Deutsche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung nicht mit Unionsrecht vereinbar

EuGH, Urt. v. 20.9.2022 – C-793/19 und C-794/19 – Volltext

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1    Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.7.2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation, ABl. 2002, L 201, S. 37) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2009 (ABl. 2009, L 337, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2002/58) im Licht der Art. 6 bis 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und von Art. 4 Abs. 2 EUV.

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David Nink: Justiz und Algorithmen. Über die Schwächen menschlicher Entscheidungsfindung und die Möglichkeiten neuer Technologien in der Rechtsprechung

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2021, Duncker & Humblot, ISBN: 978-3-428-18106-3, S. 533, Euro 119,90.

Die Frage, ob und wie Künstliche Intelligenz (KI) für die richterliche Entscheidungsfindung nutzbar gemacht werden kann, wird schon seit geraumer Zeit diskutiert. Hierbei geht es weniger um die Konstellation der Ersetzung richterlicher Entscheidungen durch KI, sondern vielmehr um das Nutzbarmachen von Hilfssystemen zur Arbeitserleichterung. KI im Richterstuhl wird dagegen i.d.R. als Schreckensszenario gezeichnet. Insofern ist es verdienstvoll, sich im Rahmen einer Dissertation darauf einzulassen, unter welchen Voraussetzungen richterliche Entscheidungen automatisierbar sind.

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Stephan Schindler: Biometrische Videoüberwachung. Zur Zulässigkeit biometrischer Gesichtserkennung in Verbindung mit Videoüberwachung zur Bekämpfung von Straftaten

von Prof. Dr. Anja Schiemann

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2021, Nomos, ISBN: 978-3-8487-7113-4, S. 771, Euro 199,00.

Die Debatte um die Vor- und Nachteile biometrischer Videoüberwachung wird schon seit längerer Zeit geführt, da den Vorteilen bei der Strafverfolgung Nachteile u.a. durch Eingriffe in Grundrechte und datenschutzrechtliche Belange entgegenstehen. In der umfangreichen Dissertation von Schindler werden nun ausführlich die rechtlichen und technischen Anforderungen an den polizeilichen Einsatz von Gesichtserkennung in Verbindung mit Videoüberwachung zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten erläutert. Dazu werden nicht nur die verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Anforderungen der deutschen Rechtsordnung, sondern auch europäische und völkerrechtliche Vorgaben in den Blick genommen.

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Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für den Erlass eines (Sicherungs-)Unterbringungsbefehls bei einer Krisenintervention

Gesetzentwürfe: 

 

Das Land Niedersachsen hat am 16. September 2022 einen Gesetzesantrag für den Erlass eines (Sicherungs-)Unterbringungsbefehls bei einer Krisenintervention in den Bundesrat eingebracht (BR Drs. 403/22)

Die Krisenintervention (§ 67h StGB) ermöglicht eine vorübergehende und für die Dauer von drei Monaten beschränkte erneute Unterbringung des Verurteilten zur stationären Behandlung, wenn eine akute Verschlechterung des Zustands oder ein Suchtmittelrückfall eingetreten ist. Ein Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik oder einer Entziehungsanstalt kann so zunächst vermieden werden. Besteht zugleich die Gefahr der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten (Verbrechen oder schwerwiegende Vergehen) durch den Verurteilten, kann das zuständige Gericht die Krisenintervention gem. § 463 Abs. 6 S. 3 StPO zusätzlich für sofort vollziehbar erklären. Es fehlt jedoch an einer Regelung zur Vollstreckung der Anordnung. Im Fall eines beabsichtigten Widerrufs der Bewährungsaussetzung ermöglicht § 453c Abs. 1 StPO den Erlass eines Sicherungshaftbefehls für die Vollstreckung der Freiheitsstrafe. Für die Vollstreckung der Krisenintervention ist jedoch nach aktueller Rechtslage zunächst eine Ladung zum Strafantritt erforderlich. Erst wenn der Verurteilte dieser nicht nachkommt, kann die Vollstreckungsbehörde gemäß § 457 Abs. 2 StPO einen Vorführungs- oder Haftbefehl erlassen, der sodann sofort vollzogen werden kann. Dabei ist das Verfahren zum Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls in den Strafvollstreckungsordnungen der Länder unterschiedlich ausgestaltet. 

Der Entwurf Niedersachsens sieht vor, in Anlehnung an § 453c Abs. 1 StPO eine Änderung des § 463 Abs. 6 StPO und Einfügung eines § 463 Abs. 6a StPO zu schaffen: 

„Sind hinreichende Gründe für die Annahme vorhanden, dass eine Krisenintervention gemäß § 67h des Strafgesetzbuches und deren sofortige Vollziehbarkeit gemäß § 463 Abs. 6 S. 3 angeordnet werden, so kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Beschlusses, um sich der Person des Verurteilten zu versichern, vorläufige Maßnahmen treffen oder unter den Voraussetzungen des § 112 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 oder wenn bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, dass der Verurteilte erhebliche Straftaten begehen wird, einen Sicherungsunterbringungsbefehl erlassen.“

Damit soll die sofort vollziehbare Krisenintervention besser als bislang auch Eilmaßnahmen bei hochakuten psychischen Störungen gefährlicher Verurteilter und eine zügige Rückführung in die stationäre Therapie ermöglichen. Zudem soll ein konsequenter Gleichlauf der Vollstreckungsregeln zwischen einer Maßregel der Sicherung und Besserung und einer Freiheitsstrafe hergestellt werden. 

Der Gesetzesantrag wurde im Plenum vorgestellt und schließlich im Anschluss zur weiteren Beratung an die Ausschüsse verwiesen. Am 29. November 2022 brachte die Länderkammer den Entwurf in den Bundestag ein (BT Drs. 20/4345). Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme eine grundsätzliche Unterstützung für den Vorschlag eines Vollstreckungsunterbringungsbefehls ohne vorherige vergebliche Ladungsversuche im Falle gerichtlich sofort vollziehbarere Kriseninterventionen ausgedrückt. Insgesamt sei die Zielsetzung des Gesetzentwurfes „gut nachvollziehbar“ und werde auf seinen Umsetzungsbedarf geprüft. Kritisch gesehen wurde jedoch die Schaffung einer Rechtsgrundlage für den Erlass eines Sicherungsunterbringungsbefehls vor vor der Anordnung einer Krisenintervention. „Die Krisenintervention ist ihrer Natur nach bereits ein Instrument, das darauf angelegt ist, auf temporäre, gefährliche Krisensituationen adäquat und schnellstmöglich reagieren zu können und stellt damit eine Alternative zum Sicherungsunterbringungsbefehl nach § 453c StPO dar. Der Krisenintervention eine weitere vorläufige Maßnahme vorzuschalten, würde ihrer Struktur nicht gerecht“, so die Bundesregierung. 

 

 

 

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern COM(2022) 209 final

Gesetzentwürfe: 

 

Die Europäische Kommission hat einen Verordnungsvorschlag zur Festlegung von Vorschriften für die Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern auf den Weg gebracht. Er soll die aktuell geltende Übergangsverordnung (Verordnung (EU) 2021/1232 vom 14. Juli 2021) ablösen und hat die Harmonisierung des Binnenmarkts durch einheitliche EU-Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern zum Ziel. Im Kern soll es um die Bekämpfung der Verbreitung von bereits bekannten und neuen Missbrauchsdarstellungen, Grooming im digitalen Raum sowie um die Unterstützung Betroffener gehen. 

Am 16. September 2022 beschäftigte sich der Bundesrat mit dem Verordnungsvorschlag und nahm auf Empfehlung der Ausschüsse (BR Drs. 337/1/22) entsprechend Stellung (BR Drs. 337/22(B)). 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 21/2022

Die Pressemitteilung finden Sie hier. Die Entscheidung im Original finden Sie hier

EuGH, Urt. v. 20.09.2022 – C-793/19 und C-794/19: EuGH erklärt anlasslose Vorratsdatenspeicherung für rechtswidrig, sofern keine ernste Bedrohung vorliegt

Sachverhalt:

Ausgangspunkt für die Vorlage des BVerwG an den EuGH waren Anfechtungen, die die Speicherung von Daten auf Grundlage des TKG betrafen. Das Telekommunikationsgesetz verpflichtet Betreiber zu einer mehrwöchigen Vorratsspeicherung, die allgemein und unterschiedslos erfolgt. Das BVerwG zweifelt an der Vereinbarkeit dieser Vorschriften mit dem Unionsrecht. Insbesondere Rückschlüsse auf das Privatleben und Missbräuche im Hinblick auf den Zugang der Daten seien möglich. 

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH stellt klar, dass nationale Regelungen gegen Unionsrecht verstoßen, wenn die Speicherung der Daten präventiv, allgemein und unterschiedslos erfolge. Hingegen liege in Fällen, in denen eine ernste Bedrohung für die nationale Sicherheit vorliege, keine Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht vor. Bei der Bekämpfung schwerer Kriminalität könne ebenfalls eine gezielte (nicht präventive) Vorratsspeicherung erfolgen. Ferner entwickelt der EuGH weitere Fallgruppen, in denen Ausnahmen von der grundsätzlichen verbotenen Vorratsspeicherung gelten. Im Hinblick auf das streitgegenständliche TKG beanstandet der EuGH, dass durch die lange Speicherung der Daten ein Rückschluss auf Informationen aus dem Privatleben der Person möglich seien und damit ein Verstoß gegen Unionsrecht vorliege.

Anmerkung der Redaktion:

Der deutsche Gesetzgeber hat nun die zulässigen Ausnahmen zu konkretisieren oder eine Streichung der unionsrechtswidrigen Normen vorzunehmen. 

Hintergründe zum Gesetzgebungsverfahren und zur Debatte zur anlasslosen Speicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten der vergangenen Legislaturperioden finden Sie hier.

KriPoZ-RR, Beitrag 20/2022

Die Pressemitteilung finden Sie hier. Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 07.09.2022 – 6 StR 52/22: Fehlendes voluntatives Vorsatzelement – BGH verneint Tötungsvorsatz

Sachverhalt:

Die Angeklagte wurde vom LG Würzburg wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt.  Nach den tatgerichtlichen Feststellungen war die Angeklagte als Altenpflegerin beschäftigt, wobei die Vergabe von Insulin nicht von ihrem Aufgabenbereich umfasst war. Am Tattag entschied die Angeklagte spontan beiden Geschädigten Insulin zu verabreichen. Die Angeklagte hoffte, durch eine anschließende stationäre Behandlung der Geschädigten eine eigene Arbeitsentlastung herbeizuführen. Dass die Insulingabe zu einer lebensgefährlichen Unterzuckerung führen könne, war der Angeklagten bewusst. Zugleich vertraute sie darauf, dass die Geschädigten aufgrund eines herbeigerufenen Notrufes nicht sterben würden, welches auch eintrat. Das Schwurgericht verneinte das Vorliegen des voluntativen Vorsatzelementes. Trotz „extrem hoher Gefährlichkeit“ des Handelns der Angeklagten, da der Angeklagten bewusst war, dass ein Notarzt gerufen werden würde. Gegen das Urteil legte die Staatsanwaltschaft Revision ein. 

Entscheidung des BGH:

Der BGH hat die Revision verworfen. Die Gesamtwürdigung des LG sei widerspruchsfrei. Der subjektive Tatbestand sei ausführlich erörtert worden; die für und gegen die Annahme eines Tötungsvorsatzes sprechenden Umstände vollständig gegeneinander abgewogen worden.  

KriPoZ-RR, Beitrag 19/2022

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 09.08.2022 – 3 StR 206/22: BGH bestimmt Grenzwert für weiteres Betäubungsmittel

Amtlicher Leitsatz:

Für 2C-B (Bromdimethoxyphenethylamin, BDMPEA) beginnt die nicht geringe Menge im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 2 sowie § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG bei einem Gramm.

Sachverhalt:

Wegen Einfuhr und Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge hat das LG Kleve den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Hiergegen legte der Angeklagte Rechtsmittel ein.

Entscheidung des BGH:

Die Revision des Angeklagten wurde als unbegründet verworfen. Das LG hatte als Grenzwert 1 Gramm festgesetzt, welches zutreffend sei. Die Substanz 2C-B ähnele Rauschmitteln wie LSD, MDMA oder Amphetaminen. Gesicherte Erkenntnisse bezüglich der Wirkung lägen allerdings nicht vor, sodass der Grenzwert anhand eines Vergleichswertes (Mescalin) bestimmt werden müsse. 

Redaktionelle Anmerkung:

Der 3. Strafsenat des BGH hat in seinem Beschluss v. 08.03.2022 (3 StR 136/21) bereits Grenzwerte einzelner anderer Betäubungsmittel i.S.v. § 30a BtMG festgelegt. Hintergründe hierzu finden Sie im KriPoZ-RR, Beitrag 10/2022

Entwurf eines Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

Hier finden Sie folgende Stellungnahmen: 

Öffentliche Anhörung im Rechtsausschuss am 17. April 2023: 

 

zum Referentenentwurf des BMJ

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 18/2022

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 10.05.2022 – 4 StR 99/22: Sicherungsverwahrung und Strafzumessung

Amtlicher Leitsatz:

Die zugleich angeordnete Sicherungsverwahrung ist kein bestimmender Strafzumessungsumstand.

Sachverhalt:

Der Angeklagte hat sich nach den tatgerichtlichen Feststellungen wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht. Das LG Bielefeld hat den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und neben Einziehungs- und Adhäsionsentscheidungen die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Der Angeklagte legte gegen die Entscheidung Rechtsmittel ein.

Entscheidung des BGH:

Die Revision hatte teilweise Erfolg. Der Schuldspruch und Strafausspruch wiesen jedoch keine Rechtsfehler auf, so der BGH. Dass bei der Festsetzung der Freiheitsstrafe das LG nicht erörtert habe, dass zugleich die Unterbringung in einer Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, sei nicht rechtsfehlerhaft. 

Zu den in § 46 Abs. 1 S. 2 StGB aufgeführten Strafzumessungsgründen gehöre nicht die Berücksichtigung der Anordnung einer Sicherungsverwahrung. Strafe diene dem Schuldgrundsatz und Sicherungsverwahrung dem Schutz der Allgemeinheit. Damit würden verschiedene Zwecke mit unterschiedlichen Voraussetzungen verfolgt werden, woraus sich keine Wechselwirkung ergebe. 

Neben den Sanktionszwecken argumentiert der Senat mit dem Normzweck des § 46 Abs. 1 S. 2 StGB: „Die Norm soll verhindern, dass die Rechtsfolgen zur Entsozialisierung des Täters führen oder seiner Resozialisierung entgegenstehen.“ Damit dürften Strafe und Maßregel nicht übermäßig sein, welches im Hinblick auf letzteres durch die entsprechenden Regelungen zur Anordnung und Vollstreckung gewährleistet werde. Die Verhältnismäßigkeit der Maßregel sei schließlich gemäß § 62 StGB zu prüfen. Für den Senat korreliere „ mit dem Strafmaß […] daher keine maßregelspezifische Mehrbelastung des Angeklagten, aus der sich ein bestimmender Strafzumessungsumstand zu seinen Gunsten ergeben könnte.“

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