KriPoZ-RR, Beitrag 03/2021

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 5 StR 256/20: Zum Merkmal „Mensch“ i.S.d. §§ 211 ff. StGB bei Kaiserschnitten

Amtlicher Leitsatz:

Bei einer operativen Entbindung (Kaiserschnitt, sectio caesarea) beginnt die Geburt und damit der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB regelmäßig mit der Eröffnung des Uterus zum Zweck der dauerhaften Trennung des Kindes vom Mutterleib; dies gilt auch bei einer Mehrlingsgeburt.

Sachverhalt:

Das LG Berlin hat die Angeklagten jeweils wegen Totschlags verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen sind die Angeklagten fachlich versierte Geburtsmediziner. Die Angeklagte R als Leitende Oberärztin einer Klinik für Geburtsmedizin, der Angeklagte V als deren Chefarzt.

Im Jahr 2009 war es zu einer Zwillingsschwangerschaft der Zeugin S gekommen. Es hatte sich herausgestellt, dass einer der Zwillinge eine schwere Hirnschädigung entwickelt hatte wohingegen der andere Zwilling in seiner Entwicklung nicht beeinträchtigt gewesen war. Die Entwicklungsstörung des Fetus war derart ausgeprägt, dass sie einen Schwangerschaftsabbruch auch bis zur Geburt gem. § 218a Abs. 2 StGB gerechtfertigt hatte.

Am 11. Juni 2010 hatte sich die Zeugin für einen selektiven Fetozid entschieden. Bei diesem nur in zwei Spezialkliniken in Deutschland durchführbaren medizinischen Eingriff wird die Nabelschnur des einen Zwillings verschlossen, was zum Tod dieses Fetus führt. Danach werden im Optimalfall ein gesundes Kind und der tote Fetus geboren.

Die Zeugin hatte sich allerdings im Spezialklinikum nicht gut betreut gefühlt und deshalb vom selektiven Fetozid abgesehen.

Nach einer Untersuchung durch die Angeklagte R, hatte sich die Zeugin von dieser gut betreut gefühlt und einem Schwangerschaftsabbruch doch zugestimmt. Die beiden Angeklagten hatten daraufhin die Möglichkeiten erörtert und sich, als es zu Wehen kam, entschieden, einen Kaiserschnitt durchzuführen, bei dem zunächst der gesunde Zwilling geboren werden sollte und anschließend der andere Fetus mittels Kaliumchloridinjektion noch im eröffneten Uterus getötet werden sollte.

Den beiden Angeklagten war dabei bewusst, dass diese Verfahrensweise in Fachkreisen nicht vorgesehen ist und juristisch als Tötung eines Menschen gewertet wird. Dennoch hatten sie den Plan umgesetzt und den gesunden Zwilling per Kaiserschnitt geboren, danach den geschädigten, aber dennoch lebensfähigen Fetus, per Injektion getötet und schließlich auch diesen aus der Gebärmutter entnommen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Entscheidung des LG, da der getötete Zwilling im Zeitpunkt der Injektion bereist ein Mensch im Sinne der §§ 211 ff. StGB gewesen sei.

Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen Leibesfrucht und Mensch im Sinne des StGB sei seit jeher der Beginn der Geburt, da gerade im während des gefährlichen Geburtsvorgangs ein besonderer Schutz auch vor fahrlässigen Handlungen gegeben sein müsse.

Eine normale Geburt beginne mit dem Einsetzen der Eröffnungswehe. Bei einem Kaiserschnitt sei der maßgebliche Zeitpunkt die Eröffnung des Uterus zum Zweck der Beendigung der Schwangerschaft durch Entnahme des Kindes aus dem Mutterleib. Dies begründet der Senat damit, dass in diesem Zeitpunkt ein Abbruch der Geburt praktisch nicht mehr in Betracht komme und der Fetus damit erstmalig direkt vom Geburtsvorgang betroffen sei.

Dabei bleibe außer Betracht, ob es sich um ein oder mehrere Kinder handele. Zwar gebe es Fälle einer zeitversetzten Geburt zweier Feten, bei denen dann der Geburtszeitpunkt unterschiedlich zu bestimmen sei. Im vorliegenden Fall habe es sich jedoch um eine einzige Öffnung des Uterus mit dem letztlichen Ziel der Entnahme beider Feten aus dem Mutterleib gehandelt.

Da es sich bei den beiden Angeklagten um erfahrene Geburtsmediziner gehandelt habe, sei es auch rechtsfehlerfrei gewesen, dass das LG den Vorsatz beider Angeklagten angenommen hat.

Ebenfalls rechtsfehlerfrei habe das LG eine direkte oder analoge Anwendung des § 218a Abs. 2 StGB abgelehnt, da dieser vom Gesetzgeber plangemäß nur für Schwangerschaftsabbrüche jedoch nicht für Tötungen nach den §§ 211 ff. StGB greifen solle.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Frage, wann bei einem Kaiserschnitt der Beginn der Geburt im strafrechtlichen Sinne zu sehen ist, war bisher höchstrichterlich nicht entschieden.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 02/2021

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BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 5 StR 197/20: Aufgabe der Senatsrechtsprechung zum Beruhen eines Urteils auf einem Verstoß gegen die Bescheidungspflicht des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO

Amtlicher Leitsatz:

Auf dem Unterlassen der Bescheidung eines Widerspruchs gegen das Selbstleseverfahren kann ein Urteil regelmäßig nicht beruhen, weil dieses Verfahren eine gleichwertige Alternative zum Verlesen einer Urkunde ist.

Sachverhalt:

Das LG Hamburg hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

Nach dem für das Revisionsvorbringen maßgeblichen Verfahrensgeschehen hatte der Vorsitzende am 13. Hauptverhandlungstag eine Anordnung zur Durchführung des Selbstleseverfahrens getroffen und entsprechende Unterlagen verteilt. Am darauffolgenden Verhandlungstag hatte der Verteidiger des Angeklagten einen Widerspruch gegen die Einführung der Vermerke erhoben. Über diesen erging bis zum Urteil keine Entscheidung.

Die Revision sieht in diesem Vorgehen einen Verstoß gegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO.

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf die Revision, da das für einen reversiblen Verfahrensverstoß des tatgerichtlichen Urteils erforderliche Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensfehler (vgl. § 337 Abs. 1 StPO) bei einem Verstoß gegen die Bescheidungspflicht des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO regelmäßig ausgeschlossen sei.

Dies begründete der Senat damit, dass es für ein Beruhen des Urteils auf dem Fehler nicht ausschließbar sein dürfe, dass sich der Verfahrensfehler auf die Entscheidung des Gerichts ausgewirkt habe. Im Falle des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO bedeute dies, dass bei einer alternativen Verlesung der Urkunden nach § 249 Abs. 1 StPO ein anderes Ergebnis des Gerichts denkbar sein müsse.

Da allerding nach der gesetzlichen Wertung das Verlesen von Urkunden nach § 249 Abs. 1 StPO und das Selbstlesen nach § 249 Abs. 2 StPO gleichwertige Möglichkeiten zur Einführung des Urkundsbeweises in die Hauptverhandlung darstellten, sei ein Rechtsfehler bei der Frage, welches Verfahren vom Vorsitzenden gewählt werde, regelmäßig nicht zu erwarten.

Beide Verfahren gewährleisteten die Einführung desselben Beweisinhalts in die Hauptverhandlung und beide Verfahren böten in gleichem Maße die Möglichkeit der Mitwirkung für die Verfahrensbeteiligten.

Lediglich in Ausnahmefällen sei ein Verfahrensverstoß bei Vorziehung der einen Variante gegenüber der anderen denkbar, beispielsweise bei Unfähigkeit des Angeklagten zu lesen, sodass ein Urteil regelmäßig nicht auf einem Verstoß gegen die Bescheidungspflicht des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO beruhe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Damit rückt der Senat von seiner bisherigen Rechtsprechung ab, die einen Verstoß gegen die Bescheidungspflicht aus § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO als reversibel ansah und ein Beruhen des Urteils auf diesem Fehler nicht von vornherein ausschloss (Beschl. v. 28.08.2012 – 5 StR 251/12).

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 01/2021

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BGH, Beschl. v. 14.10.2020 – 5 StR 229/19: Zur Einziehung des Erlangten bei der Marktmanipulation

Amtlicher Leitsatz:

1. Zur Bestimmung des erlangten Etwas im Sinne von § 73 Abs. 1 StGB in Fällen der Marktmanipulation.

2. § 100a Abs. 1 Satz 1 stopp erlaubt den Zugriff auf beim Provider zwischen- oder endgespeicherte („ruhende“) E-Mails.

Sachverhalt:

Das LG Hamburg hat die Angeklagten wegen Marktmanipulation in fünf Fällen verurteilt. Daneben hat es Einziehungsanordnungen gegen einen Angeklagten und die Einziehungsbeteiligten getroffen.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatten die Angeklagten in einem Tatkomplex handelsgestützte Marktmanipulation in Form von abgesprochenen Eigengeschäften (§ 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG) betrieben. In den übrigen Fällen hat das LG die Taten als informations- und handlungsgestützte Marktmanipulation (§ 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 WpHG) abgeurteilt. Aufgrund aller Taten hat das Tatgericht den gesamten Erlös aus den Aktienverkäufen als Tatertrag im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB angesehen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH korrigierte die Einziehungsentscheidungen, da das LG das erlangte Etwas im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB nicht zutreffend bestimmt habe.

Vermögensvorteile seien im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB und § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB durch die rechtswidrige Tat erlangt, wenn sie dem Tatbeteiligten oder Drittbegünstigten aufgrund der Verwirklichung des Tatbestandes in irgendeiner Phase des Tatablaufs zuflössen. Erforderlich sei eine Kausalbeziehung zwischen der Tat und dem Erlangen des Vermögensvorteils, sodass diese strafrechtswidrige Bereicherung in Form des messbaren Vermögensvorteils entfiele, wenn die Tat hinweggedacht würde.

Dieser Zusammenhang entfalle, wenn erst eine weitere nicht tatbestandsmäßige Handlung das Zufließen des Vermögensvorteils auslöse, so der BGH in Wiederholung seiner ständigen Rechtsprechung.

Für die Fälle der Marktmanipulation bedeute dies, dass in den Fällen des informations- und handlungsgestützten Manipulationsvorgangs der gesteigerte Wert der noch gehaltenen Aktien für eine Einziehung nach §§ 73 ff. StGB maßgeblich sei. Der in einem weiteren Schritt durch den – an sich nicht rechtswidrigen – Verkauf der Aktien generierte Erlös könne in solchen Fällen nicht herangezogen werden, da diesem der erforderliche Kausalzusammenhang fehle. Somit könne die Höhe des Einziehungsumfangs in diesen Fällen regelmäßig nach dem Veräußerungsgewinn bestimmt werden, so der BGH.

Etwas Anderes gelte in Fällen der handelsgestützten Marktmanipulation. Da hier der Zufluss des Verkaufserlöses unmittelbar auf dem die Manipulation begründenden abgesprochenen Eigenverkauf beruhe, unterliege auch der gesamte Verkaufserlös der Einziehung. Die Erwerbskosten für die Aktien blieben hierbei außer Betracht, da diese Aufwendungen in Planung der späteren Marktmanipulation gemacht würden und daher das Abzugsverbot des § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB eingreife, so der Senat.

Da das LG in allen Tatvarianten von einer Einziehung des gesamten Verkaufserlöses ausgegangen sei, seien die Einziehungsentscheidungen zu korrigieren gewesen.

Ebenfalls stellte der BGH klar, dass § 100a Abs. 1 Satz 1 StPO eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für den verdeckten Zugriff auf beim Provider bereits gespeicherte E-Mails darstelle.

Zwar könnten solche Mails auch offen nach § 94 StPO erlangt werden, allerdings werde § 100a StPO von § 94 StPO ebenso wenig ausgeschlossen, wie § 94 StPO von § 100a StPO verdrängt werde, da sich beide Ermittlungsmaßnahmen ergänzten.

Zudem sei die Anwendung des § 100a StPO nicht auf E-Mails beschränkt, die nach Anordnung der Maßnahme versandt oder empfangen würden. Dies ergebe sich schon daraus, dass solche Mails unproblematisch von § 94 StPO erfasst sein. Daher müsse der im Hinblick auf seine Anordnungsvoraussetzungen deutlich strengere § 100a StPO erst recht anwendbar sein. Gleiches bestätige ein Umkehrschluss zur sog. Quellen-TKÜ nach § 100a Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 lit. b StPO, welche eine explizite zeitliche Einschränkung vorsehe, die bei § 100a Abs. 1 Satz 1 StPO fehle.

 

Anmerkung der Redaktion:

Hinsichtlich der Einziehung hatte der BGH bereits in seinem Beschluss vom 4. November 2020 (2 StR 32/20) darauf hingewiesen, dass zur Bestimmung des tatsächlich erlangten Etwas die jeweiligen Transaktionen genau im Hinblick auf die Nutzung des konkreten Depots und gegebenenfalls einer Clearingstelle als zentralem Kontrahenten in den Blick zu nehmen sei.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 92/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 18.11.2020 – 4 StR 118/20: Mehrmalige Hemmung der Unterbrechungsfristen nach § 229 Abs. 1 und Abs. 2 StPO

Amtlicher Leitsatz:

Die Hemmung der Unterbrechungsfristen nach § 229 Abs. 1 und Abs. 2 StPO kann bei wiederholter Erkrankung einer oder mehrerer der in § 229 Abs. 3 Satz 1 StPO genannten Personen grundsätzlich mehrmals eintreten. Ausreichend ist, wenn zwischen zwei Unterbrechungen nach § 229 Abs. 3 Satz 1 StPO mindestens an einem Tag verhandelt worden ist.

Sachverhalt:

Das LG Gera hat den Angeklagten wegen schweren Bandendiebstahls in vierzehn Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich mit Sachbeschädigung und in einem weiteren Fall tateinheitlich mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis, sowie wegen versuchten schweren Bandendiebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung in vierzehn Fällen, davon in vier Fällen in Tateinheit mit Diebstahl, sowie wegen Bandendiebstahls, versuchten Diebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung und wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt.

Nach dem für das Revisionsvorbringen maßgeblichen Verfahrensgeschehen war die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten am 13. Februar 2018 begonnen worden. Am 21. Hauptverhandlungstag, dem 18. September 2018, war sie unterbrochen und am 29. Oktober 2018 fortgesetzt worden. Das LG hatte danach gem. § 229 Abs. 3 Satz 1 StPO festgestellt, dass eine Hemmung der Unterbrechungsfrist wegen Erkrankung einer beisitzenden Richterin eingetreten gewesen war. Dieses Vorgehen hatte sich nach neun tägiger Verhandlung und einer weiteren Unterbrechung zwischen dem 18. Dezember 2018 und dem 6. Februar 2019 wiederholt, da die Vorsitzende Richterin erkrankt gewesen war. Nach Fortsetzung der Verhandlung an sechs Verhandlungstagen, musste sie zwischen dem 12. März 2019 und dem 16. April 2019 erneut wegen Erkrankung der beisitzenden Richterin unterbrochen worden. Zum dritten Mal stellte das LG daraufhin im Beschlusswege die Hemmung der Unterbrechungsfrist gem. § 229 Abs. 3 StPO fest.

Nach Ansicht der Revision sei eine solche wiederholte Hemmung der Unterbrechungsfrist nicht möglich, da dies einen Verstoß gegen die Konzentrationsmaxime darstelle. Dies führe dazu, dass die Unterbrechung vom 18. Dezember 2018 bis zum 6. Februar 2019 und die vom 12. März bis zum 16. April 2019 die Fristen des § 229 Abs. 1 und 2 StPO überschritten hätten.

Entscheidung des BGH:

Der BGH wies die Verfahrensrüge als unbegründet ab, da eine Hemmung der Unterbrechungsfristen nach § 229 Abs. 3 StPO bei wiederholter Erkrankung erneut eintreten könne, wenn dazwischen zumindest an einem Tag in der Sache verhandelt worden sei.

Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut des § 229 Abs. 3 StPO, der weder Einschränkungen für eine wiederholte Hemmung enthalte noch eine bestimmte Anzahl an Fortsetzungsterminen fordere. Dies verdeutliche darüber hinaus ein Vergleich der Absätze 2 und 3 des § 229 StPO, da in Abs. 3 das Wort „jeweils“ fehle und deshalb die Voraussetzung einer zehntägigen Verhandlungsdauer nur einmalig zu Beginn der ersten Unterbrechung vorliegen müssten.

Auch der Sinn und Zweck der Regelung stütze diese Auslegung, denn dieser bestehe darin, es dem Gericht zu ermöglichen, eine Hauptverhandlung bei unbeeinflussbaren Einflüssen fortzusetzen. Dies sei nicht möglich, wenn für eine erneute Hemmung zunächst eine bestimmte Anzahl an Tagen verhandelt werden müsse, so der BGH.

Das Erfordernis von mindestens zehn Verhandlungstagen zu Beginn der Unterbrechung in § 229 Abs. 3 StPO ändere daran nichts, denn dieses solle nur sicherstellen, dass eine Hemmung erst eintreten kann, wenn die Hauptverhandlung so komplex ist, dass der Aufwand der bereits zur Erkenntnisgewinnung betrieben worden sei, nicht umsonst gewesen sein soll.

Schließlich greife auch das systematische Gegenargument, wonach eine wiederholte Anwendung des Abs. 3 der Detailregelung in Abs. 2 widerspreche, nicht durch, da jeder einzelne Absatz des § 229 StPO eine Ausgestaltung des strafprozessualen Konzentrationsgrundsatzes sei, die sich jeweils auf spezifische Verfahrenslagen bezögen.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Frage nach einer Hemmung der Unterbrechungsfristen des § 229 Abs. 1 und 2 StPO aufgrund unvorhergesehener Ereignisse, wie beispielsweise einer Erkrankung, hat vor dem Hintergrund der aktuellen Corona-Pandemie an Relevanz gewonnen. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht einen speziellen und befristeten Hemmungsgrund in § 10 EGStPO eingeführt. Dieser darf nicht mit § 229 Abs. 3 StPO verwechselt werden.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 91/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 19.11.2020 – 4 StR 431/20: Corona-Hemmungsgrund des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO

Amtlicher Leitsatz:

Zur Anwendbarkeit des Hemmungsgrundes des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO bei ärztlich angeratener Kontaktvermeidung eines Prozessbeteiligten zum Schutz von dessen Ehegatten vor einer Ansteckung durch das SARS-CoV-2-Virus.

Sachverhalt:

Das LG Bielefeld hat den Angeklagten in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a. Delikte verurteilt.

Für die der Revision zugrundeliegende Verfahrensrüge war folgendes Geschehen maßgeblich:

Die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten war am 13. März 2020 unterbrochen und erst am 30. April 2020 fortgesetzt worden. An diesem Tag war dann ein Beschluss verkündet worden, der mitteilte, dass der Lauf der Unterbrechungsfrist vom 28. März bis zum 29. April nach § 10 EGStPO gehemmt gewesen sei. Zur Begründung war darauf abgestellt worden, dass der Vorsitzende am 28. März von einer unaufschiebbaren Herzoperation des Ehemannes einer Schöffin terminiert auf den 14. April erfahren habe. Um die Gesundheit ihres Ehemannes nicht zu gefährden, habe die Schöffin daher alle Kontakte zur Außenwelt auf ein Minimum herunterfahren müssen.

Der Revisionsführer hat gerügt, dass die Dreiwochenfrist des § 229 Abs. 1 StPO nicht eingehalten worden sei sowie die Voraussetzungen des § 10 EGStPO nicht vorgelegen hätten.

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf die Revision des Angeklagten.

Das Verstreichenlassen der Dreiwochenfrist stelle keinen Rechtsverstoß dar, da die Hemmungswirkung des § 10 EGStPO kraft Gesetzes eintrete. Der grundsätzlich deklaratorische Beschluss habe also nur in Bezug auf die unanfechtbare Feststellung des Beginns und des Endes der Hemmung konstitutive Bedeutung, so der BGH.

Zu den Voraussetzungen des § 10 EGStPO führte der Senat aus, dass die Feststellung der Hemmung aufgrund des § 336 Satz 2 Alt. 1 StPO lediglich einer Willkürprüfung unterzogen werden könne. Danach sei die Schutzmaßnahme aufgrund der ärztlichen Empfehlung nachvollziehbar gewesen, da sie zum Schutz einer zur Risikogruppe gehörenden Person gedient habe.

Dieses Hindernis zur Durchführung der Hauptverhandlung beruhe zwar nur mittelbar auf den Schutzmaßnahmen, da die Schöffin nicht selbst, sondern lediglich ihr Ehemann betroffen war. Dies sei nach der Gesetzesbegründung jedoch unerheblich.

Dass das LG keine anderen Infektionsschützenden Maßnahmen getroffen habe, sondern die Hauptverhandlung für eine längere Zeitspanne unterbrochen hat, sei jedenfalls nicht willkürlich und daher revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, so der Senat.

 

Anmerkung der Redaktion:

§ 10 EGStPO war am 27. März 2020 durch das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19 Pandemie eingeführt worden, um die Unterbrechung strafrechtlicher Hauptverhandlungen aus Infektionsschutzgesichtspunkten vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie zu ermöglichen.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 90/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 18.11.2020 – 4 StR 35/20: Falsche Schlüssel vergisst man leicht

Amtlicher Leitsatz:

Ein bei dem Berechtigten in Vergessenheit geratener Schlüssel ist kein falscher Schlüssel im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB.

Sachverhalt:

Das LG Essen hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit Wohnungseinbruchdiebstahl sowie unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln verurteilt.

Nach den, für den Leitsatz relevanten, tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte aus dem Schlüsselkasten seiner Lebensgefährtin einen Schlüssel für die Wohnung ihrer Ex-Schwiegereltern an sich genommen. Den Schlüssel hatte sie entweder von ihrem damaligen Ehemann oder seinen Eltern erhalten, was nach der Trennung in Vergessenheit geraten war.

Am nächsten Morgen war der Beschuldigte dann zu der Wohnung der Eheleute gefahren, die sich – wie er wusste – im Urlaub befunden hatten. Er hatte sich mit dem zuvor mitgenommen Schlüssel Zugang zur Wohnung verschafft und diverse Gegenstände und Bargeld entwendet. Danach hatte er spontan ein Feuer in der Wohnung gelegt, um seinen Diebstahl zu verschleiern.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte im Grundsatz das Urteil des LG, hob jedoch die Verurteilung wegen Wohnungseinbruchdiebstahls auf, da der Angeklagte keinen falschen Schlüssel zur Tatausführung verwendet habe.

Ein Schlüssel sei im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB falsch, wenn er zum Tatzeitpunkt vom Berechtigten nicht oder nicht mehr zur Öffnung bestimmt sei. Dabei sei die Voraussetzung noch nicht erfüllt, wenn sich der Täter lediglich eines zur Öffnung durchaus gewidmeten Schlüssels unbefugt bediene. Daher sei für die Klassifikation eines Schlüssels als falsch allein der Wille des zur Verfügung über die Wohnung berechtigten, ob er den Schlüssel nicht, noch nicht oder nicht mehr zur Öffnung des Wohnungsschlosses bestimmt sehen möchte, maßgeblich. Dieser Wille könne ausdrücklich oder konkludent zum Ausdruck kommen.

So sei es in der neueren Rechtsprechung des BGH anerkannt, dass ein gestohlener oder abhanden gekommener Schlüssel seine Bestimmung zur Öffnung nicht von selbst verliere, sondern der Verlust vom Berechtigten dafür erst bemerkt werden müsse. Dann sei davon auszugehen, dass der Berechtigte den Schlüssel auch ohne für Dritte erkennbaren Willensakt, entwidmet habe.

Daher sei auch bei einem bloßen Vergessen eines Schlüssels noch keine Entwidmung desselben anzunehmen, so der Senat.

Es müsse verhindert werden, dass der erhöhte Strafrahmen der §§ 244 Abs. 1 Nr. 3 sowie 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB bereits zur Anwendung komme, ohne dass der Berechtigte überhaupt einen entsprechenden Willen zur Entwidmung gefasst habe. Für eine Entwidmung müsse ein verlorener Schlüssel daher zumindest wieder in das Bewusstsein des Berechtigten rücken, um dann von diesem als endgültig verloren betrachtet werden zu können.

Daher könne bei dem von den Ex-Schwiegereltern vergessenen Schlüssel nicht von einem falschen Schlüssel iSd § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB ausgegangen werden.

 

Anmerkung der Redaktion:

Bei beendeten Vertragsverhältnissen sieht der BGH dies anders und nimmt bei Schlüsseln, die zurückzufordern vergessen worden sind, eine konkludente Entwidmung an (vgl. BGH, Urt. v. 24.02.1959 – 5 StR 668/58).

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 89/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 10.11.2020 – 1 BvR 3214/15: Sog. Data-Mining nach dem Antiterrordateigesetz teilweise verfassungswidrig

Amtliche Leitsätze:

1. Regelungen, die den Datenaustausch zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten ermöglichen, müssen den besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen der hypothetischen Datenneuerhebung genügen („informationelles Trennungsprinzip“).

2. Das Eingriffsgewicht der gemeinsamen Nutzung einer Verbunddatei der Polizeibehörden und Nachrichtendienste ist bei der „erweiterten Nutzung“ (Data-mining) weiter erhöht.

3. Die erweiterte Nutzung einer Verbunddatei der Polizeibehörden und Nachrichtendienste muss dem Schutz von besonders gewichtigen Rechtsgütern dienen und auf der Grundlage präzise bestimmter und normenklarer Regelungen an hinreichende Eingriffsschwellen gebunden sein.

a) Für die erweiterte Nutzung zur Informationsauswertung muss diese zur Aufklärung einer bestimmten, nachrichtendienstlich beobachtungsbedürftigen Aktion oder Gruppierung im Einzelfall geboten sein; damit wird ein wenigstens der Art nach konkretisiertes und absehbares Geschehen vorausgesetzt.

b) Für die erweiterte Nutzung zur Gefahrenabwehr muss eine wenigstens hinreichend konkretisierte Gefahr gegeben sein.

c) Für die erweiterte Nutzung zur Verfolgung einer Straftat muss ein durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht vorliegen, für den konkrete und verdichtete Umstände als Tatsachenbasis vorhanden sind.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer hat mit seiner Verfassungsbeschwerde § 6a Abs. 1 bis 3 ATDG angegriffen, da diese ungerechtfertigt in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) eingriffen.

In der Antiterrordatei als sog. Verbunddatei werden, zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus von den Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder, Daten über bestimmte Personen gespeichert.

Bei einer Auskunftsanforderung werden dabei gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 a ATDG lediglich die Grunddaten (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 a ATDG) zu einer Person, wie Name, Geschlecht sowie Geburtsdatum, übermittelt. Erweiterte Grunddaten (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 b ATDG), also Bankverbindungen, Familienstand und Volkszugehörigkeit, werden nur in Eilfällen und unter besonders strengen Voraussetzungen mitgeteilt.

Nach § 6a ATDG ist es mittlerweile erlaubt, alle in § 3 ATDG gespeicherten Daten einer sog. erweiterten Nutzung (§ 6a Abs. 5 ATDG) zuzuführen. Dabei werden Zusammenhänge zwischen Personen, Personengruppierungen, Institutionen, Objekten und Sachen hergestellt und alle Informationen statistisch ausgewertet. Damit werde es möglich, die Antiterrordatei auch zur Schaffung neuer Erkenntnisse aus den Querverbindungen der gespeicherten Daten zu nutzen (sog. Data-mining).

Da er möglicherweise und typischerweise unbemerkt von der Regelung betroffen und eine regelmäßige Abfrage der über ihn gespeicherten Daten nicht möglich sei, stelle der am 1. Januar 2015 in Kraft getretene § 6a ATDG einen ungerechtfertigten Eingriff in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, so der Beschwerdeführer.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG gab der Beschwerde statt und erklärte § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG für verfassungswidrig im Übrigen wies es sie als unbegründet zurück.

Der Beschwerdeführer sei klagebefugt, da möglicherweise Daten von ihm in der Datei gespeichert und erweitert ausgewertet würden. Da die Nutzung der Daten typischerweise heimlich erfolge, könne dem Beschwerdeführer nicht zugemutet werden, einen belastenden Vollzugsakt abzuwarten und gegen diesen den Rechtsweg zu beschreiten. Da er auch durch seine Auskunftsverlangen keine zuverlässige Kenntnis von etwaigen Maßnahmen erlangen würde und jederzeit ein neuer Datensatz angelegt und ein Projekt zur erweiterten Auswertung der Daten initiiert werden könne, sei er unmittelbar, selbst und auch gegenwärtig betroffen.

Die Befugnisse, die § 6a Abs. 1 bis 3 ATDG den Behörden verleihe, griffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Im Falle des § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG sei dieser Eingriff unverhältnismäßig und damit nicht gerechtfertigt, so das BVerfG.

Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG schütze die freie Entfaltung der Persönlichkeit gerade dort, wo personenbezogene Informationen von staatlichen Behörden in einer Art und Weise genutzt und verknüpft würden, die Betroffene weder überschauen noch beherrschen könnten.

Daher müssten Befugnisse zum Datenaustausch zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten nach dem informationellen Trennungsprinzip den besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen der hypothetischen Datenneuerhebung genügen. Dabei sei es abhängig von der konkreten Eingriffsintensität der Maßnahme, wie streng die Voraussetzungen für den Datenaustausch ausgestaltet werden müssten.

§ 6a ATDG verfolge zwar ein legitimes Ziel, sei geeignet und auch erforderlich, allerdings genüge § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit nicht.

Nach der vorzunehmenden Abwägung, die sich auch an Art, Umfang und denkbarer Verwendung der Daten sowie der Gefahr ihres Missbrauchs bestimme, komme der Norm eine gesteigerte Belastungswirkung zu. Die heimliche erweiterte Datennutzung aus § 6a Abs. 5 ATDG ermögliche nicht nur eine Informationsanbahnung nach Maßgabe des Fachrechts, sondern als Ergebnis einer automatisierten Verknüpfung und Analyse der eingespeisten Daten auch die Erzeugung neuer Erkenntnisse und Zusammenhänge. Diese Erkenntnisse könnten unmittelbar zu operativen Zwecken verwendet werden, was die Eingriffsintensität zusätzlich erhöhe. Dies gelte allerdings nur eingeschränkt für die Nutzung durch Nachrichtendienste, da hier die Erkenntnisse lediglich wiederum in die weitere Vorfeldaufklärung einflössen. Zu bedenken sei jedoch auch hier, dass dadurch ein Gefühl des unkontrollierbaren Beobachtetwerdens erzeugt werden könne, was zu einer Einschüchterung der Bevölkerung führen könne, so der Senat.

Aufgrund der so ermittelten Belastungsintensität sei es erforderlich, dass die Erzeugung neuer Erkenntnisse und Zusammenhänge durch Verknüpfung der Daten aus verschiedenen Quellen einem herausragenden öffentlichen Interesse dienten und sie sei daher nur zum Schutz von besonders gewichtigen Rechtsgütern wie Leib, Leben und Freiheit der Person sowie Bestand oder Sicherheit des Bundes oder eines Landes zulässig.

Diesen Anforderungen werde § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG nicht gerecht. Zwar lasse die Vorschrift die erweiterte Nutzung nur zum Schutz von Rechtsgütern zu, die besonders gewichtig seien. Der Befugnis nach § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG fehle jedoch eine hinreichend qualifizierte Eingriffsschwelle.

Indem die Norm lediglich die Erforderlichkeit im Einzelfall zur Aufklärung weiterer Zusammenhänge des Einzelfalls ausreichen lasse, stelle sie nicht klar genug heraus, dass für eine Datennutzung zum Zwecke der Strafverfolgung ein über den strafprozessualen Anfangsverdacht hinausgehender verdichteter Tatverdacht erforderlich sei.

Die Absätze 1 und 3 des ATDG seien hingegen verfassungsgemäß, wenn man auch bei § 6a Abs. 3 Satz 1 ATDG eine zumindest konkretisierte Gefahr für die Vor- oder Umfeldermittlung fordere. Bei einer anderen Lesart wäre auch diese Vorschrift verfassungswidrig.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Anforderungen an den Datenschutz bei staatlichen Übermittlungs- und Abrufregelungen personenbezogener Daten hatte das BVerfG erst im Mai 2020 in seiner zweiten Entscheidung zur Bestandsdatenauskunft präzisiert. Die Entscheidung finden Sie hier.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 88/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 08.12.2020 – C-584/19: Deutsche Staatsanwaltschaften dürfen trotz Weisungsgebundenheit Europäische Ermittlungsanordnungen erlassen

Amtlicher Leitsatz:

Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen sind dahin auszulegen, dass unter die Begriffe „Justizbehörde“ und „Anordnungsbehörde“ im Sinne dieser Bestimmungen der Staatsanwalt eines Mitgliedstaats oder ganz allgemein die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats fällt, unabhängig davon, ob zwischen diesem Staatsanwalt oder dieser Staatsanwaltschaft und der Exekutive dieses Mitgliedstaats möglicherweise ein rechtliches Unterordnungsverhältnis besteht und dieser Staatsanwalt oder diese Staatsanwaltschaft der Gefahr ausgesetzt ist, im Rahmen des Erlasses einer Europäischen Ermittlungsanordnung unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive unterworfen zu werden.

Sachverhalt:

Das Landesgericht für Strafsachen in Wien hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die StA Hamburg trotz ihrer Weisungsgebundenheit als Justizbehörde im Sinne des Art. 1 Abs. 1 und als Anordnungsbehörde im Sinne des Art. 2 c) der Richtlinie 2014/41 anzusehen sei.

Die StA Hamburg führt ein Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs des Betrugs gegen den Beschuldigten A. Dieser soll Überweisungsaufträge gefälscht und somit Zahlungen auf sein Konto bei einer Österreichischen Bank erlangt haben. Im Rahmen einer Europäischen Ermittlungsanordnung hatte die StA Hamburg daher bei der StA Wien Unterlagen zu dem Konto angefordert. Diese hatte eine nach Österreichischem Recht erforderliche richterliche Genehmigung für die Ermittlungsmaßnahme beantragt. Das mit der Sache befasste vorlegende Gericht hat erläutert, dass die Europäische Ermittlungsanordnung eine gerichtliche Entscheidung sei, die jedoch nach dem Text der Richtlinie auch von einem Staatsanwalt erlassen oder validiert werden könne. Allerdings hält es die Rechtsprechung des EuGH in Bezug auf den Europäischen Haftbefehl für anwendbar, die eine Unabhängigkeit der StA von Einzelweisungen fordert, um im Lichte des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens Europäische Haftbefehle ausstellen zu können.

Das Gewicht der Grundrechtseingriffe der verschiedenen Maßnahmen sei vergleichbar. Da die Richtlinie Staatsanwälte allerdings explizit als Anordnungsbehörde einstufe, könne dies auch zu einem anderen Auslegungsergebnis führen.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH stellte zunächst klar, dass die Europäische Ermittlungsanordnung ein Instrument zur Vereinfachung und effektiveren Ausgestaltung grenzüberschreitender Ermittlungsmaßnahmen darstelle und als Bestandteil der justiziellen Zusammenarbeit im Sinne des Art. 82 Abs. 1 AEUV auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung beruhe.

Die Ermittlungsanordnung müsse daher von einer Anordnungsbehörde im Sinne von Art. 2 c) der Richtlinie erlassen werden oder, wenn eine solche Anordnung von einer anderen Anordnungsbehörde als einer der in Ziff. i. genannten erlassen werde, von einer Justizbehörde validiert werden.

Zunächst spreche der klare Wortlaut der Norm, der Staatsanwälte explizit als Anordnungsbehörde nenne und als einzige sachliche Voraussetzung deren Zuständigkeit vorsehe, für eine Irrelevanz einer etwaigen Weisungsgebundenheit.

Aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. c Ziff. i und ii der Richtlinie 2014/41 gehe auch hervor, dass durch den Erlass oder die Validierung einer Europäischen Ermittlungsanordnung durch einen Staatsanwalt diese Entscheidung als gerichtliche Entscheidung einzustufen sei.

Daneben sei der Erlass bzw. die Validierung einer Europäischen Ermittlungsanordnung nicht mit der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls vergleichbar, da das Verfahren anderen Garantien unterliege. Die Richtlinie zum Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnung enthalte spezifische Anforderungen, die die erlassende Behörde wahren müsse und somit auch Staatsanwälte verpflichte, die nationalen Verfahrensgarantien einzuhalten.

Schließlich beruhe die Ermittlungsanordnung zwar, wie auch der Europäische Haftbefehl, auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Allerdings sähen die Bestimmungen der Richtlinie durchaus vor, dass die Vollstreckungsbehörde auf die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie die Verfahrens- und Grundrechte der Beschuldigten achte.

Auch sei die Zielsetzung der Richtlinie eine andere. Während der Europäische Haftbefehl auf die Überstellung einer Person zur Durchführung des Strafverfahrens oder der Strafvollstreckung gerichtet sei, solle die Europäische Ermittlungsanordnung lediglich Beweismittel liefern, die teilweise auch der Entlastung eines Beschuldigten dienen könnten.

Diese Unterschiede in Wortlaut, Systematik und Zweck rechtfertigten eine unterschiedliche Behandlung der Europäischen Ermittlungsanordnung im Vergleich zum Europäischen Haftbefehl.

 

Anmerkungen der Redaktion:

Im Mai 2019 hatte der EuGH entschieden, dass die deutschen Staatsanwaltschaften ob ihrer Weisungsgebundenheit keine Europäischen Haftbefehle ausstellen dürfen, ohne sie gerichtlich bestätigen zu lassen. Weitere Informationen dazu im KriPoZ-RR, Beitrag 61/2019.

Die Europäische Ermittlungsanordnung wurde 2017 vom Deutschen Gesetzgeber im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen eingeführt. Weitere Informationen erhalten Sie hier.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 87/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 11.11.2020 – 5 StR 124/20: Heimtücke und niedrige Beweggründe

Leitsatz der Redaktion:

Schafft der Täter unter Ausnutzung der Arglosigkeit seines Opfers Bedingungen, die fortwirken und ihm die spätere Tötung erleichtern, kann dies Heimtücke begründen auch, wenn später nicht genau aufgeklärt werden kann, wie die eigentliche Tötung ablief.

Sachverhalt:

Das LG Lübeck hat den Angeklagten wegen Totschlags verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der aus dem Irak stammende Angeklagte eine Beziehung mit seinem späteren Opfer geführt und es auch heiraten wollen. Allerdings war es immer wieder zu Streitereien und Trennungen zwischen den beiden gekommen, da der Angeklagte sehr besitzergreifend und eifersüchtig gewesen war. Insbesondere hatte ihm nicht gefallen, dass sie Kontakt zu einem anderen Mann gehabt hatte.

Nach einer erneuten Trennung und Versöhnung hatte der Angeklagte das Opfer bei einem Treffen mit diesem Mann gesehen. Er war sehr wütend und eifersüchtig gewesen und hatte das Opfer für eine Aussprache mit seinem Auto abgeholt. Seine Hoffnung war, sie noch für sich gewinnen zu können. Gleichzeitig hatte er jedoch für den Fall, dass seine Hoffnungen enttäuscht würden, ein Messer eingesteckt. Nach einer längeren Fahrt hatte der Angeklagte das Fahrzeug in einer unbewohnten, ländlichen Gegend angehalten. Beide waren ausgestiegen und nachdem der Angeklagte hatte erkennen müssen, dass das Opfer kein Interesse mehr an einer Beziehung mit ihm hatte, hatte er sie erstochen und am Straßenrand liegen gelassen. Dabei hatte er nach der Wertung des LG den Tötungsentschluss spontan erst nach dem Verlassen des Wagens gefasst.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da die Feststellungen des LG rechtsfehlerhaft gewesen seien.

Die Ansicht des LG, dass im Moment der Tat keine Arglosigkeit des Opfers habe festgestellt werden können und der spontane Tötungsentschluss ein bewusstes Ausnutzen einer etwaigen Arglosigkeit durch den Angeklagten ebenfalls fernliegend erscheinen lasse, sei nicht tragbar.

Zum einen spreche zwar für die Ablehnung des Mordmerkmals der Heimtücke, dass im grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs eine Arglosigkeit des Opfers nicht habe festgestellt werden können. Zum anderen genüge es bei einer geplanten Tat jedoch, wenn die Vorkehrungen, die der Täter ergreife um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, auf der Arglosigkeit des Opfers beruhten und diese im Zeitpunkt der Tötung noch fortwirkten.

Dies habe das LG außer Acht gelassen, indem es nicht erörtert habe, dass das bei Fahrtbeginn arglose Opfer von dem Angeklagten in ein unbewohntes Gebiet verbracht worden sei, wo es seinem Angriff schutzlos ausgeliefert gewesen sei.

Gegen einen spontanen Tatentschluss des Angeklagten spreche zudem, dass er sich mit dem Messer bewaffnet habe.

Auch die Ablehnung der niedrigen Beweggründe sei widersprüchlich, so der BGH.

Die Bewertung der Motivlage als niedrig erfordere eine Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren. Dabei seien die Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich. Indem das LG wiederum die Spontanität des Tötungsentschlusses als Argument gegen das Mordmerkmal anführe, verkenne es abermals den Umstand, dass sich der Angeklagte vor der Tat gezielt mit dem Messer bewaffnet habe.

 

Anmerkungen der Redaktion:

Zur Beurteilung der Motivlage nach den sittlichen und rechtlichen Werten der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland siehe: BGH, Urt. v. 28.11.2018 – 5 StR 379/18.

Zur Heimtücke bei von langer Hand geplanten Taten siehe: BGH, Beschl. v. 31.07.2018 – 5 StR 296/18.

 

 

 

Containern von Lebensmitteln entkriminalisieren – Stellungnahmen

Hier finden Sie folgende Stellungnahmen: 

Öffentliche Anhörung im Rechtsausschuss am 17. April 2023: 

 

Öffentliche Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz am 10. Dezember 2020: 

 

 

 

 

 

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