Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Übertragung von Verfahren in Strafsachen

Gesetzentwürfe: 

 

Im April 2023 hat das Europäische Parlament und der Rat einen Verordnungsvorschlag über die Übertragung von Verfahren in Strafsachen auf den Weg gebracht. 

Mit zunehmender grenzüberschreitender Kriminalität wird die Strafjustiz in der EU mit Zuständigkeitsproblemen konfrontiert. In dem einen Mitgliedsstaat erfolgt die Vorbereitung, in einem anderen wird die Tat begangen, im dritten Mitgliedsstaat werden die Täter:innen festgenommen, während die Taterträge bereits in einen vierten Staat verbracht werden. Dabei liegt die Herausforderung nicht nur bei einer mehrfachen  Verfolgung der Tat, sondern auch die Rechte und Interesse der einzelnen Protagonisten können beeinträchtigt sein. Angeklagte:r, Zeug:innen und Opfer müssen ggf. zu allen Verhandlungen in den einzelnen Ländern geladen werden. Dies soll die Verordnung nun unterbinden und verfolgt daher vier Ziele:

  1. „Verbesserung der effizienten und geordneten Rechtspflege in der EU,

  2. Verbesserung der Achtung der Grundrechte bei der Übertragung von Strafverfahren,

  3. Verbesserung der Effizienz und Rechtssicherheit bei Übertragungen von Strafverfahren und

  4. Ermöglichung der Übertragung von Strafverfahren in Fällen, in denen dies im Interesse der Gerechtigkeit liegt, aber derzeit zwischen den Mitgliedstaaten nicht möglich ist, und Verringerung des Phänomens der Straflosigkeit.“

Sie sieht vor, das Strafverfahren in dem Mitgliedsstaat durchzuführen, dass dafür am besten geeignet ist. Ein Entscheidungskriterium soll bspw. sein, in welchem Staat der größte Teil der Straftat begangen wurde. Genaueres ist in Kapitel 2 der Verordnung geregelt. 

Bislang wurde dergestalt keine Form der Zusammenarbeit in der EU praktiziert. Ein Übereinkommen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten über die Übertragung von Strafverfahren wurde 1990 unterzeichnet, aber nie ratifiziert. Die Zusammenarbeit beruht derzeit auf einer Vielzahl von Rechtsinstrumenten, eines davon ist das Europäische Übereinkommen über die Übertragung von Strafverfolgung vom 15. Mai 1972 und wurde nur von 13 Mitgliedstaaten ratifiziert. Daher greifen viele Staaten auf Art. 21 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 zurück, in dem das Übertragungsverfahren jedoch weitgehend ungeregelt ist. 

Der Verordnungsvorschlag beinhaltet 5 Kapitel: Kapitel 1 – Allgemeine Bestimmungen, Kapitel 2 – Übertragung von Strafverfahren, Kapitel 3 – Wirkungen der Übertragung von Strafverfahren, Kapitel 4 – Kommunikationsmittel, Kapitel 5 – Schlussbestimmungen. 

Am 16. Juni 2023 befasste sich erstmals der Bundesrat mit dem Verordnungsvorschlag. Die Ausschüsse hatten empfohlen entsprechend Stellung zu nehmen (BR Drs. 175/1/23). Ein dahingehender Beschluss konnte in der Plenarsitzung jedoch nicht gefasst werden (BR Drs. 175/23 (B)).

Eine erste Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins zum Verordnungsvorschlag finden Sie hier

 

 

 

 

 

 

Gesetz über künstliche Intelligenz – Artificial Intelligence Act

Gesetzentwürfe: 

 

Die Europäische Kommission hat am 21. April 2021 einen Entwurf für eine Verordnung zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz vorgelegt. Ziel der Kommission ist es, einen einheitlichen Rechtsrahmen für vertrauenswürdige KI zu schaffen und dabei die KI-Systeme in Risikostufen zu klassifizieren, die je nach Anwendung in Bezug auf Sicherheit und Transparenz weiteren Regulierungen unterliegen. Eine genaue Darstellung des Verordnungsentwurfs finden Sie bei Engelhard/Schiemann, KriPoZ 2022, 444 ff

Ein unannehmbares Risiko ergibt sich für KI Systeme, wenn sie für Menschen eine Bedrohung darstellen können. Diese Systeme werden verboten und können nur ausnahmsweise zulässig sein. Dazu gehören z.B. kognitive Verhaltensmanipulationen von Menschen (bspw. Spielzeug, das sprachgesteuert ist und gefährdende Verhaltensweisen fördern kann), Klassifizierungen von Menschen durch Soziales Scoring oder biometrische Echtzeit-Identifizierungssysteme, wie die Gesichtserkennung. 

Hochrisiko-Systeme bilden die Gruppe, die für die Grundrechte, die Gesundheit oder die Sicherheit gefährdend sein können und werden vor Inverkehrbringen und während ihres Verwendungszyklus bewertet. Sie werden in zwei Kategorien eingeteilt:

I. Systeme, die in Produkten verwendet werden, die unter Produktsicherheitsvorschriften der Europäischen Union fallen (bspw. Fahrzeuge, medizinische Geräte, Luftfahrt) und

II. Systeme, die zwingend in einer EU-Datenbank registriert werden müssen, wenn sie in einer der acht Bereiche fallen:

  1. „Biometrische Identifizierung und Kategorisierung natürlicher Personen:

    a) KI-Systeme, die bestimmungsgemäß für die biometrische Echtzeit- Fernidentifizierung und nachträgliche biometrische Fernidentifizierung natürlicher Personen verwendet werden sollen;

  2. Verwaltung und Betrieb kritischer Infrastrukturen:

    a) KI-Systeme, die bestimmungsgemäß als Sicherheitskomponenten in der Verwaltung und im Betrieb des Straßenverkehrs sowie in der Wasser-, Gas-, Wärme- und Stromversorgung verwendet werden sollen;

  3. Allgemeine und berufliche Bildung:

    a)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß für Entscheidungen über den Zugang oder die Zuweisung natürlicher Personen zu Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen Bildung verwendet werden sollen;

    b)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß für die Bewertung von Schülern in Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen Bildung und für die Bewertung der Teilnehmer an üblicherweise für die Zulassung zu Bildungseinrichtungen erforderlichen Tests verwendet werden sollen;

  4. Beschäftigung, Personalmanagement und Zugang zur Selbstständigkeit:

    a)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß für die Einstellung oder Auswahl natürlicher Personen verwendet werden sollen, insbesondere für die Bekanntmachung freier Stellen, das Sichten oder Filtern von Bewerbungen und das Bewerten von Bewerbern in Vorstellungsgesprächen oder Tests;

    b)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß für Entscheidungen über Beförderungen und über Kündigungen von Arbeitsvertragsverhältnissen, für die Aufgabenzuweisung sowie für die Überwachung und Bewertung der Leistung und des Verhaltens von Personen in solchen Beschäftigungsverhältnissen verwendet werden sollen;

  5. Zugänglichkeit und Inanspruchnahme grundlegender privater und öffentlicher Dienste und Leistungen:

    a)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß von Behörden oder im Namen von Behörden verwendet werden sollen, um zu beurteilen, ob natürliche Personen Anspruch auf öffentliche Unterstützungsleistungen und -dienste haben und ob solche Leistungen und Dienste zu gewähren, einzuschränken, zu widerrufen oder zurückzufordern sind;

    b)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß für die Kreditwürdigkeitsprüfung und Kreditpunktebewertung natürlicher Personen verwendet werden sollen, mit Ausnahme von KI-Systemen, die von Kleinanbietern für den Eigengebrauch in Betrieb genommen werden;

    c)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß für die Entsendung oder Priorisierung des Einsatzes von Not- und Rettungsdiensten, einschließlich Feuerwehr und medizinischer Nothilfe, verwendet werden sollen;

  1. Strafverfolgung:

    a)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß von Strafverfolgungsbehörden für individuelle Risikobewertungen natürlicher Personen verwendet werden sollen, um das Risiko abzuschätzen, dass eine natürliche Person Straftaten begeht oder erneut begeht oder dass eine Person zum Opfer möglicher Straftaten wird;

    b)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß von Strafverfolgungsbehörden als Lügendetektoren und ähnliche Instrumente oder zur Ermittlung des emotionalen Zustands einer natürlichen Person verwendet werden sollen;

    c)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß von Strafverfolgungsbehörden zur Aufdeckung von Deepfakes gemäß Artikel 52 Absatz 3 verwendet werden sollen;

    d)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß von Strafverfolgungsbehörden zur Bewertung der Verlässlichkeit von Beweismitteln im Zuge der Ermittlung oder Verfolgung von Straftaten verwendet werden sollen;

    e)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß von Strafverfolgungsbehörden zur Vorhersage des Auftretens oder erneuten Auftretens einer tatsächlichen oder potenziellen Straftat auf der Grundlage des Profils natürlicher Personen gemäß Artikel3 Absatz4 der Richtlinie (EU)2016/680 oder zur Bewertung von Persönlichkeitsmerkmalen und Eigenschaften oder vergangenen kriminellen Verhaltens natürlicher Personen oder von Gruppen verwendet werden sollen;

    f)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß von Strafverfolgungsbehörden zur Erstellung von Profilen natürlicher Personen gemäß Artikel 3 Absatz 4 der Richtlinie (EU)2016/680 im Zuge der Aufdeckung, Ermittlung oder Verfolgung von Straftaten verwendet werden sollen;

    g)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß zur Kriminalanalyse natürlicher Personen eingesetzt werden sollen und es den Strafverfolgungsbehörden ermöglichen, große komplexe verknüpfte und unverknüpfte Datensätze aus verschiedenen Datenquellen oder in verschiedenen Datenformaten zu durchsuchen, um unbekannte Muster zu erkennen oder verdeckte Beziehungen in den Daten aufzudecken;

  2. Migration, Asyl und Grenzkontrolle:

    a)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß von zuständigen Behörden als Lügendetektoren und ähnliche Instrumente oder zur Ermittlung des emotionalen Zustands einer natürlichen Person verwendet werden sollen;

    b)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß von zuständigen Behörden zur Bewertung eines Risikos verwendet werden sollen, einschließlich eines Sicherheitsrisikos, eines Risikos der irregulären Einwanderung oder eines Gesundheitsrisikos, das von einer natürlichen Person ausgeht, die in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen beabsichtigt oder eingereist ist;

    c)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß von zuständigen Behörden zur Überprüfung der Echtheit von Reisedokumenten und Nachweisunterlagen natürlicher Personen und zur Erkennung unechter Dokumente durch Prüfung ihrer Sicherheitsmerkmale verwendet werden sollen;

    d)  KI-Systeme, die bestimmungsgemäß zuständige Behörden bei der Prüfung von Asyl- und Visumanträgen sowie Aufenthaltstiteln und damit verbundenen Beschwerden im Hinblick auf die Feststellung der Berechtigung der den Antrag stellenden natürlichen Personen unterstützen sollen;

8. Rechtspflege und demokratische Prozesse:

a) KI-Systeme, die bestimmungsgemäß Justizbehörden bei der Ermittlung und Auslegung von Sachverhalten und Rechtsvorschriften und bei der Anwendung des Rechts auf konkrete Sachverhalte unterstützen sollen.“

Generative Foundation-Modelle müssen bestimmte Transparenzanforderungen erfüllen. So muss bspw. die Gestaltung der KI verhindern, dass illegale Inhalte erzeugt werden können. Bei einem lediglich begrenzten Risiko müssen lediglich minimale Transparenzanforderungen erfüllt werden, die den Nutzer in die Lage versetzen, selbst entscheiden zu können, ob er die KI weiter verwenden möchte. 

Am 14. Juni 2023 haben die Abgeordneten über die Vorlage abgestimmt und den Kompromisstext angenommen. In der Folge beginnen die Gespräche mit den EU-Mitgliedstaaten über die endgültige Fassung des Gesetzes. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 37/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 4.4.2023 – 3 StR 73/23: Dolus directus ersten Grades in der Strafzumessung

Leitsatz der Redaktion:

Es liegt kein Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot gemäß § 46 Abs. 3 StGB vor, wenn das Vorliegen des dolus directus ersten Grades strafschärfend bewertet wird. 

Sachverhalt:

Die Angeklagten wurden vom LG Duisburg wegen gefährlicher Körperverletzung zu Freiheitsstrafen verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen verletzten die Angeklagten die Nebenkläger mittels eines Schlagstocks und Baseballschlägers erheblich. Strafschärfend würdigte das LG, dass es den Angeklagten gerade auf die Verletzung eines der Nebenkläger ankam und dabei mit dolus directus ersten Grades handelten. Die Angeklagten haben Rechtsmittel gegen die Entscheidung eingelegt.

Entscheidung des BGH:

Die Revisionen wurden verworfen. Der direkte Vorsatz könne in der Strafzumessung strafschärfend berücksichtigt werden, sodass die Strafzumessung vorliegend rechtsfehlerfrei erfolgt sei. Grundsätzlich hätten die Vorsatzformen (dolus directus ersten Grades, dolus directus zweiten Grades, dolus eventualis) einen unterschiedlichen Schuldgehalt. Der Strafsenat führt bezüglich der Schuldschwere aus: „Die kriminelle Intensität des Täterwillens ist beim [dolus directus ersten Grades] in der Regel am stärksten ausgeprägt.“ Dem Täter komme es hierbei in erster Linie auf den tatbestandlichen Erfolg an. Die im Rahmen des § 46 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen Beweggründe und Ziele des Täters sowie Gesinnung und aufgewendeter Wille könnten sich durch das Vorliegen von Absicht strafschärfend auswirken. Ein Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot (§ 46 Abs. 3 StGB) liege dadurch nicht vor, denn das „unbedingte Streben nach der Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolges“ sei kein Tatbestandsmerkmal der Körperverletzungsdelikte. 

KriPoZ-RR, Beitrag 36/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier. Die Pressemitteilung finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 17.5.2023 – 6 StR 275/22: Eine mit einem anderen gemeinschaftlich begangene Körperverletzung kann auch durch Unterlassen verwirklicht werden

Amtliche Leitsätze:

Der Qualifikationstatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB kann auch durch Unterlassen verwirklicht werden. Die hierfür erforderliche höhere Gefährlichkeit ist regelmäßig gegeben, wenn sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zu einem Nichtstun verabreden und mindestens zwei von ihnen zumindest zeitweilig am Tatort anwesend sind. 

Sachverhalt:

Das LG Verden hat die Angeklagten u.a. wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen gemäß §§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 4, 13 StGB schuldig gesprochen. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen wurde die psychisch erkrankte Geschädigte zwangsprostitiuiert, wobei die Angeklagten Unterstützung leisteten. Am infrage stehenden Tattag wurde die Geschädigte nach einer körperlichen Auseinandersetzung in die Garage der Angeklagten verbracht. Diese erkannten, dass sich die Geschädigte aufgrund ihrer „akut psychotischen Symptomatik in Not befand und fachärztlicher Hilfe bedurfte.“ Trotzdem wurde keine Hilfe organisiert. Die Geschädigte sollte als „Einnahmequelle“ erhalten bleiben. Durch eine entsprechende Medikation hätte die Geschädigte weniger Leid erfahren, welches die Angeklagten in Kauf nahmen. Die Geschädigte verstarb in der Garage. Nicht festgestellt werden konnte, wer den Tod verursacht hat. Die Angeklagten haben Revision gegen die Entscheidung eingelegt. 

Entscheidung des BGH:

Die Revision (bezogen auf die obige Tat) wurde verworfen. Die Angeklagten haben das Qualifikationsmerkmal des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB erfüllt, so der BGH. Die Körperverletzung „mit einem anderen gemeinschaftlich“ setze grundsätzlich eine Beteiligung voraus. Die erhöhte Anzahl an Angreifern erhöhe die abstrakte Gefährlichkeit der Körperverletzung und verringere die Verteidigungsmöglichkeiten für die geschädigte Person, welches das erhöhte Strafmaß rechtfertige. Voraussetzungen seien insbesondere mindestens zwei handelnde Angreifer. 

Aus dem Wortlaut und Sinn und Zweck ergebe sich nicht, dass die gefährliche Körperverletzung nicht auch durch Unterlassen begangen werden könne. Beabsichtigt sei der umfassende, effektive Schutz körperlicher Unversehrtheit. Eine erhöhte Gefahr und verringerte Verteidigungsmöglichkeiten könnten auch bei einer Tatbeteiligung durch Unterlassen vorliegen. Der Strafsenat verweist dabei auf die jeweilige Betrachtung im Einzelfall. Nicht ausreichen würde allerdings weder die Anwesenheit einer sich nur passiv verhaltenen Person noch reiner Nebentäter. Zu bejahen sei das Qualifikationsmerkmal aber in Fällen, in denen „sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zu einem Nichtstun verabreden […] und mindestens zwei handlungspflichtige Garanten zumindest zeitweilig am Tatort präsent sind.“ Diese gruppendynamischen Effekte führen zu einer Verstärkung des Tatentschlusses und damit zu einer Gefahrsteigerung für die geschädigte Person, so der BGH. Vorliegend sei genau dies der Fall gewesen.

KriPoZ-RR, Beitrag 35/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier. Die Pressemitteilung ist hier abrufbar.

BGH, Beschl. v. 24.5.2023 – 4 StR 116/23: BGH bejaht Mordmerkmal der Grausamkeit

Sachverhalt:

Der Angeklagte wurde vom LG Münster u.a. wegen versuchten Mordes unter Bejahung des Mordmerkmales „grausam“ zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hat der Angeklagte Benzin auf seinen Bruder geschleudert, der sich vor einer geöffneten Haustür befand. Unmittelbar danach zündete der Angeklagte das Benzin an, woraufhin die Tür des Wohnhauses Feuer fing und der Geschädigte erhebliche Verbrennungen erlitt. Der Angeklagte hat Rechtsmittel gegen die Entscheidung eingelegt. 

Entscheidung des BGH:

Der BGH hat die Revision des Angeklagten verworfen. Das Urteil, insbesondere die Bejahung des Mordmerkmales der Grausamkeit, weise keine Rechtsfehler auf. 

KriPoZ-RR, Beitrag 34/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 13.4.2023 – 4 StR 413/22: Mit einem Küchenmesser in den Rücken „Pieksen“ als gefährliche Körperverletzung?

Sachverhalt:

Der Angeklagte wurde vom LG Münster wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hat der Angeklagte der Geschädigten mindestens zweimal mit einem Küchenmesser in den Rücken „gepiekst“ als diese vor ihm eine Treppe hinaufging. Bei der Geschädigten verursachte dies einen stechenden, „wie Nadelstiche“ anfühlenden Schmerz. Im Laufe der nächsten Tage zog der Angeklagte ein Handykabel um den Hals der Geschädigten und schlug ihr mit der Faust gegen den Oberschenkel, welches Hämatome verursachte. Der Angeklagte hat sich nicht zu den Tatvorwürfen eingelassen. Zu den Feststellungen kam die Strafkammer über die Angaben der Geschädigten als Zeugin vom Hörensagen. Der Angeklagte erhob Revision gegen die Verurteilung. 

Entscheidung des BGH:

Das Rechtsmittel hat Erfolg. Bei der Beweiswürdigung im Falle eines nicht geständigen Angeklagten und eines Zeugen, dessen Bekundungen nur mittelbar eingeführt werden können, gelten erhöhte Anforderungen. Eine Überprüfung der Glaubhaftigkeit des Zeugen sei in diesem Falle nicht möglich. Für eine Aussage eines Zeugen vom Hörensagen gelte daher, dass diese „durch andere wichtige und im unmittelbaren Bezug zum Tatgeschehen stehende Gesichtspunkte bestätigt wird“. Hieran fehle es vorliegend. Das Urteil stütze sich ausschließlich auf die Aussagen, die die Zeugin im Rahmen ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung getätigt habe.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Der Strafsenat führt an, dass hierbei die vom LG Münster angenommene gefährliche Körperverletzung durch „Pieksen“ in den Rücken mit einem Küchenmesser näherer Darlegung bedürfe. Der Gegenstand müsse nach konkreter Art der Benutzung und Beschaffenheit im Einzelfall dazu geeignet sein, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen. Ob vorliegend die Erheblichkeitsschwelle überschritten wurde ist vor dem Hintergrund, dass abstrakt gefährliche Werkzeuge in konkret ungefährlicher Weise nicht den Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllen, zumindest zu erörtern.

KriPoZ-RR, Beitrag 33/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 4.4.2023 – 1 StR 488/22: Minder schwerer Fall und vertypte Milderungsgründe 

Leitsatz der Redaktion: 

Ein minder schwerer Fall gemäß § 213 Alt. 1 und Alt. 2 StGB kann ohne zusätzliche Berücksichtigung des vertypten Milderungsgrundes der verminderten Schuldfähigkeit nach §§ 21, 49 StGB verneint werden. 

Sachverhalt:

Das LG Memmingen hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hat der Angeklagte mit der später Geschädigten einen Kaufvertrag über ein Wohnhaus („gekauft wie gesehen“) geschlossen, welches sich im Nachhinein als mangelhaft herausstellte. Als die später Geschädigte die Rückabwicklung verweigerte mit den Worten der Angeklagte „solle sich verpissen und zu seiner dummen Frau zurückgehen“, riss der Angeklagte die Geschädigte zu Boden und trat viermal heftig gegen den Kopf der Geschädigten, sodass diese nach kurzer Zeit verstarb. Das LG Memmingen hat angenommen, dass der Angeklagte hierbei in seinem Hemmungsvermögen erheblich eingeschränkt war und das Vorliegen des § 21 StGB bejaht. Einen minder schweren Fall (§ 213 StGB) hat das LG verneint, unter zusätzlicher Heranziehung des vertypten Milderungsgrundes aus §§ 21, 49 Abs. 1 StGB aber die Anwendung des gemilderten Strafrahmens von § 213 Alt. 2 StGB angewendet. Der Angeklagte hat Revision gegen die Entscheidung eingelegt.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hat die Revision des Angeklagten verworfen. Das LG Memmingen habe ohne Rechtsfehler einen minder schweren Fall des Totschlags abgelehnt. Eine „schwere Beleidigung“ i.S.d. § 213 StGB  sei unter Berücksichtigung des Geschehensablaufes, Tatauslösers, der Persönlichkeit und der Täter-Opfer-Beziehung objektiv zu bestimmen. Auch in der Vergangenheit liegende Vorfälle seien mit einzubeziehen. Die Äußerung der Geschädigten sei zwar kränkend gewesen, ein Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages habe jedoch nicht bestanden. Auch die im Vorfeld stattgefundene Kommunikation zwischen den Beteiligten habe das LG Memmingen ausreichend berücksichtigt und rechtsfehlerfrei eine schwere Beleidigung abgelehnt, die sich durch vorherige Geschehen „aufsummier[t]“ habe. Ein sonst minder schwerer Fall i.S.d. § 213 Alt. 2 StGB sei ebenfalls ohne Rechtsfehler angenommen worden. Zwar habe das LG Memmingen zu Lasten des Angeklagten die brutale Vorgehensweise der Tötung angeführt. Dies verstoße jedoch nicht gegen das Doppelverwertungsverbot, da dies vorliegend nicht mit Bezug auf die erforderliche Gewalt, sondern auf die bei der Tat aufgewendete Tötungsabsicht strafschärfend gewertet worden sei. 

KriPoZ-RR, Beitrag 32/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 8.3.2023 – 1 StR 188/22: Zum Arbeitgeberbegriff i.S.v. § 266a StGB 

Amtliche Leitsätze:

 1. Für die Abgrenzung von sog. scheinselbständigen Rechtsanwälten und freien Mitarbeitern einer Rechtsanwaltskanzlei ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung maßgebend; soweit die Kriterien der Weisungsgebundenheit und Eingliederung wegen der Eigenart der Anwaltstätigkeit im Einzelfall an Trennschärfe und Aussagekraft verlieren, ist vornehmlich auf das eigene Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung abzustellen. 

2. Beitragszahlungen von Schwarzarbeitern und illegal Beschäftigten aufgrund einer mit dem Arbeitgeber getroffenen Vereinbarung lassen nicht schon die Tatbestandsmäßigkeit des § 266a Abs. 1 und 2 StGB entfallen, sondern sind erst auf der Ebene der Strafzumessung zu berücksichtigen. 

Sachverhalt:

Der Angeklagte wurde vom LG Traunstein wegen Vorenthaltens und Veruntreuen von Arbeitsentgelt zu einer Gesamtfreiheits- und Gesamtgeldstrafe verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hat der angeklagte Rechtsanwalt mehrere Rechtsanwälte über einen „Freien Mitarbeitervertrag“ zum Schein als selbstständige freie Mitarbeiter beschäftigt. Der Angeklagte wies den Rechtsanwälten die zu bearbeitenden Mandate zu und stellte ihnen die Räume der Kanzlei sowie das Personal zur Verfügung. Die Rechtsanwälte erhielten ein monatliches Honorar. Die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung enthielt der Angeklagte vor. Das LG Traunstein nahm eine abhängige Beschäftigung an, sodass Sozialversicherungspflicht bestehe. Der vorenthaltene Sozialversicherungsbetrag wurde bei der Strafzumessung zugrunde gelegt und mit Beiträgen für die Kranken- und Pflegeversicherung verrechnet. Der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft haben gegen die Entscheidung Rechtsmittel eingelegt. 

Entscheidung des BGH:

Der BGH hat das Urteil im Strafausspruch und Rechtsfolgenausspruch aufgehoben, der Schuldspruch hingegen sei rechtsfehlerfrei erfolgt. Umstritten sei vorliegend die Abgrenzung von unselbständiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit. Der Strafsenat weist auf das Fehlen eines Arbeitgeberbegriffes im StGB und auf die Kriterien nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB IV hin, wonach eine persönliche Abhängigkeit erforderlich sei. Dies setzte Weisungsgebundenheit und die Eingliederung im Einzelfall voraus. Vorliegend seien darüber hinaus die Art der vereinbarten Vergütung, die tatsächlichen Gegebenheiten der „gelebten Beziehung“, sowie das eigene Unternehmerrisiko zu berücksichtigen. Letzteres habe bei den Rechtsanwälten gefehlt. Nach einer wertenden Gesamtbetrachtung seien die Rechtsanwälte nicht als selbstständige freien Mitarbeiter einzuordnen, sondern liege eine abhängige Beschäftigung vor. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer zurückverwiesen. 

Gesetz gegen digitale Gewalt

Hier finden Sie folgende Stellungnahmen: 

 

 

 

 

 

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