KriPoZ-RR, Beitrag 16/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 20.12.2022 – 2 StR 267/22: Zur „mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung“ i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB

Leitsatz der Redaktion: 

Heftige Schläge gegen den Kopf des Geschädigten können eine das Leben gefährdende Behandlung darstellen. Maßgeblich ist die Art der Ausführung und die Verletzungsfolgen im Einzelfall.

Sachverhalt:

Das LG Gera hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen traf sich der Angeklagte mit dem alkoholkranken und an Leberzirrhose leidendem Nebenkläger und schlug diesem „entweder mit der Faust, mit der flachen Hand oder auch der Handkante mehrmals kraftvoll gegen den Schädel und das Gesicht.“ Nach weiteren Schlägen, die vor allem auf die verletzten Stellen abzielten, in ihrer Art und Anzahl aber nicht feststellbar waren, blutete der Nebenkläger und trug weitere Verletzungen davon. Der Angeklagte legte Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein.

Entscheidung des BGH:

Die Revision des Angeklagten hatte Erfolg. Der Angeklagte habe weder den objektiven noch den subjektiven Tatbestand einer gefährlichen Körperverletzung erfüllt. Eine mittels einer das leben gefährdenden Behandlung i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB setze eine generelle Eignung der Lebensgefährdung voraus, die im Einzelfall festzustellen sei. Auf eine tatsächliche Lebensgefahr, also die eingetretenen Verletzungen komme es nicht an. Der Senat verweist auf die gefestigte Rechtsprechung, wonach „heftige Schläge gegen den Kopf des Opfers“ das Qualifikationsmerkmal erfüllen können. Die Art der Ausführung müsse dabei stets im Einzelfall beurteilt werden. 

Vorliegend habe das LG Gera derartige konkrete Feststellungen nicht getroffen. Weder sei aus der Art und Weise der Ausführung noch aus den festgestellten Verletzungen das Vorliegen einer gefährlichen Körperverletzung ausreichend belegt. Welchen Bezug die konkreten Risikofaktoren des vorerkrankten Nebenklägers zu den Schlägen des Angeklagten darstellen, sei nicht ausreichend erörtert worden. Auch das für den subjektiven Tatbestand erforderliche Wissens- und Willenselement sei nicht hinreichend festgestellt worden. Zwar habe der Angeklagte eine einfache Körperverletzung gebilligt. Nähere Vorstellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten im Hinblick auf eine potentielle Lebensgefährdung des Nebenklägers habe das LG Gera aber nicht dargelegt. 

Der BGH hob die Entscheidung auf und wies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurück. 

KriPoZ-RR, Beitrag 15/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier. Die Pressemitteilung vom 9.3.2023 finden Sie hier. 

BGH, Urt. und Beschl. v. 9.3.2023 – 3 StR 246/22: BGH lehnt Annahme eines minder schweren Falles im Jesidinnen-Prozess ab

Sachverhalt:

Die Angeklagte wurde vom OLG München u.a. wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit gemäß § 7 VStGB und wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer zehnjährigen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen ist die Angeklagte aus Deutschland nach Syrien gereist, um sich dem „Islamischen Staat“ (IS) anzuschließen. Dabei förderte sie die Vernichtung der jesidischen Bevölkerung und Religion, indem sie mit ihrem Mann die Nebenklägerin und ihre Tochter als Sklavinnen in Gefangenschaft hielt. Die Angeklagte bedrohte die Nebenklägerin sie zu erschießen und hat es unterlassen einzugreifen als ihr Mann die Geschädigte festband und direkter Sonneneinstrahlung aussetzte, woran diese verstarb. Die Angeklagte und der Generalbundesanwalt haben Rechtsmittel gegen die Entscheidung des OLG München eingelegt. 

Entscheidung des BGH:

Die Revision der Angeklagten hat der BGH als offensichtlich unbegründet verworfen. Das Rechtsmittel des Generalbundesanwalts hat Erfolg. Das OLG München sei rechtsfehlerhaft vom Vorliegen eines minder schweren Falles gemäß § 7 Abs. 4 Alt. 1 VStGB ausgegangen. Dieser Sonderstrafrahmen komme nur in Betracht, wenn infolge eines umfassenden Abwägungsvorganges das Gericht zu der Entscheidung komme, dass eine erhebliche Abweichung des gesamten Tatbildes vom gewöhnlichen Fall vorliege. Ob das OLG München eine gebotene Gesamtwürdigung vorgenommen hat, sei bereits zweifelhaft. Strafschärfende Umstände wie das Nachtatverhalten und der Tatzeitraum seien unverständlicherweise nicht einbezogen worden. Ferner stellt der Senat fest, dass bei der Wahl des Strafrahmens Delikte (v.a. Beihilfe zum versuchten Mord) als bedeutungslos eingestuft wurden, die unter deren Berücksichtigung sogar strafschärfend wirken würden. Darüber hinaus sei die Tatmotivation nach § 46 Abs. 2 S. 2 StGB nicht ausreichend beachtet worden. Die Annahme einer menschenverachtenden Gesinnung sei vorliegend naheliegend gewesen. 

Die Sache wird zu neuer Entscheidung zurückverwiesen. 

KriPoZ-RR, Beitrag 14/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 5.1.2023 – 5 StR 386/22: Eine weniger stark belastend empfundene Tat kann sich strafmildernd nach § 177 Abs. 9 Var. 3 StGB auswirken

Sachverhalt:

Das LG Berlin hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1 und 2, Abs. 6 S. 2 Nr. 1, Abs. 8 Nr. 1 StGB zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt und einen minder schweren Fall nach § 177 Abs. 9 Var. 3 StGB angenommen. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen traf sich der Angeklagte in seiner Wohnung mit der Nebenklägerin, die sexuelle Handlungen gegen Entgelt anbot. Der Angeklagte beabsichtigte das vereinbarte Entgelt nicht zu entrichten, schloss die Nebenklägerin in die Wohnung ein und bedrohte diese mit einem Küchenmesser. In der Folge kam es unter Ausnutzung dieser Situation zu mehrmaligem ungeschützten Oralverkehr. Schließlich gelang es der Nebenklägerin einen Notruf abzusenden. Strafmildernd berücksichtigte das LG Berlin, dass die Nebenklägerin „mit keiner völlig unvorhersehbaren Sexualpraktik konfrontiert“ worden sei. Der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft legten gegen die Entscheidung Rechtsmittel ein. 

Entscheidung des BGH:

Der 5. Strafsenat des BGH hat sowohl die Revision des Angeklagten als auch der Staatsanwaltschaft verworfen. Unter Zugrundelegung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabes weise die Strafzumessungsentscheidung keine Rechtsfehler auf. Die Strafzumessung sei nicht schematisch, sondern im Einzelfall vorzunehmen. Tatfolgen und Vorgeschehen seien nicht zu generalisieren, vielmehr individuell festzustellen. Starre Vorgaben würden nach der Istanbul-Konvention nicht greifen, sondern der Kontext stets zu berücksichtigen. 

Die Tatfolgen seien vorliegend i.S.v. § 46 Abs. 2 S. 2 StGB individuell festgestellt worden. Die Wertung des LG Berlin, aufgrund der vorherigen Vereinbarung sei „die Nebenklägerin zumindest mit keiner völlig unvorhergesehenen Sexualpraktik konfrontiert“ worden, habe gegen keinen rechtlich anerkannten Strafzweck verstoßen. Mit dieser Wertung sei die Schutzwürdigkeit der sexuellen Selbstbestimmung der Nebenklägerin nicht relativiert oder angenommen worden, dass die Tat für die Nebenklägerin psychisch weniger belastend gewesen wäre. Der BGH erörtert sodann, dass – entgegen früherer Rechtsprechung – die generelle Schutzwürdigkeit der sexuellen Selbstbestimmung auch für Prostituierte nicht gemindert sei, wenn die Handlung erzwungen werde und bezieht sich auf die Änderungen im Sexualstrafrecht durch das 50. StrÄndG. Ferner verweist der Senat auf die jüngst vom BGH getroffene „Stealthing“ Entscheidung und bekräftigt die Unerheblichkeit der Ablehnung durch das Opfer. 

Anmerkung der Redaktion:

Hintergründe zur „Stealthing“ Entscheidung des BGH (Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22) und zu den Auswirkungen durch das 50. StrÄndG finden Sie hier. 

Neuregelung der Vollstreckung von Fahrverboten und Entziehungen der Fahrerlaubnis bei Inhabern ausländischer EU- und EWR-Führerscheine ohne ordentlichen Wohnsitz im Inland

Gesetzentwürfe: 

 

Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr hat gemeinsam mit dem Bundesministerium der Justiz im März 2023 einen Referentenentwurf zur Neuregelung der Vollstreckung von Fahrverboten und Entziehungen der Fahrerlaubnis bei Inhabern ausländischer EU- und EWR-Führerscheine ohne ordentlichen Wohnsitz im Inland auf den Weg gebracht. Bislang sehen die Regelungen zur Vollstreckung von Fahrverboten oder zur Entziehung der Fahrerlaubnis entsprechender Führerscheininhaber vor, dass das Fahrverbot oder die Aberkennung der Fahrberechtigung mit Wirkung für das Inland auf dem Führerschein vorgenommen wird. Mit Urteil vom 29. April 2021 hat der EuGH jedoch entschieden, dass dies nicht richtlinienkonform sei (C-56/20). Dies widerspreche Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG sowie deren Anhang I Nr. 3 S. 3 lit. a Felder 13 und 14 sowie Nr. 4 lit. a woraus sich ergebe, dass Änderungen des EU-Kartenführerscheins nur durch den Mitgliedsstaat vorgenommen werden dürfen, in dem der Führerscheininhaber seinen ordentlichen Wohnsitz hat. So sei gesichert, dass ein einheitliches Erscheinungsbild des Dokumentes erhalten bleibe. 

Der Referentenentwurf sieht daher vor, entsprechende Änderungen im StGB, in der StPO, dem StVG und der FeV vorzunehmen, um die Vollstreckung von bußgeldrechtlichen und strafrechtlichen Fahrverboten als auch die Vollstreckung von verwaltungsrechtlichen oder strafrechtlichen Entziehungen der Fahrerlaubnis richtlinienkonform vornehmen zu können: 

  • Entsprechende Fahrverbote sowie Entziehungen der Fahrerlaubnis werden in das Fahreignungsregister (FAER) eingetragen und sind so für die Kontrollbehörden durch Einsichtnahme ersichtlich. Der Mitgliedsstaat des ordentlichen Wohnsitzes wird in Kenntnis gesetzt, der Führerschein jedoch nicht eingezogen oder dorthin übermittelt.
  • Dies ändert sich im Falle einer strafrechtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB. Neben der Eintragung in das FER wird  der Führerschein eingezogen und an den Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes übersandt. Ggf. kann eine Übersendung bereits im Rahmen einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) erfolgen.
  • Bußgeld- und strafrechtliche Fahrverbote erlangen gleichermaßen einen Monat nach der Entscheidung Rechtskraft. Die Regelung zur Verbotsfrist in § 268c StPO, sowie die Schonfristregelungen in § 25 Abs. 2a StVG werden angepasst. 

Die Fachverbände haben nun bis zum 5. April 2023 Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 13/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier. Die Pressemitteilung ist hier abrufbar.

BVerfG, Beschl. v. 19.1.2023 – 2 BvR 1719/21: BVerfG befindet mehrtägige Fesselung eines Sicherungsverwahrten als Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht

Leitsätze der Redaktion:

1. In das allgemeine Persönlichkeitsrecht wird durch eine Fesselungsanordnung eingegriffen. 

2. Bei der Eingriffsintensität ist neben stigmatisierenden Auswirkungen auch das Alter und die gesundheitliche Verfassung sowie das Verhalten des Sicherungsverwahrten mit zu berücksichtigen. 

3. Fesselungen sind an Art. 3 EMRK zu messen, wonach individuell zu prüfen ist, ob eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr besteht.

Sachverhalt:

Der in der Sicherungsverwahrung untergebrachte Beschwerdeführer wurde aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen in ein Krankenhaus eingeliefert. Bei den Fahrten zwischen Justizvollzuganstalt und Krankenhaus war der Beschwerdeführer dauerhaft gefesselt. Weiterhin hatte man ihn seinen gesamten Aufenthalt im Krankenhaus über, entweder an Händen oder Füßen gefesselt. Während der Nachsorge blieb der Beschwerdeführer für drei Tage durchgängig an sein Bett gefesselt. Daraufhin hatte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Eilrechtsschutz beim LG Arnsberg hinsichtlich der Umstände seines Aufenthalts im Krankenhaus gestellt. Das LG Arnsberg hatte die Anträge des Beschwerdeführers jedoch abgewiesen und die Fesselung durch die Justizvollzugsanstalt als begründet angesehen.  Auch das OLG Hamm hatte die gegen den Beschluss des LG Arnsberg erhobene Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers abgewiesen. Der Beschwerdeführer erhob Verfassungsbeschwerde und rügte, dass die mehrtägige Fesselung ihn in seinen Grundrechten verletze.

Entscheidung des BVerfG:

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die Beschlüsse des LG Arnsberg und des OLG Hamm verletzen den Beschwerdeführer in seinem aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Das LG Arnsberg habe bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit die Bedeutung und Tragweite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verkannt, indem es die 96-stündige Fesselung des Beschwerdeführers als verhältnismäßig bestimmt habe. Das Landgericht hätte mildere Mittel einsetzen müssen, wie ein phasenweises Aussetzen der Fesselung durch Erhöhung der bewaffneten Justizbediensteten. Des Weiteren hätte das Landgericht die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers intensiver berücksichtigen und die Wahrscheinlichkeit seiner Fluchtmöglichkeiten ausgiebiger überprüfen müssen. Beim Transport des Beschwerdeführers hat das Landgericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 69 Abs. 9 StVollzG NRW missachtet, wonach eine Fesselung des Gefangenen nur erforderlich ist, wenn eine Beaufsichtigung nicht ausreicht. Zudem wurden die Vorgaben zur Dokumentation der Maßnahmen durch die anordnende Vollzugsbehörde in § 70 Abs. 4 S. 4 StVollzG NRW durch die Justizvollzugsanstalt weder eingehalten noch ging das Landgericht auf diesen Umstand ein. Das OLG Hamm habe durch seinen Beschluss den Beschwerdeführer ebenfalls in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Indem sich das OLG den Ausführungen des Landgerichts anschloss, hat es ebenfalls die Bedeutung und Tragweite des aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht verkannt.

Das BVerfG hat die angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen aufgehoben und die Sache zurück an das Landgericht verwiesen.

KriPoZ-RR, Beitrag 12/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 23.11.2022 – 5 StR 347/22: BGH zur Aufhebung von angefochtenen Urteilen nach § 353 Abs. 1 StPO und Einhaltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens

Amtlicher Leitsatz:

Hat eine zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft allein zum Strafausspruch Erfolg, gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens, abweichend von § 353 Abs. 1 StPO auch den Schuldspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben, wenn dieser auf einem im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO abgelegten Geständnis des Angeklagten beruht.

Sachverhalt:

Der Angeklagte wurde vom LG Berlin wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und vier Monaten verurteilt und eine Einziehung wurde angeordnet. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hat der Angeklagte, der zuvor verschiedene Rauschmittel konsumiert hatte, zusammen mit weiteren Mittätern, dem Tatopfer schwere Gesichtsverletzungen hinzugefügt und ihm diverse Wertgegenstände entwendet. Die Strafkammer war von einer verminderten, aber nicht aufgehobenen Schuldfähigkeit des Angeklagten ausgegangen und war zu dem Ergebnis gekommen, dass der Strafrahmen des Angeklagten gemildert werden müsste. Die Staatsanwaltschaft erhob, zuungunsten des Angeklagten, Revision gegen die Entscheidung des Landgerichts Berlin.

Entscheidung des BGH:

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Der 5. Strafsenat des BGH hob das Urteil auf. Die Strafzumessung durch das LG Berlin sei rechtsfehlerhaft erfolgt. Die Feststellungen zur verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten haben nicht auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruht, so der BGH. Eine mehrstufige Prüfung über einen möglichen Ausschluss der Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) oder Vorliegen des § 21 StGB sei von dem LG nicht vorgenommen worden. Hierzugehörige Feststellungen zu Ausmaß und Auswirkungen der Intoxikation auf die konkrete Tatsituation seien nicht getroffen worden. Dies habe zu einer rechtsfehlerhaften Strafbemessung durch die Strafkammer geführt.

Dieser Rechtsfehler führt nach Auffassung des 5. Strafsenats des BGH ausnahmsweise nicht nur zu einer Aufhebung des Straf-, sondern auch des Schuldausspruchs. Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebiete es im Falle einer vorherigen Verständigung, die ein Geständnis des Angeklagten zum Gegenstand hatte, von § 353 Abs. 1 StPO abzuweichen. Weiterhin hat der Senat das vom Angeklagten in der Hauptverhandlung abgelegte Geständnis für die neue Verhandlung als verwertbar eingestuft. Voraussetzung sei die Nichtüberschreitung der in erster Instanz festgelegten Strafobergrenze durch die neue Strafkammer des LG Berlin. Zudem müsse in der neuen Verhandlung der Strafrahmen nach den Vorgaben des materiellen Rechts korrigiert werden.

Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer verwiesen.

Eckpunktepapier des BMJ zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts

Gesetzentwürfe: 

 

Das BMJ hat am 23. Februar 2o23 ein Eckpunktepapier zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts veröffentlicht. 

Als „besonders leistungsfähiger Rechtsstaat“ sei es erforderlich, dass sich die rechtsstaatlichen Institutionen Deutschlands bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen besonders engagieren. Die gegenwärtigen Herausforderungen des russischen Angriffskrieges hätten gezeigt, dass das Völkerstrafrecht gestärkt und fortentwickelt werden müsse. Strafbarkeitslücken sollen geschlossen, Opferrechte gestärkt und die Breitenwirksamkeit des Völkerstrafrechts verbessert werden. 

Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann dazu: „Das Völkerstrafrecht ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Sein zentrales Versprechen ist von dramatischer Aktualität: Völkerrechtsverbrechen dürfen nicht ungesühnt bleiben! Deutschland hat eine besondere Verantwortung, dieses Versprechen mit Leben zu füllen: aufgrund unserer Geschichte und aufgrund der Stärke unseres Rechtsstaats. Der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mahnt uns, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Ich setze mich deshalb für eine Fortentwicklung des Völkerstrafrechts ein: Ich will Strafbarkeitslücken schließen und Opferrechte stärken. Egal ob in Butscha, in Damaskus oder andernorts – überall muss gelten: Wenn die Waffen sprechen, schweigt das Recht nicht.“

Das Eckpunktepapier sieht dazu vor: 

  • Erweiterung der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs, da sie sich aktuell nur auf die Angehörigen von Staaten, die Vertragsparteien des Römischen Statuts sind erstreckt
  • Verfahrensaspekte: 
    • Nebenklagebefugnis für Opfer von Straftaten nach dem VStGB
    • Verdolmetschung für Medienvertreter in Gerichtsverfahren
    • Videoaufzeichnung zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken
    • Übersetzung von Urteilen auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts
  • Fortentwicklung des VStGB
    • Anpassungen im Hinblick auf sexualisierte, reproduktive und geschlechtsbezogene Gewalt
    • Anpassungen im Hinblick auf den ergänzten Artikel 8 des Römischen Statuts (die Tatbestände aus Artikel 8 des Statuts zur Verwendung von Waffen, deren Splitter mit Röntgenstrahlen nicht erkennbar sind, sowie der Verwendung von dauerhaft blindmachenden Laserwaffen sollen in das VStGB überführt werden)

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 11/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier. Die Pressemitteilung ist hier abrufbar.

BGH, Beschl. v. 10.11.2022 – 4 StR 192/22: Von dem Mordmerkmal der gemeingefährlichen Mittel ist die „schlichte“ Mehrfachtötung nicht erfasst 

Sachverhalt:

Der Angeklagte wurde vom LG Kassel wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung und gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt und die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hat der Angeklagte sein Fahrzeug mehrmals in den Rosenmontagsumzug gelenkt, um möglichst viele Personen zu töten. Hierbei verletzte der Angeklagte 88 Personen, teilweise wurden diese schwer verletzt. Die Strafkammer ging von einer heimtückischen Begehungsweise aus und bejahte das Vorliegen gemeingefährlicher Mittel. Der Angeklagte erhob Revision gegen die Entscheidung des LG Kassel

Entscheidung des BGH:

Der 4. Strafsenat des BGH verwarf weitestgehend die Revision. Hinsichtlich des Mordmerkmals der gemeingefährlichen Mittel stellt der Senat fest, dass dieses vorliege, „[…] wenn der Täter ein Tötungsmittel einsetzt, das in der konkreten Tatsituation eine unbestimmte Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben gefährden kann, weil er die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat.“ Der Senat knüpft an die bisherige Rechtsprechung an, wonach es nicht nur auf die abstrakte Gefährlichkeit ankomme. Die „[…] Eignung und Wirkung in der konkreten Situation unter Berücksichtigung der persönlichen Fähigkeiten und Absichten des Täters“ sei entscheidend. Eine Mehrfachtötung bei der keine Zufallsopfer in Kauf genommen werden, reiche nicht aus. 

So liege es in diesem Fall, weshalb das Mordmerkmal der gemeingefährlichen Mittel nicht gegeben sei. Aufgrund der Lenkmanöver ergebe sich, dass sich die Tötungsabsicht des Angeklagten auf die vor ihm stehenden Personen bezog und damit individualisierte. Außerhalb dieses Bereichs, nicht individualisierte getroffene Personen seien für den Angeklagten Zufallsopfer gewesen, die dieser in Kauf nahm. Ferner stellt der BGH fest, dass für das Vorliegen der Voraussetzungen der § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB die körperliche Misshandlung durch den Einsatz des Kfz als Werkzeug ausgelöst worden sein müsse, also ein unmittelbarer Kontakt gegeben sein muss. Nicht abschließend festzustellen sei, worauf die Verletzungen zurückzuführen seien.

Der Senat ändert den Schuldspruch in analoger Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO entsprechend ab. Die lebenslange Freiheitsstrafe und der Ausspruch über die besondere Schwere der Schuld bleiben hiervon unberührt. Aufgehoben hat der Senat zudem, soweit die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung vorbehalten worden ist.

KriPoZ-RR, Beitrag 10/2023

Die Entscheidung im Original finden Sie hier. Die Pressemitteilung finden Sie hier.

BVerfG, Urt. v. 16.02.2023 – 1 BvR 1547/19, 1 BvR 2634/20: Regelungen zur polizeilichen Datenanalyse in Hessen und Hamburg verfassungswidrig

Amtliche Leitsätze:

1. Werden gespeicherte Datenbestände mittels einer automatisierten Anwendung zur Datenanalyse oder -auswertung verarbeitet, greift dies in die informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) aller ein, deren Daten bei diesem Vorgang personenbezogen Verwendung finden.

2. Das Eingriffsgewicht einer automatisierten Datenanalyse oder -auswertung und die Anforderungen an deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung ergeben sich zum einen aus dem Gewicht der vorausgegangenen Datenerhebungseingriffe; insoweit gelten die Grundsätze der Zweckbindung und Zweckänderung. Zum andern hat die automatisierte Datenanalyse oder -auswertung ein Eigengewicht, weil die weitere Verarbeitung durch eine automatisierte Datenanalyse oder -auswertung spezifische Belastungseffekte haben kann, die über das Eingriffsgewicht der ursprünglichen Erhebung hinausgehen; insoweit ergeben sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne weitergehende Rechtfertigungsanforderungen.

3. Diese weitergehenden Anforderungen an die Rechtfertigung einer automatisierten Datenanalyse oder -auswertung variieren, da deren eigene Eingriffsintensität je nach gesetzlicher Ausgestaltung ganz unterschiedlich sein kann. Das Eingriffsgewicht wird insbesondere durch Art und Umfang der verarbeitbaren Daten und die zugelassene Methode der Datenanalyse oder -auswertung bestimmt. Der Gesetzgeber kann die Eingriffsintensität durch Regelungen zu Art und Umfang der Daten und zur Begrenzung der Auswertungsmethode steuern.

4. Ermöglicht die automatisierte Datenanalyse oder -auswertung einen schwerwiegenden Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung, ist dies nur unter den engen Voraussetzungen zu rechtfertigen, wie sie allgemein für eingriffsintensive heimliche Überwachungsmaßnahmen gelten, also nur zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter, sofern für diese eine zumindest hinreichend konkretisierte Gefahr besteht. Das Erfordernis einer zumindest hinreichend konkretisierten Gefahr für besonders gewichtige Rechtsgüter ist nur dann verfassungsrechtlich verzichtbar, wenn die zugelassenen Analyse und Auswertungsmöglichkeiten durch Regelungen insbesondere zur Begrenzung von Art und Umfang der Daten und zur Beschränkung der Datenverarbeitungsmethoden normenklar und hinreichend bestimmt in der Sache so eng begrenzt sind, dass das Eingriffsgewicht der Maßnahmen erheblich gemindert ist.

5. Grundsätzlich kann der Gesetzgeber den Erlass der erforderlichen Regelungen zu Art und Umfang verarbeitbarer Daten und zu den zulässigen Datenverarbeitungsmethoden zwischen sich und der Verwaltung aufteilen. Er muss aber sicherstellen, dass unter Wahrung des Gesetzesvorbehalts insgesamt ausreichende Regelungen getroffen werden.

a. Der Gesetzgeber muss die wesentlichen Grundlagen zur Begrenzung von Art und Umfang der Daten und der Verarbeitungsmethoden selbst durch Gesetz vorgeben.

b. Soweit er die Verwaltung zur näheren Regelung organisatorischer und technischer Einzelheiten ermächtigt, hat der Gesetzgeber zu gewährleisten, dass die Verwaltung die für die Durchführung einer automatisierten Datenanalyse oder -auswertung im Einzelfall maßgeblichen Vorgaben und Kriterien in abstrakt-genereller Form festlegt, verlässlich dokumentiert und in einer vom Gesetzgeber näher zu bestimmenden Weise veröffentlicht. Das sichert auch die verfassungsrechtlich gebotene Kontrolle, die insbesondere durch Datenschutzbeauftragte erfolgen kann.

Sachverhalt:

Die Analyseplattform „hessenDATA“ der Polizei Hessen beruht auf § 25a HSOG. In Hamburg lautet § 49 Abs. 1 HmbPolDVG weitgehend gleich. Beide Regelungen stellen eine spezielle Rechtsgrundlage dar, um personenbezogene Daten im Rahmen einer Analyse bzw. Auswertung weiter zu verarbeiten. Dies erfolgt mittels automatisierter Anwendung. Die Beschwerdeführer haben gegen die Regelungen Verfassungsbeschwerde erhoben.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG hat die Entscheidung angenommen und entschieden, dass die § 25a Abs. 1 Alt. 1 HSOG und § 49 Abs. 1 Alt. 1 HmbPolDVG verfassungswidrig sind. Es liege ein Verstoß gegen das in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG enthaltene Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor. Der Eingriffsanlass (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten) sei nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die erforderliche Schwelle der konkretisierten Gefahr sei nicht erreicht. Die Befugnisse seien besonders daten- und methodenoffen. 

Die Regelung in Hessen gilt bis zum 30.09.2023 fort. Die entsprechende Regelung in Hamburg wurde für nichtig erklärt.

KONTAKT
schriftleitung@kripoz.de

Herausgeberin
Prof. Dr. Anja Schiemann

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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