernliegenden Gefahr des Missbrauchs des Besuchsrechts unterbleiben solle.

Der Beschwerdeführer hatte daraufhin die gerichtliche Entscheidung über die Durchsuchungsanordnung beantragt, da sie ohne konkreten Anlass erfolgt und damit rechtswidrig gewesen sei.

Sowohl Land– als auch Oberstes Landesgericht hatten die Entscheidung der JVA bestätigt.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr statt.

Der angegriffene Beschluss des Landgerichts verletze den Beschwerdeführer in dem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht.

Die Durchsuchung unter vollständiger Entkleidung stelle einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Gefangenen dar.

Deshalb habe der Bayerische Landesgesetzgeber in Art. 91 BayStVollzG ein ausdifferenziertes Regelungskonzept für Durchsuchungen geschaffen.

Nach der Konzeption der Regelungen in Art. 91 Absatz 2 und Absatz 3 BayStVollzG sei es zwar von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn auf der Grundlage von Art. 91 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BayStVollzG mit Entkleidung verbundene Durchsuchungen – etwa im Wege der Stichprobe – auch für persönlich an sich unverdächtige Gefangene angeordnet werden, sofern Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, gefährliche Häftlinge könnten sonst die für sie angeordneten Kontrollen auf dem Umweg über von ihnen unter Druck gesetzte Mithäftlinge umgehen. Dabei dürfe aber nicht die in Art. 91 BayStVollzG vorgesehene Abstufung der Anordnungsbefugnisse unterlaufen werden. Eine Anordnung auf der Grundlage des Art. 91 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BayStVollzG dürfe daher jedenfalls nicht zur Durchsuchung aller oder fast aller Gefangenen vor jedem Besuchskontakt und damit zu einer Durchsuchungspraxis führen, die das Strafvollzugsgesetz aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich nur in den Konstellationen des Art. 91 Abs. 3 BayStVollzG erlaube.

Mit seiner Annahme, die Durchsuchungsanordnung sei sowohl auf Art. 91 Absatz 3 als auch auf Absatz 2 BayStVollzG zu stützen, habe das LG die abgestufte und ausdifferenzierte Regelung der Ermächtigungsgrundlagen im BayStVollzG verkannt.

Dies sei aber im Ergebnis nicht durchschlagend, da die Durchsuchung auch allein auf Art. 91 Abs. 3 BayStVollzG hätte gestützt werden können.

Allerdings habe das LG Bedeutung und Tragweite des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts dadurch verkannt, dass es angenommen habe, eine ausreichende Ermessensausübung durch die Justizbeamten ergebe sich ohne darüber hinausgehende Prüfung bereits aus dem bei der Durchsuchung ausgefüllten Formblatt.

Auf dem Formblatt habe sich lediglich ankreuzen lassen, ob die Gefahr des Missbrauchs des Besuchs nach den genannten Kriterien besonders fern gelegen habe oder nicht. Ein Feld zur Dokumentation konkreter Erwägungen oder eine sonstige Möglichkeit zur Begründung der Gefahr eines Missbrauchs des Besuchs durch den Gefangenen sei in dem verwandten Formblatt nicht vorgesehen gewesen. Daher habe das bloße Ankreuzen des vorgesehenen Feldes in dem konkret eingesetzten Formblatt nicht genügt, um bereits daraus auf eine sorgfältige Ermessensabwägung im Einzelfall zu schließen.

Zudem habe sich das LG nicht mit der Frage auseinander gesetzt, ob möglicherweise mildere Mittel zur Gefahrbeseitigung hätten eingesetzt werden können.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits im Jahr 2016 hatte das BVerfG entschieden, dass körperliche Durchsuchungen unter vollständiger Entkleidung auch stichprobenartig zulässig seien, solange in der Anordnung die Abweichungskompetenz des jeweiligen Beamten im Einzelfall vorgesehen sei. Die Entscheidung finden Sie hier.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 79/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 19.08.2020 – 5 StR 558/19: Zum ärztlichen Abrechnungsbetrug

Amtlicher Leitsatz:

Zum Abrechnungsbetrug im Fall eines medizinischen Versorgungszentrums bei unzulässiger Beteiligung eines Apothekers.

Sachverhalt:

Das LG Hamburg hat die Angeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betruges in 13 Fällen, die Angeklagten Z. und D. zusätzlich wegen Betruges in elf weiteren Fällen verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte F. als Alleingesellschafter ein medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) betrieben. Um das unternehmerische Risiko nicht allein schultern zu müssen, hatte er dem Apotheker Z. eine Beteiligung angeboten. Diese war dem Z. jedoch aufgrund des § 95 Abs. 1a SGB V nicht möglich gewesen, da er als Apotheker kein MVZ betreiben bzw. Anteile daran erwerben hatte dürfen.

Daraufhin hatte Z. den Plan gefasst, mithilfe eines sog. Strohmanns am MVZ beteiligt zu werden. Er hatte dem F. mehrere Darlehen gewährt und als Sicherheit die Übertragung der Gesellschafteranteile auf eine durch ihn zu bestimmende dritte Person vereinbart.

Nach Kündigung des Darlehns hatte Z. die Sicherheit in Anspruch genommen und den D. als neuen Mehrheitsgesellschafter eingesetzt. Dieser hatte als Arzt die Möglichkeit, ein MVZ zu betreiben und handelte von Z. gesteuert als dessen Strohmann.

Dem F. war dieser Plan bekannt gewesen.

Trotz Kenntnis davon, dass das MVZ aufgrund der faktischen Beherrschung durch den Z. nicht zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung berechtigt gewesen war und somit dessen Leistungen auch gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) nicht abrechnungsfähig gewesen waren, stellten die Angeklagten mehrere Quartalsabrechnungen und hatten sich die Beträge durch die KV auszahlen lassen.

Der Z. hatte zudem als Apotheker bei der Techniker Krankenkasse über eine Verrechnungsstelle mehrere in seiner Apotheke eingelöste Verordnungen abgerechnet, obwohl auch diese von den Ärzten des MVZ ausgestellten Rezepte nicht anrechenbar gewesen waren.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte weitestgehend die Verurteilung der Angeklagten durch das LG.

Das LG habe zu Recht eine konkludente Täuschung der Mitarbeiter der KV darin gesehen, dass die Angeklagten die Abrechnungen eingereicht hatten. Bei der Abrechnung von ärztlichen Leistungen sei es in der Rechtsprechung anerkannt, dass der Arzt aufgrund seiner Vertrauensstellung durch die vertragsärztliche Zulassung mit der Abrechnung konkludent zum Ausdruck bringe, die rechtlichen Voraussetzungen der Abrechenbarkeit seien eingehalten. Diese erhöhte Erwartungshaltung an ärztliche Abrechnungserklärungen lasse sich schon mit der Bestätigungspflicht aus § 45 Abs. 1 BMV-Ä rechtfertigen, die letztlich eine Garantiepflicht des Vertragsarztes begründe.

Auch die Einmalige Zulassung durch die Kassenärztliche Vereinigung lasse die Pflicht zur Prüfung der Voraussetzungen der Kassenzulassung bei jedem Abrechnungsvorgang nicht entfallen, da eine rechtswidrige Statusentscheidung der KV jederzeit zurücknehmbar sei, so der BGH.

Ebenfalls sei der Vermögensschaden zutreffend vom LG bejaht worden.

Die kassenärztlichen Vereinigungen seien als Körperschaften des öffentlichen Rechts in der Lage, Vermögen zu bilden. Die von den Krankenkassen überwiesenen Vergütungen seien ihnen als eigene zugewiesen was dazu führe, dass ihnen ein eigenes Guthaben entstanden sei. Die Gesamtvergütungen stellten keinen bloßen Durchlaufposten vor der Honorarverteilung an die Ärzte dar.

Da die Angestellten der KV auf eine tatsächlich nicht bestehende Verbindlichkeit an die Ärzte die Vergütungen geleistet hätten, sei der KV auch kein gleichwertiges Äquivalent zugeflossen, sodass ein Vermögensschaden nach der Gesamtsaldierung anzunehmen sei.

Auch der Gegenwert der ärztlichen Leistung könne nicht schadensmindernd in Abzug gebracht werden, da dieser bereits vor der betrugsrelevanten Abrechnung entstanden sei. Strafrechtlich bemakelt sei nicht die Art und Weise der ärztlichen Leistungserbringung, sondern lediglich deren Abrechnung unter Täuschung darüber, dass die sozialrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen vorlägen.

Auch etwaige ersparte Aufwendungen der KV durch die gleiche Behandlung bei einem anderen Arzt seien als hypothetische Annahmen bei der Schadensberechnung nicht relevant.

Auch die Wertungen des LG zum Betrug zu Lasten der Techniker Krankenkasse hielten der revisionsrechtlichen Prüfung stand.

Der BGH korrigierte im Wesentlichen lediglich die konkurrenzrechtliche Bewertung der Taten durch das LG sowie die Einziehungsentscheidung.

 

Anmerkung der Redaktion:

Zuletzt hatte der BGH 2017 entschieden, dass sog. Kick-Back-Zahlungen und Übermengenbestellungen durch ein MVZ den Betrugstatbestand erfüllen.  Die Entscheidung finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 78/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 01.09.2020 – 3 StR 275/20: Einordnung einer Schrift als kinderpornographisch ausschließlich nach objektiven Kriterien

Amtlicher Leitsatz:

Eine sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes gemäß § 184b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c StGB liegt vor, wenn die genannten Körperteile aus Sicht eines durchschnittlichen Betrachters in sexuell motivierter Weise im Blickfeld stehen. Hierfür sind die aus der Schrift (§ 11 Abs. 3 StGB) zu entnehmenden Umstände heranzuziehen; auf die daraus nicht ersichtlichen Beweggründe der die Wiedergabe erstellenden oder damit umgehenden Person kommt es nicht an.

Sachverhalt:

Das LG Duisburg hat den Angeklagten wegen Besitzverschaffung an einer kinderpornographischen Schrift verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte Bilder vom unbekleideten Gesäß eines fünf- bis neunjährigen Mädchens aus dem Internet auf sein Mobiltelefon geladen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH konnte in der Einordnung der Bilder als kinderpornographische Schriften durch das LG keine Rechtsfehler erkennen.

Sexuell aufreizend sei eine Wiedergabe, die eine sexuell konnotierte Fokussierung auf die näher bezeichneten unbekleideten Körperregionen eines Kindes enthalte. Demnach müsse die Abbildung des Körperteils über eine neutrale Darstellung, wie beispielsweise bei unverfänglichen Urlaubsfotos sowie medizinischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Abbildungen, hinausgehen.

Für diese Abgrenzung seien jedoch ausschließlich die sich aus der Schrift ergebenden Umstände relevant. Auf die Intention der die Wiedergabe erstellenden oder damit umgehenden Person komme es gerade nicht an.

Dafür spreche zum einen der Wortlaut, der als Bezugsobjekt auf die „sexuell aufreizende Wiedergabe“ abstelle und gerade nicht auf davon losgelöste Umstände.

Auch systematische Erwägungen stützten dieses Ergebnis, so der BGH, da ansonsten ein und dieselbe Schrift je nach Intention des Erstellers bzw. Besitzers mal als kinderpornographisch einzuordnen sei und mal nicht. Eine solche subjektivierte Betrachtungsweise eines objektiven Tatbestandsmerkmals sei im Gesetz nicht angelegt.

Gleiches fordere auch die Historie und der Zweck des Gesetzes.

Anmerkung der Redaktion:

Der Wortlaut des § 184b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c StGB war im Januar 2015 durch das Neunundvierzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches eingefügt worden, um europäische Vorgaben zum Sexualstrafrecht umzusetzen.

Näheres zum Gesetz und der Richtlinie finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 77/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 01.09.2020 – 1 StR 58/19: Beginn der Verjährungsfrist des Vorenthaltens oder Veruntreuens von Arbeitsentgelt

Amtlicher Leitsatz:

Die Verjährung jeder Tat des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt gemäß § 266a Abs. 1 StGB beginnt mit dem Verstreichen des Fälligkeitszeitpunktes für jeden Beitragsmonat nach § 23 Abs. 1 SGB IV.

Sachverhalt:

Das LG Kiel hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt und wegen Steuerhinterziehung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte als Bauunternehmer Arbeiter beschäftigt ohne sie der zuständigen Einzugsstelle der Sozialversicherung anzumelden.

Daneben hatte er auch Beiträge zur berufsgenossenschaftlichen Unfallversicherung nicht abgeführt und gegenüber dem Finanzamt Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag verkürzt.

In einigen Fällen der Urteilsgründe hatte der Fälligkeitszeitpunkt für die Zahlungen der Sozialversicherungsbeiträge zwischen dem 29. Januar 2007 und dem 29. Mai 2008 gelegen. Die unvollständige Meldung an die Berufsgenossenschaft war am 6. Februar 2008 erfolgt und die unrichtigen Steuererklärungen hatte der Angeklagte zwischen dem 5. April 2007 und dem 9. April 2008 gegenüber dem Finanzamt abgegeben. 

Die Strafverfolgungsverjährung war durch einen Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Kiel vom 25. Januar 2012 im Hinblick auf sämtliche Taten unterbrochen worden. Die Anklage war am 28. Oktober 2016 beim Landgericht eingegangen und das Hauptverfahren mit Beschluss vom 30. Mai 2018 eröffnet worden.

Entscheidung des BGH:

In allen oben aufgeführten Fällen stellte der BGH das Verfahren gem. § 206a Abs. 1 StPO ein, da Verfolgungsverjährung eingetreten sei.

In den Fällen der Steuerhinterziehung sei es der Zeitpunkt der Abgabe einer unrichtigen Steuererklärung, der gleichzeitig zur sofortigen Tatvoll- und -beendigung führe.

Daher seien die Taten zwischen dem 5. April 2007 und dem 9. April 2008 beendet gewesen und die Verjährungsfrist habe 5 Jahre betragen. Der Ablauf dieser Frist sei durch den Durchsuchungsbeschluss am 25. Januar 2012 und die Anklageerhebung am 28. Oktober 2016 unterbrochen worden. Die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung war allerdings erst am 30. Mai 2018 erfolgt. Aus diesem Grund sei bei allen Taten bereits die absolute Verjährung eingetreten, § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB. Damit sei ein Ruhen der Verjährung durch den Eröffnungsbeschluss gem. § 78b Abs. 4 StGB nicht mehr möglich gewesen. Gleiches gelte für das Urteil vom 29. August 2018 nach § 78b ABs. 3 StGB.

Auch in den übrigen Fällen des Vorenthaltens und Verkürzens von Arbeitsentgelt und Beiträgen zur berufsgenossenschaftlichen Unfallversicherung sei Verfolgungsverjährung eingetreten.

Unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung ging der Senat davon aus, dass die Verjährungsfrist bei Taten nach § 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB schon mit dem Verstreichenlassen des Fälligkeitszeitpunktes nach § 23 Abs. 1 SGB IV für jeden Beitragsmonat zu laufen beginne.

Bei echten Unterlassungsdelikten wie den hier in Rede stehenden §§ 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB liege der für den Beginn der Verjährungsfrist maßgebliche Zeitpunkt der Tatbeendigung dann vor, wenn die Pflicht zum Handeln entfalle, also die Strafbarkeit des Täterverhaltens ende.

Dies beurteile sich nach der Auslegung des jeweiligen Tatbestandes. 

Mit dem Verstreichenlassen der Zahlungsfrist für die Beiträge zur Sozialversicherung seien Taten nach § 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB daher vollendet und nach seiner jetzigen Rechtsprechung auch beendet, so der BGH.

Auf das Entfallen der Beitragspflicht soll demnach in Zukunft nicht mehr abgestellt werden.

Dieses Ergebnis begründet der Senat damit, dass im Zeitpunkt der nicht pünktlichen Zahlung die Rechtsgutsverletzung bereits irreversibel eingetreten sei und durch weitere Passivität auch nicht vertieft werden könne.

Daher gebe es keine Strafbewehrung des weiteren Unterlassens nach Vollendung des Tatbestands, auch nicht mit der Begründung einer Erhöhung des Verspätungsschadens. Da somit in diesem Zeitpunkt auch die strafbewehrte Pflicht zur Beitragsentrichtung entfalle, sei die Tat gleichzeitig beendet.

Die sozialversicherungsrechtlich weiterhin bestehende Pflicht zur Beitragszahlung sei davon unabhängig und stehe somit einer früheren Tatbeendigung auch nicht entgegen.

Diese Auslegung ermögliche zudem einen weitestgehenden Gleichlauf der Verjährungsfristen der §§ 266a Abs. 2 StGB und 370 Abs. 1 AO.

Gegen die vorherige Rechtsprechung spreche nach Ansicht des BGH zudem, dass der Anspruch auf Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge erst nach 30 Jahren verjähre, was dann zu einer möglichen Gesamtverjährungsfrist von über 35 Jahren führen könnte. Dies sei im Hinblick auf den Unrechtsgehalt des Delikts nicht angemessen.

Daneben führe die vorherige Rechtsprechung zu einer Benachteiligung von Einzelunternehmen, da § 266a StGB als Sonderdelikt nur vom Arbeitgeber erfüllt werden könne. Für dessen Kenntnis werde bei juristischen Personen als Arbeitgeber auf die vertretungsberechtigten Organe bzw. deren Mitglieder oder Gesellschafter abgestellt. Mit dem Ausscheiden dieser aus dem Unternehmen könne somit ein Beginn der Verjährungsfrist herbeigeführt werden, was dem Einzelunternehmer nicht möglich sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

Der erste Strafsenat hatte bei den anderen Senaten angefragt, ob an etwaiger entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten werde.

Diese hatten sich unter Aufgabe etwa entgegenstehender Rechtsprechung angeschlossen (Beschluss vom 15. Juli 2020 – 2 ARs 9/20; Beschluss vom 2. Juli 2020 – 4 ARs 1/20; Beschluss vom 6. Februar 2020 – 5 ARs 1/20). 

Den KriPoZ-RR Beitrag zum Anfragebeschluss finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 76/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 29.07.2020 – 4 StR 49/20: Selbstaufnahmen des Tatopfers können § 201a Abs. 1 Nr. 4 unterfallen

Amtlicher Leitsatz:

Selbstaufnahmen des Tatopfers können Gegenstand der unbefugten Weitergabe im Sinne des § 201a Abs. 1 Nr. 4 StGB sein.

Sachverhalt:

Das LG Paderborn hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes, sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Sichverschaffen einer kinderpornographischen Schrift in elf Fällen, davon in acht Fällen in Tateinheit mit Nötigung, Sichverschaffens einer kinderpornographischen Schrift in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Nötigung, versuchter Nötigung in fünf Fällen, Nötigung in Tateinheit mit Sichverschaffen einer jugendpornographischen Schrift in fünf Fällen sowie Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen in fünf Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit öffentlichem Zugänglichmachen einer jugendpornographischen Schrift und in einem Fall in Tateinheit mit Drittbesitzverschaffung an einer jugendpornographischen Schrift zu einer Jugendstrafe verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte von den Opfern selbst aufgenommene Bilder, die ihm befugtermaßen überlassen worden sind, unbefugterweise an Dritte weitergeleitet.

Dies hat das LG als Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen nach § 201a Abs. 1 Nr. 4 StGB gewertet.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Verurteilung. Der Wortlaut der Norm erfordere nicht, dass sämtliche Voraussetzungen der in Bezug genommenen Nummern erfüllt sein müssten.

Vielmehr beschränke sich die Bezugnahme auf die Art der Bildaufnahme als Tatobjekt und nicht auf den Akt ihrer Herstellung. Ebenfalls spreche die Systematik der Norm gegen eine einschränkende Auslegung, da die Nr. 3 des Tatbestands explizit auf eine „durch eine Tat nach den Nummern 1 oder 2 hergestellte Bildaufnahme“ abstellt. Dies mache die Nr. 4 des § 201a Abs. 1 StGB gerade nicht.

Eine Erfassung von Selbstaufnahmen entspreche auch Sinn und Zweck der Vorschrift, da der wesentliche Unrechtsgehalt bei dieser Variante nicht im Herstellen der Aufnahmen, sondern in deren unbefugter Verbreitung liege. Dieser Vertrauensmissbrauch schädige das Rechtsgut nämlich unabhängig davon, wer ursprünglich Hersteller der Aufnahmen war, so der BGH.

Auch die Gesetzesmaterialien ließen keinen Schluss auf eine Einschränkung der Norm erkennen. Im Gegenteil habe der Gesetzgeber 2015 den Anwendungsbereich der Norm durch das 49. Strafrechtsänderungsgesetz sogar ausweiten wollen. Daher sei eine Herausnahme von selbst hergestellten Bildern aus dem Schutzbereich der Norm im Ergebnis nicht begründbar.

 

Anmerkung der Redaktion:

Durch das 49. StrafÄndG ist § 201a StGB neu gefasst worden. Das Gesetz finden Sie hier.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 75/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 30.06.2020: 3 StR 377/18: § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG beim Versuch und Verzicht auf Verwertungsverbot des § 252 StPO

Amtliche Leitsätze:

  1. Die Anwendung des Strafrahmens gemäß § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG ist auch möglich, wenn der Mord nicht vollendet, sondern nur versucht ist.

  2. Zum (Teil-)Verzicht eines Zeugen auf das Verwertungsverbot des § 252 StPO.

Sachverhalt:

Das LG Lüneburg hat die Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt über Kriegswaffen verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatten die Angeklagten geplant den Nebenkläger zu töten, weil dieser eine Beziehung mit der Schwester des einen Angeklagten führt, was die beiden als Kränkung der Familienehre empfunden hatten.

Sie hatten das Opfer daraufhin vor die Tür gelockt, wo sie ihm mit einer Maschinenpistole in die Brust geschossen hatten, was der Nebenkläger jedoch letztlich überlebt hatte. Nur aufgrund von Ladehemmungen, konnten die Angeklagten ihren Plan nicht bis zum Ende ausführen.

Im Anschluss daran hatte der Nebenkläger im Krankenhaus gegenüber der Polizei und später dem Ermittlungsrichter eine Aussage getätigt. Nach der Heirat mit der Schwester des Angeklagten hatte er sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO berufen, jedoch die Verwertung seiner richterlichen Vernehmung gestattet, nicht aber die der polizeilichen Vernehmung. Das LG hat dennoch den Beweisantrag bezüglich der polizeilichen Vernehmung abgelehnt, da der Verzicht auf das Verwertungsverbot des § 252 StPO nicht die polizeiliche Vernehmung umfasse.

Entscheidung des BGH:

Diese Entscheidung bestätigte der BGH. Es sei unzulässig gewesen, die polizeiliche Vernehmung in den Prozess einzuführen, da sich der Nebenkläger wirksam auf sein Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 52 StPO berufen habe und daher der Polizeibeamte nicht im Prozess vernommen werden durfte. § 252 StPO garantiere nicht nur einen Verzicht auf die Verlesung des Protokolls der Vernehmung, sondern auch auf eine Vernehmung der Verhörsperson im Prozess. Eine Entscheidung über die Möglichkeit eines (Teil-)Verzichts auf das Verwertungsverbot sei hier nicht geboten gewesen, da sich bei einer etwaigen Unwirksamkeit ein umfassendes Verwertungsverbot bezüglich der polizeilichen Vernehmung ergeben hätte. Dies ergebe sich daraus, dass der Zeuge nicht in Kenntnis der Reichweite seiner Entscheidung auf das Verwertungsverbot verzichtet habe. Im Gegenteil wollte er gerade von diesem Recht Gebrauch machen und keinen Zugriff auf alle früheren Aussagen zulassen. Sollte nun ein Teilverzicht rechtlich als unzulässig anzusehen sein, könne dieser Irrtum dem Zeugen nicht angelastet werden und im Zweifelsfall sei seine gesamte Aussage unverwertbar, so der BGH. Da das LG hier von einer Unverwertbarkeit der polizeilichen Vernehmung ausgegangen sei und die Verwertung der richterlichen Vernehmung nicht gerügt worden sei, müsse diese Streitfrage aber letztlich nicht entschieden werden.

Im Weiteren führte der BGH aus, dass die Anwendung des Strafrahmens des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG für den heranwachsenden Angeklagten nicht auf Bedenken stoße. Es entspreche der Regelungstechnik, dass ein Verweis auf eine Strafnorm auch ihren strafbaren Versuch und etwaige weitere Erscheinungsformen erfasse. Beispielsweise gelte die Zuweisung von Verbrechen des Mordes an das Schwurgericht gem. § 74 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG auch für versuchte Morde.

Aus der Gesetzesbegründung ergebe sich nichts Anderes, sodass auch versuchte Mordstraftaten genauso schwer wiegen können, wie ein vollendeter Mord. Daher sei die Anwendung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG unproblematisch möglich gewesen.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 74/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 01.09.2020 – 3 StR 214/20: Nebenkläger können Freispruch erstreben

Amtlicher Leitsatz:

Die Befugnis, sich der erhobenen öffentlichen Klage mit der Nebenklage anzuschließen, entfällt nicht dadurch, dass der Nebenkläger in der Hauptverhandlung die Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) oder die strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 3 JGG) des Angeklagten in Zweifel ziehende Anträge stellt und letztlich dessen Freispruch erstrebt.

Sachverhalt:

Am LG Koblenz ist ein Strafverfahren gegen den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil seiner Pflegeeltern geführt worden.

Diese hatten sich als Nebenkläger dem Verfahren angeschlossen, was das LG als zulässig angesehen hatte. Nachdem die Nebenkläger daraufhin im Hauptverfahren mehrere Anträge gestellt hatten, die die Schuldfähigkeit oder die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten in Frage gestellt hatten, um dessen Freispruch zu erreichen, hatte das LG die Zulassung als Nebenkläger aufgehoben, da es in so einem Fall an einer Anschlussbefugnis nach § 395 Abs. 1 bis 3 StPO fehle. Hiergegen wendeten sich die Nebenkläger zum BGH, da ihnen das Urteil und die Revisionsschrift des Angeklagten nicht zugestellt worden war und der BGH so nicht über die Revision entscheiden könne.

Entscheidung des BGH:

Der BGH entschied, dass die Aufhebung der Zulassung als Nebenkläger rechtswidrig gewesen sei und das Urteil sowie die Revisionsschrift den Nebenklägern zugestellt werden müsse.

Die Anschlussberechtigung der Pflegeeltern habe weiter fortbestanden und ergebe sich aus § 80 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 JGG.

Sowohl der § 80 JGG als auch § 395 StPO fordern lediglich, die Verletzung des Nebenklägers durch die verfahrensgegenständliche rechtswidrige Tat des Angeklagten.

Weder der Wortlaut der Normen noch deren systematischer Zusammenhang forderten darüber hinaus ein bestimmtes vom Nebenkläger zu verfolgendes Ziel oder ein bestimmtes Prozessverhalten.

Dies ergebe sich schon daraus, dass § 400 StPO die Rechte der Nebenkläger nur für konkrete Sonderfälle beschränke und keinen Rückschluss auf eine allgemeine Beschränkung der Nebenklagebefugnis zulasse. Es müsse zwischen Zulassung zur Nebenklage und zulässiger Einlegung eines Rechtsmittels durch die Nebenkläger unterschieden werden, was nicht heißte, dass pauschal jedes Rechtsmittel der Nebenkläger zugunsten des Angeklagten unzulässig sei. Beispielsweise könne der Nebenkläger eine Unterbringung nach § 63 StGB erreichen wollen.

Auch dass der Nebenkläger sich der Klage „anschließe“ bedeute aufgrund seiner eigenen prozessualen Rechte nicht, dass er auch das Ziel der Anklage teilen müsse. Vielmehr sollten ihm seine Rechte ermöglichen, auf eine sachgerechte Aufklärung der Tat durch das Gericht hinzuwirken. Wie er dies zu tun gedenke, sei seine eigene Entscheidung. Dies sei auch Ziel der Gesetzesnovelle durch das Opferschutzgesetz vom 18. Dezember 1986 gewesen, das die Vorstellung einer doppelt besetzten Anklagerolle explizit aufgegeben habe.

 

Anmerkung der Redaktion:

So hatte auch schon der 4. Strafsenat entschieden: BGH, Beschl. v. 12.07.1990 – 4 StR 247/90.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 73/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 01.09.2020 – 3 StR 469/19: Strafrahmenwahl bei § 30a Abs. 3 BtMG und § 29a Abs. 1 BtMG

Amtlicher Leitsatz:

Der Senat schließt sich der Rechtsprechung an, wonach ausschließlich die Strafrahmenuntergrenze des § 29a Abs. 1 BtMG eine Sperrwirkung entfaltet, die Strafrahmenobergrenze jedoch dem § 30a Abs. 3 BtMG zu entnehmen ist, wenn zwar ein minder schwerer Fall gemäß § 30a Abs. 3 BtMG, nicht aber ein solcher gemäß § 29a Abs. 1 BtMG vorliegt; an seiner abweichenden Auffassung hält er nicht mehr fest (Aufgabe BGH, Beschlüsse vom 25. Juli 2013 – 3 StR 143/13; vom 3. Februar 2015 – 3 StR 632/14; Urteil vom 7. September 2017 – 3 StR 278/17).

Sachverhalt:

Das LG Hannover hat den Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von Patronenmunition verurteilt, wobei es die Strafe dem Strafrahmen von einem Jahr bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe entnommen hat. Einen minder schweren Fall nach § 30a Abs. 3 BtMG hat es bejaht, einen nach § 29a Abs. 2 BtMG jedoch verneint.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob den Strafausspruch auf, da das LG von einer Sperrwirkung sowohl der Strafrahmenober- als auch der Strafrahmenuntergrenze des § 29a Abs. 1 BtMG ausgegangen sei.

Dies entspreche auch durchaus der früheren Rechtsprechung des Senats, an der dieser jedoch nicht mehr festhalten wolle. Er schließe sich nunmehr den anderen Senaten an, die von einer Sperrwirkung lediglich der Strafrahmenuntergrenze des § 29a Abs. 1 BtMG ausgingen und die Strafrahmenobergrenze dem § 30a Abs. 3 BtMG entnähmen, wenn nach diesem ein minder schwerer Fall vorliege, aber nach § 29a Abs. 1 BtMG gerade nicht.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bereits 2013 hatte der 2. Strafsenat nach dieser Maßgabe entschieden (BGH, Beschl. v. 14.08.2013 – 2 StR 143/13). Die anderen Senate waren dieser Auffassung gefolgt (BGH, Beschl. v. 07.11.2017 – 1 StR 515/17; Beschl. v. 26.09.2019 – 4 StR 133/19; Urt. v. 12.02.2015 – 5 StR 536/14). Mit seiner Entscheidung schließt sich der 3. Strafsenat nun dieser gemeinsamen Linie an.

 

 

 

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