KriPoZ-RR, Beitrag 11/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 27.01.2021 – StB 44/20: Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht bei Berufsgeheimnisträgern (Wirecard-Untersuchungsausschuss)

Amtliche Leitsätze:

1. Grundsätzlich sind diejenigen Personen dazu befugt, einen Berufsgeheimnisträger von seiner Verschwiegenheitspflicht zu entbinden, die zu jenem in einer geschützten Vertrauensbeziehung stehen. Hierunter fallen im Rahmen eines Mandatsverhältnisses mit einem Wirtschaftsprüfer regelmäßig nur der oder die Auftraggeber.

2. Für eine juristische Person können diejenigen die Entbindungserklärung abgeben, die zu ihrer Vertretung zum Zeitpunkt der Zeugenaussage berufen sind.

3. Ist über das Vermögen der juristischen Person das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt worden, ist dieser berechtigt, soweit das Vertrauensverhältnis Angelegenheiten der Insolvenzmasse betrifft.

Sachverhalt:

Der zur Untersuchung der Geschehnisse im sog. Wirecard-Skandal eingesetzte Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages (Wirecard-Untersuchungsausschuss) verhängte gegen den Antragsteller, den als Zeugen geladenen Wirtschaftsprüfer der Wirecard AG, ein Ordnungsgeld in Höhe von 1000€.

Die Entscheidung begründete der Untersuchungsausschuss damit, dass der Antragsteller sich unberechtigter Weise auf sein Zeugnisverweigerungsrecht aus § 22 Abs. 1 PUAG i.V.m. § 53 StPO berufen hätte.

Er war vom Insolvenzverwalter der Wirecard AG und deren aktuellen Vorstand sowie Aufsichtsrat von seiner Schweigepflicht entbunden worden, war allerdings davon ausgegangen, dass für eine wirksame Entbindung von der Schweigepflicht bei einer juristischen Person auch eine entsprechende Erklärung der ehemaligen Organe vorliegen müsse.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob den Ordnungsgeldbeschluss auf, da zwar eine wirksame Entbindung von der Schweigepflicht vorgelegen und der Antragsteller sein Zeugnis daher unberechtigt verweigert habe, jedoch habe es an schuldhaftem Handeln seinerseits gefehlt.

Die mangels vorangegangener gerichtlicher Entscheidung als Antrag auf gerichtliche Entscheidung auszulegende Beschwerde des Antragstellers sei zulässig, da der BGH gemäß § 36 Abs. 1 PUAG für Rechtsstreitigkeiten unter Beteiligung eines Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages zuständig sei, wenn eine Zuständigkeit des BVerfG nicht gegeben sei.

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung sei auch begründet.

Zwar habe der Antragsteller sein Zeugnis ohne gesetzlichen Grund gemäß § 27 Abs. 1 PUAG verweigert. Eine wirksame Entbindung von der Schweigepflicht als Wirtschaftsprüfer habe vorgelegen. Dazu führte der Senat aus, dass grundsätzlich die Personen einen Wirtschaftsprüfer von seiner Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbinden können, die in einer geschützten Vertrauensbeziehung zu diesem stünden, also regelmäßig der Auftraggeber.

Handele es sich bei dem Auftraggeber um eine juristische Person, falle diese Kompetenz den vertretungsberechtigten Personen im Zeitpunkt der Zeugenaussage zu. Der Insolvenzverwalter sei ebenfalls berechtigt, die Entbindungserklärung abzugeben, soweit das Vertrauensverhältnis Angelegenheiten der Insolvenzmasse betreffe.

Seine Entscheidung begründete der BGH damit, dass eine explizite Regelung zu der Frage, wer eine Entpflichtungserklärung abgeben dürfe, nicht bestehe. Allerdings gebiete es der Sinn und Zweck der Verschwiegenheitsverpflichtung, dass nur derjenige eine Befreiung erteilen könne, gegenüber dem die Verpflichtung bestehe und der von ihr geschützt werden solle.

Dafür sei auf die jeweiligen berufsrechtlichen Regelungen abzustellen. Bei Wirtschaftsprüfern schütze die allgemeine berufsrechtliche Pflicht zur Verschwiegenheit aus § 43 Abs. 1 Satz 1 WPO regelmäßig nur den Auftraggeber, was diesem auch das Recht verschaffe, über die Entpflichtung zu entscheiden.

Ist der Auftraggeber eine juristische Person und sind innerhalb des berufsbezogenen Vertrauensverhältnisses natürliche Personen tätig geworden, bedürfe es deren Entbindungserklärung grundsätzlich nicht, so der BGH. Diesen Personen gegenüber schulde der Wirtschaftsprüfer kein besonderes Vertrauen allein aus dem Umstand, dass sie für die juristische Person handelten.

Der Antragsteller hätte somit das Zeugnis nicht aufgrund seiner Verschwiegenheitspflicht verweigern dürfen, er habe jedoch ohne Schuld gehandelt, da es nach gewissenhafter juristischer Prüfung bisher keine abschließende Antwort auf die oben angesprochenen Rechtsfragen gegeben habe. Damit habe er sich bei Verweigerung der Aussage in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden und könne somit nicht mit einem Ordnungsgeld belegt werden.

 

Anmerkung der Redaktion:

Der sog. Wirecard-Skandal hatte zu einer erheblichen kriminalpolitischen Diskussion und letztlich zu Reformbestrebungen hinsichtlich der Finanzaufsicht geführt. Die Bundesregierung hat daraufhin das Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität beschlossen.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 10/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 27.01.2021 – 6 StR 399/20: Verfahrensrüge bei Divergenz zwischen Hauptverhandlungsprotokoll und Urteilsurkunde ist erforderlich (a.A.: 1. Senat)

Leitsatz der Redaktion:

Weicht das verkündete Urteil laut Hauptverhandlungsprotokoll von der späteren schriftlichen Urteilsurkunde ab, stellt dies einen Rechtsfehler dar, der mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden muss und nicht von Amts wegen zu prüfen ist.

Sachverhalt:

Das LG Lüneburg hat den Angeklagten wegen Diebstahls in drei Fällen und leichtfertiger Geldwäsche in zwei Fällen nach der Sitzungsniederschrift zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.

In der schriftlichen Urteilsurkunde wird allerdings eine Verurteilung wegen Diebstahls in drei Fällen und Geldwäsche in zwei Fällen aufgeführt.

Entscheidung des BGH:

Der 6. Senat sprach sich, wie auch der 3. und der 5., für eine Erforderlichkeit der Verfahrensrüge aus.

Der Ansicht des 1. Senats, der eine solche Divergenz als einen von Amts wegen zu prüfenden Umstand ansieht, vermochte er nicht zu folgen.

Daher stellte der Senat den Schuldspruch dahingehend klar, dass eine Verurteilung wegen Diebstahls in drei Fällen und leichtfertiger Geldwäsche in zwei Fällen erfolgt ist und verweis die Sache zur erneuten Verhandlung über die Strafzumessung zurück an das LG.

 

Anmerkung der Redaktion:

Den KriPoZ-RR Beitrag zum Urteil des 1. Senats finden Sie hier: KriPoZ-RR, Beitrag 20/2020.

 

 

 

Gesetz zur Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes gegen sogenannte Feindeslisten

Gesetz zur Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes gegen sogenannte Feindeslisten, Strafbarkeit der Verbreitung und des Besitzes von Anleitungen zu sexuellem Missbrauch von Kindern und Verbesserung der Bekämpfung verhetzender Inhalte sowie Bekämpfung von Propagandamitteln und Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen: BGBl. I 2021, S. 4250 ff. 

 

Gesetzentwürfe:

 

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat einen Gesetzentwurf vorgestellt, mit dem es unter Zuhilfenahme des Strafrechts sog. Feindeslisten bekämpfen möchte. Unter Feindeslisten seien Sammlungen von Daten, vor allem Adressdaten, aber auch Informationen über persönliche Umstände oder Fotos, von Personen zu verstehen, die – vorwiegend im Internet – veröffentlicht und zum Teil mit ausdrücklichen oder subtilen Drohungen oder Hinweisen verbunden werden, wie beispielsweise, die Person könne „ja mal Besuch bekommen“ oder „gegen so jemanden müsse man mal etwas unternehmen“.

Um die einschüchternde Wirkung einer Nennung auf solchen Listen zu bekämpfen und den betroffenen Personen das Ausleben ihrer Meinungsfreiheit zu ermöglichen, soll mit § 126a StGB-E ein neuer Straftatbestand geschaffen werden. Geschütztes Rechtsgut soll der öffentliche Friede sein.

§ 126a StGB-E soll folgenden Wortlaut bekommen:

§ 126a – Gefährdende Veröffentlichung personenbezogener Daten

(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) personenbezogene Daten einer anderen Person in einer Art und Weise verbreitet, die geeignet ist, diese Person oder eine ihr nahestehende Person der Gefahr eines gegen sie gerichteten Verbrechens oder einer sonstigen rechtswidrigen Tat gegen die sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder gegen eine Sache von bedeutendem Wert auszusetzen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Handelt es sich um nicht allgemein zugängliche Daten, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.“

 

Daneben sieht der Entwurf die Berichtigung zweier redaktioneller Fehler in § 201a Abs. 4 StGB vor.

Am 17. März hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes gegen sogenannte Feindeslisten beschlossen. Die ersten Stellungnahmen finden Sie hier. 

Am 21. April 2021 hat die Fraktion der FDP ebenfalls einen Gesetzentwurf zu den „Feindeslisten“ vorgelegt (BT Drs. 19/28777). Sie will § 42 BDSG in das StGB überführen, um einen verbesserten strafrechtlichen Schutz von persönlichen Daten zu erreichen. Dabei soll der Straftatbestand von einem absoluten zu einem relativen Antragsdelikt werden. 

Der Bundesrat beschäftigte sich am 7. Mai 2021 mir dem Regierungsentwurf und fordert in seiner Stellungnahme Änderungen. So müsse eine genaue Formulierung für § 126a StGB-E gefunden werden. Der Tatbestand sei so zu präzisieren, dass die Verbreitung in der Art vorgenommen wird, dass sie dazu geeignet und bestimmt ist, die betroffene Person oder ihr nahestehende Personen in Gefahr zu bringen, Opfer einer Straftat zu werden. Dabei soll der Wille des Täters die möglichen Folgen der Tat umfassen, um den Tatbestand nicht ausufern zu lassen. Die Stellungnahme wird nun der Bundesregierung zwecks Gegenäußerung zugeleitet. 

Am 12. Mai 2021 beschloss die Bundesregierung einen Formulierungshilfe zur „Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes gegen sogenannte Feindeslisten, Strafbarkeit der Verbreitung und des Besitzes von Anleitungen zu sexuellem Missbrauch von Kindern und Verbesserung der Bekämpfung verhetzender Inhalte.“ Dort werden nun drei Initiativen in einem Entwurf zusammengefasst. Neben dem bereits inhaltsgleichen 126a StGB-E soll ein § 176e StGB – Verbreitung und Besitz von Anleitungen zu sexuellem Missbrauch von Kindern und ein § 192a StGB – Verhetzende Beleidigung in das StGB eingefügt werden. 

Am 19. Mai 2021 fand im Ausschuss für Recht- und Verbraucherschutz zum Regierungsentwurf und zum Entwurf der FDP Fraktion eine öffentliche Anhörung statt. Eine Liste der Sachverständigen und deren Stellungnahmen finden Sie hier. Die Experten beurteilten den Gesetzentwurf unterschiedlich. Dr. Sebastian Golla erschien es nicht sinnvoll, das bestehende Risiko der Beeinträchtigung von politischen Diskursen und der Meinungsbildung mit einem Straftatbestand zu bekämpfen, der auf den Schutz des öffentlichen Friedens gerichtet ist. Er sprach sich dafür aus, das Datenschutzstrafrecht in das StGB zu integrieren. Dem stimmten auch Kai Lohse, Dr. Eren Basar und Prof. Dr. Jörg Eisele zu. § 126a StGB-E sei vom Tatbestand her nicht hinreichend genug eingegrenzt. Er erfasse vom Wortlaut jede Verbreitung von personenbezogene Daten und nicht nur Listen. Lohse betonte, dass es im Hinblick auf die Meinungsäußerungsfreiheit klare Vorgaben zur Auslegung geben müsse. Basar wies darauf hin, dass es dem Straftatbestand schon an einem die Strafbarkeit legitimierenden Rechtsgut fehle. Alexander Hoffmann sah in dem Entwurf reine Symbolpolitik. Der Straftatbestand sei nicht dazu geeignet vor rechten, rassistischen oder antisemitischen Angriffen zu schützen und greife zudem in die Meinungs- und Pressefreiheit ein. Der Entwurf werde daher nicht gebraucht. Gleicher Meinung war auch Alexander Hannig, allerdings aus dem Grund, dass es weder strafrechtlich überprüfbar, noch der Öffentlichkeit zu vermitteln sei, wo die strafbare Grenze von erlaubtem und verbotenem Veröffentlichen von personenbezogenen Daten sei. Bianca Klose stellte die Frage, ob es nicht vorzugswürdig wäre, zunächst die bestehenden Möglichkeiten besser auszuschöpfen, bevor ein neuer Straftatbestand geschaffen werde. 

Für den Regierungsentwurf sprachen sich Dr. Sybille Wuttke und Prof. Dr. Michael Kubiciel aus. Er erläuterte in seiner Stellungnahme, dass das vorgesehene Verbot der gefährdenden Verbreitung von personenbezogenen Daten verfassungskonform und zudem auch kriminalpolitisch angemessen sei. Das Datenschutzstrafrecht alleine sei nicht ausreichend, um dem Schutz der freien Entfaltung der Person zu dienen und Einschüchterungseffekten entgegenzuwirken. Wuttke berichtete, dass mit der derzeitigen Rechtslage nur ein kleiner Teil der relevanten Fälle überhaupt strafrechtlich verfolgbar seien. Meist könnten schon keine Ermittlungen eingeleitet werden. Daher stimme sie dem Entwurf uneingeschränkt zu und sprach sich gegen die Lösung der Fraktion der FDP aus, das Datenschutzstrafrecht in das StGB zu überführen. 

Auf die kurzfristige Änderung der Formulierungshilfe der Bundesregierung gingen nicht alle Experten ein. Lediglich Prof. Dr. Jörg Eisele und Prof. Dr. Michael Kubiciel erhoben keine Einwände gegen die Einführung der Straftatbestände §§ 176e und 192a StGB-E. 

Am 24. Juni 2021 nahm der Bundestag den Regierungsentwurf in der Fassung des Rechtsausschusses (BT Drs. 19/30943) mit den Stimmen der Fraktionen CSU/CSU und SPD an. Die übrigen Fraktionen stimmten dagegen. Der von der FDP vorgelegte Entschließungsantrag (BT Drs. 19/30992) wurde abgelehnt. Die Fassung des Rechtsausschusses enthält neben der Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes gegen Feindeslisten auch die Einführung eines § 176e StGB, der das Verbreiten und das der Öffentlichkeit Zugänglichmachen sowie das Abrufen, den Besitz, die Besitzverschaffung und das einer anderen Person Zugänglichmachen von Anleitungen zu sexuellem Missbrauch von Kindern unter Strafe stellt sowie die Einführung eines § 192a StGB – Verhetzende Beleidigung. 

Der Gesetzentwurf der FDP (BT Drs. 19/28777) zur Überführung des § 42 BDSG in das StGB wurde mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und AfD abgelehnt. 

Am 25. Juni 2021 passierte der Regierungsentwurf zur Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes gegen Feindeslisten bereits den Bundesrat. Das Gesetz wird nun dem Bundespräsidenten zur Unterschrift vorgelegt. 

Das Gesetz zur Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes gegen sogenannte Feindeslisten, Strafbarkeit der Verbreitung und des Besitzes von Anleitungen zu sexuellem Missbrauch von Kindern und Verbesserung der Bekämpfung verhetzender Inhalte sowie Bekämpfung von Propagandamitteln und Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (BGBl. I 2021, S. 4250 ff.) wurde am 21. September im Bundesgesetzblatt verkündet. Es tritt am Tag nach seiner Verkündung in Kraft. 

 

 

Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Rechtsgrundlagen der Bundespolizei

Gesetzentwürfe: 

Am 10. Februar 2021 hat die Fraktion der CDU/CSU und SPD einen Gesetzentwurf zur Modernisierung der Rechtsgrundlagen der Bundespolizei in den Bundestag eingebracht (BT Drs. 19/26541), der bereits am 12. Februar 2021 im Plenum beraten werden soll. 

Zwar habe sich der im BPolG definierte Aufgabenkanon der Bundespolizei im Grundsatz bewährt, jedoch sei das Gesetz seit dem Jahr 1994 nie umfangreich modernisiert worden. Lediglich einzelne Anpassungen seien seitdem vorgenommen worden. Die Fraktion beabsichtigt eine weitere Differenzierung und Fokussierung sowie eine Befugniserweiterung im Bereich der Gefahrenabwehr. Dabei sollen insbesondere die Vorgaben des BVerfG aus seinem Urteil vom 20. April 2016 (1 BvR 966/09 und 1 BvR 1140/09) zum BKAG und die Regelungen der EU-Richtlinie 2016/680 vom 27. April 2016 Berücksichtigung finden. Das BPolG enthalte immer noch vergleichbare Vorschriften zum damaligen BKAG, so dass sich die Aussagen des BVerfG darauf übertragen ließen. Außerdem umfasse das Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG) keine Regelungen zum finalen Rettungsschuss. 

Folgende Änderungen des BPolG sind geplant: 

  • Nach der Angabe zu § 12 wird folgende Angabe eingefügt: „§ 12a Zeugenschutz“
  • Nach der Angabe zu § 14 wird folgende Angabe eingefügt: „§ 14a Befugnisse für den Schutz von Zeugen“
  • Nach der Angabe zu § 25 wird folgende Angabe eingefügt: „§ 25a Meldeauflagen“
  • Nach der Angabe zu § 27c werden die folgenden Angaben eingefügt:
    „§ 27d Überwachung der Telekommunikation, § 27e Identifizierung und Lokalisierung von Mobilfunkkarten und -endgeräten“.
  • Nach der Angabe zu § 28a wird folgende Angabe eingefügt:
    „§ 28b Einsatz technischer Mittel gegen fernmanipulierte Geräte“
  • Nach der Angabe zu Teil 2 werden die folgenden Angaben eingefügt:
    • „§ 29 Weiterverarbeitung personenbezogener Daten
    • § 29a Zweckbindung, Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung
    • § 29b Daten zu Verurteilten, Beschuldigten, Tatverdächtigen und sonstigen Anlasspersonen
    • § 29c Daten zu anderen Personen
    • § 29d Weiterverarbeitung von Daten zur Aus- und Fortbildung, zur Vorgangsverwaltung oder zur befristeten Dokumentation des polizeilichen Handelns
    • § 29e Kennzeichnung“
  • Die Angabe zu § 31a wird wie folgt gefasst: „§ 31a Ausschreibungen von Personen und Sachen zur gezielten und verdeckten Kontrolle oder Ermittlungsanfrage im Schengener Informationssystem“
  • Nach der Angabe zu § 31a wird folgende Angabe eingefügt: „§ 31b Übermittlung von Fluggastdaten“
  • Die Angaben zu den §§ 32 und 32a werden wie folgt gefasst:
    „§ 32 Übermittlung personenbezogener Daten im innerstaatlichen Bereich
    § 32a Übermittlung personenbezogener Daten an Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Schengen assoziierte Staaten“
  • Nach der Angabe zu § 32a wird folgende Angabe eingefügt:
    „§ 32b Übermittlung personenbezogener Daten im internationalen Bereich“
  • Die Angabe zu § 33 wird wie folgt gefasst:
    „§ 33 Übermittlungsverbote und Verweigerungsgründe
  • Die Angabe zu § 33a wird aufgehoben
  • Nach der Angabe zu § 34 wird folgende Angabe eingefügt:
    „§ 34a Speicherung von DNA-Identifizierungsmustern zur Erkennung von DNA-Trugspuren“
  • Die Angabe zu § 35 wird wie folgt gefasst:
    „§ 35 Aussonderungsprüffristen“
  • Nach der Angabe zu § 35 werden die folgenden Angaben eingefügt:
    „§ 35a Löschung von durch Besondere Mittel der Datenerhebung oder vergleichbare Maßnahmen erlangten personenbezogenen Daten
    § 35b Berichtigung personenbezogener Daten, Einschränkung der Verarbeitung in Akten und Vernichtung von Akten
    § 35c Benachrichtigung bei verdeckten und eingriffsintensiven Maßnahmen
    § 35d Benachrichtigung über die Speicherung personenbezogener Daten von Kindern 
    § 35e Protokollierung
    § 35f Protokollierung bei verdeckten und eingriffsintensiven Maßnahmen“
  • Die Angaben zu den §§ 36 und 37 werden wie folgt gefasst:
    „§ 36 Verzeichnis von Verarbeitungstätigkeiten
    § 37 Ergänzende Befugnisse der oder des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit“
  • Die Angabe zu Teil 3 wird wie folgt gefasst:
    „Teil 3 Freiheitsbeschränkende Maßnahmen und Durchsuchung“
  • Nach der Angabe zu § 38 wird folgende Angabe eingefügt:
    „§ 38a Aufenthaltsverbot“
  • Nach der Angabe zu § 41 wird folgende Angabe eingefügt:
    „§ 41a Bild- und Tonüberwachung von Gewahrsamsräumen“
  • Die Angabe zu § 43 wird wie folgt gefasst:
    „§ 43 Durchsuchung von Personen und Entnahme von Blutproben“
  • Folgende Angabe wird angefügt:
    „§ 71 Berichtspflicht gegenüber dem Deutschen Bundestag“

  • „§ 12 Absatz 2 Satz 1 des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2015, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 43 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist, wird wie folgt gefasst:

    „Ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder einer gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist.“

Am 12. Februar 2021 wurde der Entwurf im Bundestag vorgestellt und im Anschluss zur weiteren Beratung an den federführenden Ausschuss für Inneres und Heimat überwiesen. Dort fand am 22. März 2021 eine öffentliche Anhörung statt. Eine Liste der Sachverständigen und deren Stellungnahmen finden Sie hier. Über „Grob rechtswidrig und weit über das Ziel hinaus“ bis hin zur längst überfälligen Novelle – die Einschätzungen der Experten konnten unterschiedlicher nicht sein. 
 
Prof. Dr. Clemens Arzt erinnerte an die „sonderpolizeiliche Rolle“, die das BVerfG 1998 für die Bundespolizei festgeschrieben hatte. Diese werde ausgehöhlt, wenn die Bundespolizei durch Kompetenzerweiterungen der Landespolizei immer ähnlicher werde. Klaus Landefeld hatte insbesondere Bedenken hinsichtlich der Erweiterung der Eingriffsmöglichkeiten im digitalen Bereich: „Staatliches Hacking, egal durch welche Rechtsgrundlagen, bleibt eine Gefährdung aller“. Der sog. Staatstrojaner gefährde nicht nur die IT-Systeme, sondern sei eine Bedrohung der Sicherheit von Bürgern, Unternehmen und Behörden. Landefeld sah im Zusammenhang derzeitig gleichartiger Gesetzesvorlagen einen Trend des Gesetzgebers, die Abwägung zwischen den Bedürfnissen der Sicherheitsbehörden und der Rechte Betroffener zu vergessen. In diesem Zusammenhang gab Arzt außerdem noch zu bedenken, dass der Entwurf eine Vielzahl unklarer Rechtsbegriffe nutze, die seiner Meinung nach dem Bestimmtheitsgrundsatz nicht genügten. Vor allem aber die Möglichkeit des Austauschs sämtlicher Daten mit Behörden im EU-Ausland sei grob rechtswidrig. Lea Voigt vom DAV schloss sich der Meinung Landefelds an und betonte ebenfalls, dass es „keinen umfassenden Zugriff auf die Bürger“ geben dürfe und es nicht zwingend erforderlich sei, dass die Bundespolizei gleiche Befugnisse im Vergleich zur Landespolizei habe. 
 
Die polizeilichen Vertreter der Expertenrunde hingegen begrüßten den Gesetzentwurf. Dr. Dieter Romann sah den Entwurf als Signal „parlamentarischer Wertschätzung“. Die geltende Fassung des Gesetzes stamme aus dem Jahr 1994, weshalb es im analogen wie im digitalen Bereich Nachholbedarf gebe. Vermisst habe er allerdings Regelungen, die es der Bundespolizei ermöglichen auch in Einzelsachverhalten auf Ersuchen der zuständigen Staatsanwaltschaft im Rahmen der Strafverfolgung tätig zu werden. Auch Andreas Roßkopf von der Gewerkschaft der Polizei sah in dem Entwurf eine längst überfällige Novelle. Er befürchtete allerdings eine personelle Überforderung und sah Nachbesserungsbedarf im Bereich der bundespolizeilichen Zuständigkeit im Grenzbereich. Genauso wie Heiko Teggatz sprach er sich gegen eine Ausweitung der Zuständigkeitszone auf 50 Kilometer aus. Im Übrigen begrüßte dieser die Befugniserweiterung im Bereich der Abschiebehaft und der digitalen Zugriffsrechte. 
 
Am 10. Juni 2021 hat der Bundestag den Regierungsentwurf in der Fassung des Innenausschusses beschlossen. Die Opposition stimmte gegen den Entwurf. Der Änderungsantrag der AfD sowie der Entschließungsantrag der FDP wurden abgelehnt. 
 
Am 25. Juni 2021 stand der Regierungsentwurf auf derTagesordnung des Bundesrates. Dort erhielt er nicht die Mehrheit von 35 Stimmen und scheiterte. Der Vermittlungsausschuss kann nun angerufen werden. 
 
 

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 09/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 10.12.2020 – 1 BvR 1837/19: BVerfG zur Verwirklichung des Rechts auf Selbsttötung

Leitsatz der Redaktion:

Aufgrund der Entscheidung des Zweiten Senats zur Unvereinbarkeit des Verbots der geschäftsmäßigen Sterbehilfe (§ 217 StGB) mit der Verfassung, sind Verfassungsbeschwerden gegen die Ablehnung der Genehmigung zum Erwerb eines tödlichen Medikaments zur Suizidierung nunmehr unzulässig aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes, wenn andere zumutbare Möglichkeiten zur Erreichung des Beschwerdebegehrens existieren.

Sachverhalt:

Ein in Hessen lebendes Ehepaar hat mit seiner Verfassungsbeschwerde gerügt, dass ihnen die Erlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG zum Erwerb jeweils einer tödlichen Dosis Natriumpentobarbital vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte versagt worden war.

Nach Ansicht der Beschwerdeführer habe sich ihr Anliegen auch nicht durch die vorangegangene Entscheidung des Zweiten Senats erledigt, da eine alternative ärztliche Verschreibung des Medikaments gem. § 13 BtMG nach dem hessischen Standesrecht für Ärzte nicht in Betracht komme und andere professionelle Angebote der Sterbehilfe in Hessen faktisch nicht existent seien. Daher sei die Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung ihrer Grundrechte erforderlich.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG wies die Verfassungsbeschwerde als unzulässig ab, da sie die Anforderungen des Subsidiaritätsgrundsatzes nicht erfülle.

Das Recht, ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, sei nach dem Urteil des Zweiten Senats nun verfassungsgerichtlich anerkannt. Dies versetze die Beschwerdeführer nun in die Lage, aktiv und bundesweit nach Möglichkeiten der professionellen Sterbehilfe zu suchen.

Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde fordere, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde und auch noch während des laufenden Beschwerdeverfahrens, sämtliche nach Lage der Sache zumutbaren Möglichkeiten und Rechtsbehelfe ausschöpfe, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren abzuwenden oder zu beseitigen. Daraus könne bei einer sich zwischenzeitlich ändernden Sach- oder Rechtslage auch eine Pflicht zur Stellung eines Abänderungsantrags nach § 80 Abs. 7 VwGO folgen sowie entsprechende Bemühungen gegenüber den zuständigen Behörden oder andere geeignete Anstrengungen jenseits formalisierter Verfahren.

Diese Möglichkeiten hätten die Beschwerdeführer nicht in Gänze ausgeschöpft, so das BVerfG.

Ihnen wäre beispielsweise zumutbar gewesen, zunächst bundesweit nach medizinisch kundigen Suizidbeihelfern und verschreibungswilligen und –berechtigten Personen zu suchen. Der Umstand, dass die Entscheidung zur Aufhebung des § 217 StGB nur ergehen konnte, weil Ärzten aufgrund des Angebots einer solchen, nach damaligem Recht strafbaren, Suizidbeihilfe eine strafgerichtliche Verurteilung drohte, mache deutlich, dass es in Deutschland zur Suizidbeihilfe fähige und berechtigte Personen gebe.

Darüber hinaus sei von einer erneuten Bemühung der Beschwerdeführer, unter diesen geänderten Vorzeichen Suizidbeihilfe zu erhalten, eine erheblich bessere Entscheidungsgrundlage zu erwarten, dank derer der Senat die nach der Entscheidung des Zweiten Senats geänderten tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland deutlich besser einschätzen könne. Genau dies sei Sinn und Zweck des Subsidiaritätsgrundsatzes.

Eine direkte Sachentscheidung unterlaufe zudem den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess, den der Zweite Senat dem Gesetzgeber zugebilligt habe.

Anmerkung der Redaktion:

Der Zweite Senat hatte mit Urteil vom 26. Februar 2020 (2 BvR 2347/15) den § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt hatte, für nichtig erklärt. Er verstoße gegen das Grundrecht eines jeden Menschen, selbst nach eigenen Maßstäben zu entscheiden, das eigene Leben zu beenden, indem er eine professionell begleitete Umsetzung dieses höchstpersönlichen Entschlusses faktisch unmöglich gemacht habe. Den KriPoZ-RR Beitrag zu diesem Urteil finden Sie hier: KriPoZ-RR, Beitrag 16/2020

 

 

 

Gesetzesantrag zur Änderung der Strafprozessordnung – mehr Opferschutz im Strafprozess

Gesetzentwürfe: 

  • Gesetzesantrag der Freien und Hansestadt Hamburg: BR Drs. 80/21

 

Die Freie und Hansestadt Hamburg hat am 27. Januar 2021 einen Gesetzesantrag zur Änderung der StPO in den Bundesrat eingebracht (BR Drs. 80/21). Mit dem Antrag soll der Opferschutz im Strafprozess gestärkt werden. 

Insbesondere für die Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung seien Zeugenvernehmungen eine erhebliche psychologische Belastung. Zwar habe man bereits mit einigen Gesetzesänderungen versucht diese zu verringern, dies sei aber nicht vollumfänglich gelungen. Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens wurde eine Aufzeichnung der richterlichen Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren in Bild und Ton möglich, so dass eine belastende erneute Vernehmung in der Hauptverhandlung erspart werden kann. Nach geltender Rechtslage sei dies aber aufgrund des Fragerechts der Prozessbeteiligten nicht immer zu realisieren. Daher soll die Regelung des § 241a StPO (Vernehmung minderjähriger Zeugen durch den Vorsitzenden) auch auf volljährige Zeugen erstreckt werden, die durch gravierende Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Verbrechen nach § 177 StGB, besonders schwerer Fall eines Vergehens nach § 177 Abs. 6 StGB oder § 184j StGB) betroffen sind. Damit wäre in den vorgesehenen Fällen eine Vernehmung nur durch den Vorsitzenden möglich. 

„§ 241a – Vernehmung von Zeugen durch den Vorsitzenden

b)  Absatz 1 wird wie folgt gefasst:

(1) Die Vernehmung von Zeugen unter 18 Jahren oder von Zeugen, die durch ein Verbrechen nach § 177 des Strafgesetzbuchs, einen besonders schweren Fall eines Vergehens nach § 177 Absatz 6 des Strafgesetzbuchs oder durch eine Straftat nach § 184j des Strafgesetzbuchs verletzt worden sind, sofern im letzten Fall die zusätzlichen Voraussetzungen von § 397a Absatz 1 Nummer 1a vorliegen, wird allein von dem Vorsitzenden durchgeführt.“

Der Antrag Hamburgs wurde am 12. Februar 2021 im Plenum vorgestellt und an den federführenden Rechtsausschuss überwiesen. 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 08/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 01.12.2020 – 2 BvR 916/11: Sog. Elektronische Fußfessel ist verfassungsgemäß

Amtliche Leitsätze:

1. Die Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung unterfällt als Maßnahme der Führungsaufsicht der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für das Strafrecht gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.

2. § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO ist materiell verfassungsgemäß:

a) Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung der Möglichkeit, den Aufenthaltsort eines Weisungsbetroffenen gemäß § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO anlassbezogen festzustellen, greift weder in den Kernbereich privater Lebensgestaltung ein, noch führt sie zu einer mit der Menschenwürde unvereinbaren „Rundumüberwachung“.

b) Die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung trägt den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normenklarheit und der Verhältnismäßigkeit Rechnung.

c) 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB verstößt nicht gegen das Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Eine wesentliche Erschwerung der Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft oder der Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Lebensführung ist nicht gegeben. Die mit der „elektronischen Fußfessel“ verbundenen Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit sind jedenfalls zum Schutz der hochrangigen Rechtsgüter des Lebens, der Freiheit, der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbstbestimmung Dritter gerechtfertigt.

d) Die gesetzliche Regelung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung verletzt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht. § 463a Abs. 4 StPO trägt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Erhebung und Verwendung personenbezogener Daten Rechnung.

3. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Einholung eines Sachverständigengutachtens vor der Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nicht zwingend vorgeschrieben hat. Dessen Notwendigkeit kann sich im Einzelfall jedoch aus dem verfassungsrechtlichen Gebot bestmöglicher Sachaufklärung ergeben.

4. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die spezialpräventiven Wirkungen und technischen Rahmenbedingungen der elektronischen Aufenthaltsüberwachung empirisch zu beobachten und das gesetzliche Regelungskonzept gegebenenfalls den dabei gewonnenen Erkenntnissen anzupassen.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer hat sich gegen die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (sog. elektronische Fußfessel) an das BVerfG gewendet.

Diese war als Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht nach einer langen Haftstrafe ihm gegenüber angeordnet worden, was er für einen ungerechtfertigten Eingriff in sein informationelles Selbstbestimmungsrecht, das Resozialisierungsgebot, Art. 12 GG, Art. 11 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG gehalten hat.

Durch die Überwachung seines Aufenthaltsortes werde seine freie Willensbildung ausgeschaltet, da er letztlich nur noch ein Glied in einem umfassenden technisch-elektronischen Überwachungssystem sei. Zudem führe die Fußfessel zu einer sozialen Stigmatisierung, da es im engeren sozialen Kontext nicht möglich sei, die ihn als Schwerstverbrecher ausweisende Fußfessel zu verbergen.

 

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG entschied, dass die Verfassungsbeschwerden zulässig aber unbegründet seien, da weder die gerichtliche Rechtsanwendung noch die abstrakte Rechtsgrundlage zur Anordnung der Überwachung verfassungswidrig seien. Die Möglichkeit zur Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung in §§ 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB i.V.m. § 463a Abs. 4 StPO als Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht sei mit den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten des Beschwerdeführers vereinbar.

Zunächst stellte das BVerfG fest, dass der Bund für die elektronische Aufenthaltsüberwachung als Maßnahme der Führungsaufsicht die Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG habe, da sie als staatliche Reaktion an die vorangegangene Begehung einer Straftat anknüpfe.

Im Weiteren führte der Senat aus, dass ein Eingriff in die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) des Beschwerdeführers nicht gegeben sei. Dies begründete er damit, dass die Ermächtigung zur Beobachtung anlassbezogen ausgestaltet sei. Daneben sei eine Überwachung der Tätigkeit des Beobachteten gerade nicht möglich, da weder optische noch akustische Überwachung durch die Fußfessel möglich sei. Dadurch handele es sich nicht um eine sog. Rundumüberwachung, die den Einzelnen zum Objekt staatlichen Handelns mache, da lediglich der Aufenthaltsort permanent aufgezeichnet werde, was beispielsweise die Erstellung eines Persönlichkeitsprofils nichts erlaube.

Zwar stelle die Ermächtigungsgrundlage des § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB i.V.m. § 463a Abs. 4 StPO einen tiefgreifenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) dar, dieser sei jedoch gerechtfertigt und daher verfassungsgemäß. Dies folge unter anderem daraus, dass die Ermächtigungsgrundlage ihren Anwendungsbereich auf den Schutz sehr gewichtiger Rechtsgüter einschränke. Zudem müssten auch in Zukunft hinreichend schwere Straftaten zu erwarten sein und deren Begehung durch den Weisungsbetroffenen hinreichend konkret wahrscheinlich erscheinen.

Ebenfalls nicht in verfassungswidriger Weise eingeschränkt werde das Recht auf Resozialisierung des ehemaligen Gefangenen als Ausprägung des allg. Persönlichkeitsrechts. Die elektronische Fußfessel erschwere die eigenverantwortliche Lebensgestaltung oder die Wiedereingliederung in die Gesellschaft nicht wesentlich, so das BVerfG. Die Fußfessel lasse sich im Alltag verbergen und die durchaus höheren Belastungen bei intimen Kontakten seien gerechtfertigt, da auf der anderen Seite die hochrangigen Rechtsgüter des Lebens, der Freiheit, der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbstbestimmung anderer geschützt würden.

Ein ebenfalls gerechtfertigter Eingriff sei in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegeben, da die Aufenthaltsdaten zwar permanent erhoben aber nicht auf unendliche Dauer gespeichert würden. Die Löschfrist von zwei Monaten (§ 463a Abs. 4 Satz 5 StPO) und die weiteren Vorgaben in § 463a StPO sorgten im Ergebnis für die Angemessenheit der Norm im verfassungsrechtlichen Sinne.

Die Berufsfreiheit sei schon mangels objektiv berufsregelnder Tendenz nicht betroffen.

Weitere Grundrechte des Beschwerdeführers seien ebenfalls, wie das Zitiergebot, nicht verletzt.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die sog. elektronische Fußfessel zur Aufenthaltsüberwachung war am 22. Dezember 2010 durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen in das StGB eingeführt worden. Vorausgegangen war eine Verurteilung Deutschlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der die deutsche Sicherungsverwahrung von über 10 Jahren für einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gehalten hatte. Die daraus resultierende Freilassung vieler Sicherungsverwahrter führte zu einem massiven polizeilichen Überwachungseinsatz, den der Gesetzgeber durch Einführung der elektronischen Fußfessel abmindern wollte.

Mittlerweile ist ein Gesetzentwurf über den Bundesrat in den Bundestag eingebracht worden, der die Führungsaufsicht stärken soll, indem die zwangsweise Anlegung der elektronischen Fußfessel ermöglicht werden soll. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.

 

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 07/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 2 StR 241/20: Wenn der Richter zu früh aussagen muss…

Leitsatz der Redaktion:

Der Ausschluss eines Richters gem. § 22 Nr. 5 StPO hindert an der Unterschrift unter einem Urteil und macht somit zur vollständigen Absetzung einen Verhinderungsvermerk nach § 275 Abs. 2 Satz 2 StPO erforderlich.

Sachverhalt:

Das LG hat den Angeklagten wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie Beihilfe zum bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt.

Der Verfahrensrüge liegt folgendes maßgebliches Geschehen zugrunde:

Der Vorsitzende Richter im landgerichtlichen Verfahren war vor Ablaufen der Urteilsabsetzungsfrist am 14. Februar 2020 jedoch nach der letzten Fassungsberatung am 30. Januar 2020 als Zeuge zum Aussageverhalten des Angeklagten in einem Parallelverfahren vernommen worden. Nach seiner Aussage unterschrieb der Vorsitzende das Urteil am 7. Februar 2020 und gab es an die Geschäftsstelle.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil aufgrund Verstoßes gegen den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO auf.

Seine Entscheidung begründete der Senat damit, dass der vorsitzende Richter nach seiner Aussage im Parallelverfahren gemäß § 22 Nr. 5 StPO als ausgeschlossener Richter, keine weiteren richterlichen Funktionen mehr hätte wahrnehmen dürfen. Ihm sei jede weitere richterliche Tätigkeit in der betroffenen Sache verwehrt gewesen, da der Ausschluss nach § 22 StPO kraft Gesetzes im Zeitpunkt seiner Entstehung für die Zukunft wirksam werde.

Somit sei dem Vorsitzenden eine rechtskonforme Herstellung der Urteilsgründe nicht mehr möglich gewesen. Eine solche Verhinderung aus Rechtsgründen hätte durch den Vorsitzenden oder in diesem Fall durch den dienstältesten Richter gemäß § 275 Abs. 2 Satz 2 StPO unter dem Urteil vermerkt werden müssen. Da dieser Vermerk gefehlt habe, sei das Urteil nicht innerhalb der Absetzungsfrist (§ 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 StPO) vollständig zu den Akten gelangt, was den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO begründe.

Somit sei das Urteil aufzuheben gewesen. Es komme nicht darauf an, dass der betreffende Richter zwischen seiner Aussage und dem Unterzeichnen der Urteilsurkunde tatsächlich keinen Einfluss auf den Inhalt der Urkunde genommen habe, da § 22 StPO alle Personen von der weiteren Mitwirkung ausschließe, bei denen auch nur eine abstrakte Gefahr der Voreingenommenheit bestehe.

 

Anmerkung der Redatkion:

Dass ein Urteil, unter dem ein erforderlicher Verhinderungsvermerkt fehlt, aufzuheben ist, hatte der BGH bereits 2002 entschieden: BGH, Beschl. v. 21.10.2002 – 5 StR 433/02.

 

 

 

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