KriPoZ-RR, Beitrag 41/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 05.09.2019 – 1 StR 99/19: Keine Einziehung von ersparter Einkommensteuer, wenn diese zu einer Doppelbelastung des Beschuldigten geführt hätte

Leitsatz der Redaktion:

Erhält der Täter ein Bestechungsgeld, das er nicht in seiner Steuererklärung angibt und so Aufwendungen für die Einkommenssteuer erspart, können nicht zugleich die erhaltene Bestechungssumme und die ersparten Steueraufwendungen als Taterträge eingezogen werden, da dies zu einer Doppelbelastung des Täters führen würde.

Sachverhalt:

Das LG Neuruppin hat den Angeklagten wegen Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr und wegen Steuerhinterziehung verurteilt und die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe der Bestechungssumme und der ersparten Aufwendungen für verkürzte Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag angeordnet.

Die Revision hat sich gegen die Einziehung der ersparten Aufwendungen gerichtet.

Entscheidung des BGH:

Der BGH gab dem Rechtsmittel statt und ordnete die Einziehung von Taterträgen nur hinsichtlich der erhaltenen Bestechungszahlungen an.

Dazu führte er aus, dass die Einziehung von ersparten Steueraufwendungen zwar im Grundsatz rechtsfehlerfrei sei, da solche ein erlangtes Etwas iSd § 73 Abs. 1 StGB darstellten. Allerdings komme in diesem Fall eine Einziehung beider Positionen nicht in Betracht, da dem Angeklagten dann in Summe ein mehr als 40% höherer Betrag eingezogen würde, als er überhaupt erlangt habe. Dies sei mit der Rechtsprechung des BVerfG, die Doppelbelastungen ausschließe, nicht zu vereinbaren.

Nach dem Willen des Gesetzgebers, erkennbar durch die Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, sollten solche Doppelbelastungen dadurch vermieden werden, dass die eingezogenen ersparten Aufwendungen selbst wiederum als Ausgaben von der Steuer absetzbar seien. Ein solches Vorgehen führe allerdings dazu, dass der Ausgleich der Doppelbelastung erst im Rahmen der steuerlichen Veranlagung für den maßgeblichen Zeitraum vorgenommen werden könne. Dies sei im Hinblick darauf, dass der Steuerbetrag dem Staat im Ergebnis ohnehin nicht dauerhaft zufließe, nicht zu rechtfertigen.

Auch könne ein solches Vorgehen dazu führen, dass die Beträge der ursprünglich eingezogenen ersparten Steueraufwendungen und der Steuerersparnis (durch die Anrechnung des eingezogenen Betrages als Ausgaben) unterschiedlich hoch seien.

All das führe dazu, dass die Einziehung der ersparten Steueraufwendungen zu unterbleiben habe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die strafrechtliche Vermögensabschöpfung wurde im April 2017 durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung novelliert. Alle Materialien zum Gesetzgebungsverfahren finden Sie hier.

Die Entscheidung des BVerfG zum Verbot der Doppelbelastung finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 40/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Beschl. v. 18.09.2019 – 2 BvR 1165/19: Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit auch ohne konkrete Anzeichen einer drohenden Depravation

Leitsatz der Redaktion:

§ 53 Abs. 3 StVollzG NRW fordert im Lichte des Gebots, die Lebenstüchtigkeit eines Gefangenen zu erhalten und zu festigen, keine konkreten Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation. Vor solchen konkreten Anzeichen soll das Gebot gerade schützen.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war wegen Totschlags zu einer zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt worden.

Nachdem er etwas mehr als sechs Jahre verbüßt hatte, hatte er im Jahr 2018 bei der Justizvollzugsanstalt eine erste Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit beantragt, welche von der JVA mit der Begründung abgelehnt worden war, dass der Beschwerdeführer keine Anzeichen einer drohenden Einschränkung der Lebenstüchtigkeit aufweise.

Nachdem dieser Bescheid vom LG Bielefeld aufgehoben worden war, weil er keine ausreichende Abwägung erkennen lassen hatte, hatte die JVA den Antrag erneut negativ beschieden, da der Inhaftierte keine Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten zeige und eine Ausführung nur in gefesseltem Zustand möglich sei, was dem Zweck der Ausführung zuwiderlaufe.

Dieser Bescheid war sowohl vom LG als auch vom OLG Hamm aufrechterhalten worden. Der Beurteilungsspielraum, der der JVA zustünde, sei gewahrt worden, da alle Gründe die für und gegen eine Ausführung gesprochen hatten, abgewogen worden seien. Eine drohende Einschränkung der Lebenstüchtigkeit sei rechtsfehlerfrei und unter Anwendung der Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation abgelehnt worden. Die Eingangsvoraussetzung des § 53 Abs. 3 Satz 1 StVollzG NRW fordere, dass eine Einschränkung der Lebenstüchtigkeit entweder feststellbar sei oder nach konkreten Anhaltspunkten zumindest drohe, eine lange Haftdauer allein genüge unterdessen nicht.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG hob die Beschlüsse des LG Bielefeld und des OLG Hamm auf, da sie den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Resozialisierung aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG verletzten.

Dieses Grundrecht verpflichte zu einer auf Resozialisierung und Behandlung ausgerichteten Ausgestaltung des Strafvollzuges. Gerade bei langen Haftstrafen müsse den schädlichen Auswirkungen des Vollzugs entgegengewirkt werden, wobei das Gebot zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit nicht erst dann eingreife, wenn der Gefangene bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweise.

Um dieses Ziel zu erreichen, seien dem Gefangenen Vollzugslockerungen oder vollzugsöffnende Maßnahmen, wie beispielsweise eine Ausführung, zu gewähren soweit dies möglich sei. Deren Ablehnung greife in das durch Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Resozialisierungsinteresse des Insassen ein.

Daher dürfe eine Ablehnung durch die JVA insbesondere nicht unter Hinweis auf pauschale Wertungen oder einer abstrakten Flucht- bzw. Missbrauchsgefahr erfolgen, so das BVerfG. Es sei vielmehr eine Gesamtwürdigung vorzunehmen und konkrete Anhaltspunkte darzulegen, die eine Prognoseentscheidung zur tatsächlichen Flucht- oder Missbrauchsgefahr des Gefangenen stützten.

Anhand dieser Maßstäbe hätten das LG und das OLG die Voraussetzungen an eine Ausführung nach § 53 Abs. 3 StVollzG NRW fehlerhaft ausgelegt.

Indem die Instanzgerichte eine konkrete Gefahr für eine drohende Einschränkung der Lebenstüchtigkeit gefordert hätten, hätten sie den Sinn des grundrechtlichen Gebots, den Strafvollzug am Resozialisierungsziel auszurichten, verkannt.

Weise ein Gefangener bereits Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation auf, handele es sich schon um konkrete haftbedingte Schädigungen, vor denen der Inhaftierte zu schützen gewesen sei.

Daraus folge, dass einem langjährig inhaftierten Gefangenen Ausführungen zu gewähren seien, auch, wenn er noch keine Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation zeige. Anders sei nur zu entscheiden, wenn eine konkrete und durch aktuelle Tatsachen belegbare Missbrauchs- oder Fluchtgefahr bestehe, der nicht durch die Begleitung von Bediensteten, der Festlegung von zusätzlichen Auflagen oder der verhältnismäßigen Anordnung einer Fesselung begegnet werden könne.

Ein pauschaler Verweis auf eine frühere aus dem offenen Vollzug heraus begangen Tat ohne aktuelle Gefahrenprognose genüge ebensowenig, wie eine Versagung mit dem pauschalen Argument, eine Ausführung unter Fesselung entspreche nicht dem realen Erleben und verfehle daher ihren Zweck.

Anmerkung der Redaktion:

Bereits 2017 hatte das OLG Hamm entschieden, dass die Annahme einer Missbrauchs- oder Fluchtgefahr positiv festgestellt werden müsse (OLG Hamm, Beschl. v. 06.07.2017 – 1 Volz (Ws) 209/17).

Am 14. Dezember 2017 hat das OLG Hamm beschlossen, dass keine konkreten Anzeichen für eine drohende Einschränkung der Lebenstüchtigkeit zur Anordnung von Maßnahmen nach § 53 Abs. 3 StVollzG NRW erforderlich seien. Daher verwirrt das Abweichen von der eigenen Rechtsprechung in diesem Fall.

Den Beschluss vom Dezember 2017 finden Sie hier.

Zur Fesselung, die dem Zweck der Ausführung nicht entgegenwirke, hat das OLG Hamm am 28.12.2018 entschieden.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 39/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 15.10.2019 – C-128/18: Überprüfung der Haftbedingungen durch den Ausstellungsstaat vor Erlass eines Europäischen Haftbefehls

Amtliche Leitsätze:

Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats belegen, zum Zweck der Beurteilung, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, nach ihrer Übergabe an diesen Mitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt sein wird, alle relevanten materiellen Aspekte der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der diese Person konkret inhaftiert werden soll, berücksichtigen muss, wie etwa den persönlichen Raum, über den jeder Gefangene in einer Zelle dieser Anstalt verfügt, die sanitären Verhältnisse und das Ausmaß der Bewegungsfreiheit des Gefangenen innerhalb dieser Anstalt. Diese Beurteilung ist nicht auf die Prüfung offensichtlicher Unzulänglichkeiten beschränkt. Für eine solche Beurteilung muss die vollstreckende Justizbehörde von der ausstellenden Justizbehörde die für notwendig erachteten Informationen erbitten und sich grundsätzlich auf die Zusicherungen dieser Behörde verlassen, wenn keine konkreten Anhaltspunkte darauf schließen lassen, dass die Haftbedingungen gegen Art. 4 der Charta verstoßen.

Was speziell den persönlichen Raum betrifft, über den jeder Gefangene verfügt, so muss die vollstreckende Justizbehörde, da im Unionsrecht gegenwärtig keine Mindestnormen hierzu existieren, die Mindestanforderungen berücksichtigen, die sich aus Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergeben. Bei der Berechnung dieses verfügbaren Raums ist zwar die durch Sanitärvorrichtungen belegte Fläche nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche. Den Gefangenen muss es jedoch möglich bleiben, sich in der Zelle normal zu bewegen.

Die vollstreckende Justizbehörde darf das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nicht allein deshalb ausschließen, weil die betroffene Person im Ausstellungsmitgliedstaat über einen Rechtsbehelf verfügt, der es ihr ermöglicht, die Bedingungen ihrer Haft zu beanstanden, oder weil es in diesem Mitgliedstaat gesetzgeberische oder strukturelle Maßnahmen gibt, die darauf abzielen, die Kontrolle der Haftbedingungen zu verstärken.

Stellt diese Justizbehörde fest, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der sie konkret inhaftiert werden soll, einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird, so darf bei der Entscheidung über die Übergabe keine Abwägung zwischen dieser Feststellung und Erwägungen im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung erfolgen.

Sachverhalt:

Bei dem OLG Hamburg ist ein Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls anhängig. Ausstellungsstaat ist Rumänien in einem Verfahren zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen Vermögens- und Urkundsdelikten.

Im Rahmen dieses Verfahrens hat das OLG dem EuGH die Frage vorgelegt, inwieweit die um Vollstreckung ersuchte Justizbehörde die Haftbedingungen im Ausstellungsstaat auf ein Mindestmaß an persönlichem Raum für den Gefangen hin zu prüfen hat. Zudem wollte es wissen, ob ihm eine Abwägung zwischen der Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Strafvollzug einerseits und den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der Anerkennung zwischen den Mitgliedsstaaten andererseits, möglich sei.

Antwort des EuGH:

Zunächst erinnerte der EuGH an die grundlegende Prämisse des Europarechts, dass alle Mitgliedsstaaten gemeinsame Werte teilten und dies auch gegenseitig anerkennen würden, was einen gegenseitigen Vertrauensvorschuss im Hinblick auf die Einhaltung von Grundrechten rechtfertige.

Unter außergewöhnlichen Umständen sei dieser Vertrauensgrundsatz jedoch einzuschränken, was dazu führen könne, dass ein um Vollstreckung ersuchter Mitgliedsstaat bei gewichtigen Anhaltspunkten dafür, dass eine Auslieferung an den Ausstellungsstaat zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen würde, die Auslieferung stoppen müsse.

In einem solchen Fall habe die vollstreckende Behörde konkret und genau zu beurteilen, ob die vorliegenden Anhaltspunkte zustimmten oder nicht, um die Einhaltung des Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union zu gewährleisten, so der EuGH.

Explizit zur Prüfung der Haftbedingungen führte der EuGH aus, dass eine solche auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen beruhen müsse. Daraus folge, dass im Hinblick auf die Konkretheit und Genauigkeit der Nachforschungen, nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in allen Haftanstalten dieses Mitgliedstaats abgestellt werden dürfe, sondern nur die Anstalten zu prüfen seien, in denen die betroffene Person konkret inhaftiert werden solle.

Im konkreten Falle werde der Inhaftierte in einer Gemeinschaftszelle untergebracht. Bei dieser Art der Unterbringung könne ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK vermutet werden, wenn der dem Gefangenen zur Verfügung stehende Raum unter 3 m² betrage. Zwar könne ein Mitgliedstaat strengere Haftbedingungen festlegen als es Art. 4 der Charta und Art. 3 EMRK forderten, allerdings habe der vollstreckende Mitgliedstaat die Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls von der Erfüllung gerade dieser Kriterien abhängig zu machen. Die Einhaltung dieser Kriterien zu prüfen sei Aufgabe des vollstreckenden Staates.

Zudem sei allein die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsbehelfs durch den Betroffenen im Ausstellungsstaat kein Grund für den Vollstreckungsstaat, eine Gefahr für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung pauschal zu verneinen. 

Stelle der vollstreckende Staat ernsthafte Tatsachen fest, die den Schluss zuließen, dass der Inhaftierte in seinem konkreten Gefängnis im Ausstellungsstaat aufgrund der Haftbedingungen unmenschlich oder erniedrigend behandelt werde, dürfe bei der Auslieferungsentscheidung keine Abwägung zwischen diesen Tatsachen und Erwägungen im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit sowie den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der Anerkennung mehr stattfinden.

Anmerkung der Redaktion:

Im Mai 2019 hatte der EuGH entschieden, dass die deutschen Staatsanwaltschaften für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nicht unabhängig genug seien. Das Urteil finden Sie hier.

Daraufhin hatte das OLG Hamm eine gerichtliche Zuständigkeit für den Erlass solcher Haftbefehle begründet. Den Beitrag zu diesem Urteil finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 38/2019

Die Pressemitteilung zur Entscheidung finden Sie hier.

BayObLG, Beschl. v. 02.10.2019 – 206 StRR 1013/19; 206 StRR 1015/19: Containern

Leitsatz der Redaktion:

Das Entwenden von Lebensmitteln aus einem Abfallcontainer eines Supermarktes ist als Diebstahl strafbar.

Sachverhalt:

Das AG Fürstenfeldbruck hat die Angeklagten wegen Diebstahls verurteilt.

Nach den Feststellungen des Gerichts hatten sie sich in der Nacht auf das nichtöffentliche Gelände eines Supermarktes begeben und dort einen verschlossenen Abfallcontainer mit einem Werkzeugschlüssel geöffnet. In dem Container waren Lebensmittel zur Abholung durch ein Entsorgungsunternehmen gesammelt worden. Die Angeklagten hatten den Container daraufhin durchsucht und einige Lebensmittel entwendet.

Entscheidung des BayObLG:

Das BayObLG verwarf die Revision der Angeklagten als unbegründet.

Zur Begründung führte es an, dass die zur Tatzeit im Eigentum des Supermarktes stehenden Lebensmittel für die Angeklagten fremd gewesen seien.

Ein erkennbarer Wille des Marktes, das Eigentum aufgeben zu wollen, sei nicht erkennbar gewesen. Dies folge schon aus dem Umstand, dass die Lebensmittel in einem verschlossenen Container für die Abholung des Entsorgungsunternehmens gelagert und vor dem Zugriff durch Dritte geschützt worden seien.

Zudem sei der Supermarkt für die Qualität der Lebensmittel, die er in den Verkehr bringe, verantwortlich. Damit habe der Markt ein berechtigtes Interesse daran, die Lebensmittel, die er für nicht mehr verkehrsfähig halte, nur an den Entsorger abzugeben und eine anderweitige Wegnahme nicht zu dulden.

Anmerkung der Redaktion:

Der Fall hatte bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Mittlerweile hat die Fraktion Die Linke einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der das Containern von Lebensmitteln entkriminalisieren soll, da solche Taten nach ihrer Motivlage nicht den Supermarkt schädigen sollen. Es ginge den Tätern vielmehr darum, Lebensmittel vor der Verschwendung zu „retten“.

Alles zum Gesetzesantrag und zur Entkriminalisierungsdebatte finden Sie hier.

Ein ähnliches Urteil erließ das AG Köln in einem Prozess um Skizzen des Künstlers Gerhard Richter, die dieser im Papiermüll entsorgen wollte. Die zugehörige Pressemitteilung finden sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 37/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 12.09.2019 – 5 StR 325/19: Fahrlässigkeitsvorwurf beim Transport einer größeren Menge Rauschgift als gedacht

Leitsatz der Redaktion:

Das Unvermögen eines Drogenkuriers, die tatsächlich transportierte Menge an Drogen festzustellen, und das Durchführen einer Transportfahrt trotz des bestehenden Risikos, mehr Drogen zu transportieren als gedacht, kann einen Fahrlässigkeitsvorwurf begründen.

Sachverhalt:

Das LG Hamburg hat den Angeklagten wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte Schulden, die er durch den Transport von Drogen für seinen Bekannten hatte abbauen wollen.

Für einen dieser Transporte hatte er einen großen und im Laderaum leeren Lieferwagen gestellt bekommen, in dem, wie der Angeklagte gewusst hatte, irgendwo Drogen professionell versteckt gewesen waren. Der Beschuldigte hatte keine Kenntnis davon, wie groß die von ihm transportierte Drogenmenge gewesen war. Er hatte zudem keine Möglichkeit gehabt, die Menge vor Ort zu überprüfen. Allerdings war er lediglich von einer zu transportierenden Menge von ca. 15 kg Haschisch ausgegangen. Tatsächlich waren bei einer Kontrolle auf der Autobahn 350 kg des Betäubungsmittels durch den Zoll gefunden und sichergestellt worden.

Das LG hat keinen Fahrlässigkeitsvorwurf für die die 15 kg übersteigende Menge Haschisch angenommen, wogegen sich die Revision der StA gerichtet hat.

Entscheidung des BGH:

Der BGH gab der Revision statt, da das LG den Fahrlässigkeitsvorwurf rechtsfehlerhaft verneint habe.

Die eingeführte Rauschgiftmenge, die nicht vom Vorsatz des Täters umfasst sei, dürfe nur schulderhöhend berücksichtigt werden soweit den Täter bezüglich dieser Menge ein Fahrlässigkeitsvorwurf treffe.

Die Anforderungen an diesen Fahrlässigkeitsvorwurf bestimmten sich nach der konkreten Tatsituation und den konkreten Kenntnissen und Fähigkeiten des Täters. Dabei müssten nicht alle Tatfolgen ganz genau vorhersehbar sein, es genüge vielmehr auch, dass der Täter trotz ungewisser Folgen und Tragweite seiner Tat gehandelt habe.

Dem Angeklagten sei bekannt gewesen, dass er ein großes Fahrzeug bewegte, in dem sich eine ihm unbekannte Menge Haschisch befunden habe. Es sei damit für ihn auch vorhersehbar gewesen, eine wesentlich größere Menge an Drogen zu transportieren als angenommen, so der Senat.

Das Unvermögen des Angeklagten, das Rauschgift selbst zu finden und die konkrete Menge festzustellen, ändere an dieser Bewertung nichts, denn gerade die Durchführung der Fahrt trotz Unkenntnis der konkreten Menge und der damit einhergehenden Gefahr für die Volksgesundheit, begründe die Sorgfaltspflichtverletzung.

 

Anmerkung der Redaktion:

Welche Anforderungen an den Vorsatz eines Drogenkuriers bezüglich der transportierten Menge zu stellen sind, hat der BGH in diesem Urteil aktuell wiedergegeben.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 36/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 05.06.2019 – 2 StR 42/19: Zur Anwendung des § 63 StGB bei Anlasstaten innerhalb einer psychiatrischen Einrichtung

Leitsatz der Redaktion:

  1. Dem ansonsten gewichtigen Indiz, dass der Beschuldigte über einen längeren Zeitraum keine mit der Anlasstat vergleichbaren Delikte begangen hat, kann keine Bedeutung zukommen, soweit dem Beschuldigten dies aufgrund einer Sicherungsmaßnahme ohnehin unmöglich war.
  2. Um zu beurteilen, ob eine Tat in einer psychiatrischen Einrichtung als rechtlich unerheblich anzusehen ist, ist auf ihre Ursache abzustellen.

Sachverhalt:

Das LG Limburg hat die von der StA beantragte Unterbringung des Beschuldigten in einer psychiatrischen Einrichtung abgelehnt. Dagegen hat die StA Revision eingelegt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der an einer paranoiden Schizophrenie, einer Störung der Impulskontrolle und einer gemischt dissoziativen Störung leidende Angeklagte während seiner Unterbringung in einer jugendpsychiatrischen Einrichtung u.a. Bedrohungen, versuchte und vollendete Körperverletzungen und eine versuchte gefährliche Körperverletzung zum Nachteil des Klinikpersonals begangen.

Dennoch hat das LG die Voraussetzungen des § 63 StGB verneint, da die geforderte Gefahrenprognose nicht gestellt werden könne.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück an das LG.

Dadurch, dass das Tatgericht darauf abgestellt habe, dass die Gefahr für erhebliche Straftaten nur außerhalb einer Unterbringung bestünde und die innerhalb der Einrichtung zu befürchtenden Körperverletzungsdelikte nicht den erforderlichen Schweregrad erreichten, habe es einen unzutreffenden Maßstab angelegt, so der BGH.

Denn § 63 StGB erfasse auch Delikte der mittleren Kriminalität, zu denen die zu erwartenden Körperverletzungsdelikte sehr wohl zählten. Dies sei auch durch den Umstand bedingt, dass der Beschuldigte die Verletzungsfolgen seiner Aggressionstaten nicht zu steuern vermöge und es somit allein vom Zufall abhänge, wie schwer die von ihm verursachten Verletzungen seien.

Auch die Erwägung des LG, dass der Beschuldigte seit der letzten Anlasstat einen größeren Zeitraum verstreichen lassen habe ohne weitere Delikte zu begehen, begegne durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Da der Angeklagte nach der letzten Tat in der Einrichtung über einen längeren Zeitraum fixiert worden war und immer wieder nur kurz und unter Aufsicht ohne Sicherungsmaßnahme untergebracht gewesen war, sei keine Indizwirkung aus dem längeren Zeitraum der Unauffälligkeit abzuleiten, so der Senat.

Abschließend stellte der BGH klar, dass Taten gegen Pflegepersonal innerhalb einer psychiatrischen Einrichtung im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose zwar nicht mit Taten außerhalb gleichzusetzen seien. Dies bedeute allerdings nicht, dass Aggressions- oder Gewaltdelikte generell nicht in die Prognose einfließen könnten nur weil sie in einer psychiatrischen Klinik begangen worden seien. Zur Beurteilung der Frage, ob eine solche Tat als rechtlich unerheblich anzusehen sei, müsse auf die Ursachen der Tat abgestellt werden. Maßgebliches Unterscheidungskriterium sei hierbei, ob die Tat in der durch die Unterbringung ausgelöste Ausnahmesituation begründet liege oder beispielsweise in einer Provokation, die auch außerhalb einer Klinik im Alltag auftreten könne.

Anmerkung der Redaktion:

Zuletzt hatte der BGH entschieden, dass sich die Gefährlichkeitsprognose auf den Angeklagten im Zeitpunkt der Hauptverhandlung beziehen müsse (BGH, Beschl. v. 13.08.2019 – 4 StR 342/19). Weitere Entscheidungen zur Gefährlichkeitsprognose im Rahmen des § 63 StGB finden Sie hier:

BGH, Beschl. v. 06.08.2019 – 4 StR 255/19

BGH, Beschl. v. 31.07.2019 – 5 StR 321/19

BGH, Beschl. v. 11.07.2019 – 3 StR 254/19

BGH, Beschl. v. 20.06.2019 – 5 StR 208/19

In einer aktuellen Entscheidung weist der 5. Strafsenat darauf hin, dass er der bisherigen Rechtsprechung des BGH nicht uneingeschränkt folgen wird. Auch er hält allerdings am Umterscheidungskriterium fest, wonach es auf die Umstände der Tat ankomme (durch die Unterbringung bedingt oder jederzeit auch im normalen Alltag möglich).

KriPoZ-RR, Beitrag 35/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 24.07.2019 – 3 StR 257/19: § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG verdrängt § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG, nicht jedoch den § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG

Leitsatz der Redaktion:

Zwar verdrängt eine Strafbarkeit nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG regelmäßig den ebenfalls verwirklichten § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG, liegt allerdings ein Fall des Handeltreibens mit einer nicht geringen Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG vor, steht dieser zu § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG in Tateinheit.

Sachverhalt:

Das LG Stade hat den Angeklagten u.a. wegen Abgabe von Betäubungsmitteln als Person über 21 Jahre an eine Person unter 18 Jahren in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und wegen gewerbsmäßiger Abgabe von Betäubungsmitteln als Person über 21 Jahre an eine Person unter 18 Jahren in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der über 21 Jahre alte Angeklagte eine nicht geringe Menge Marihuana regelmäßig an Personen unter und über 18 Jahren veräußert, um sich dadurch eine Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Umfang zu verschaffen.

Entscheidung des BGH:

Der GBA schlug dem Senat vor, die Strafbarkeit gem. § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG tateinheitlich neben den verwirklichten § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG treten zu lassen.

§ 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG verdränge zwar das einfache Handeltreiben mit Betäubungsmitteln nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG, da dessen Unrechtsgehalt vollständig von § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG mitabgebildet werde. Allerdings bestehe im Falle der gleichzeitigen Verwirklichung des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG ein zusätzlicher bzw. höherer Unrechtsgehalt durch die größere Menge an gehandelten Betäubungsmitteln. Dieser müsse durch eine tateinheitliche Verurteilung zum Ausdruck kommen.

Dieser Bewertung schloss sich der BGH an.

Anmerkung der Redaktion:

Zuletzt entschied der BGH zur Klammerwirkung des Besitzes von Betäubungsmitteln bei ansonsten selbstständigen Beihilfehandlungen. Die Entscheidung finden Sie hier.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 34/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 02.07.2019 – 2 StR 130/19: § 241 StGB tritt hinter § 177 StGB zurück, wenn die Drohung zur Durchführung der sexuellen Handlung eingesetzt wird

Leitsatz der Redaktion:

Die Reform des § 177 StGB hat keine Auswirkungen auf das Konkurrenzverhältnis zu § 241 StGB.

Sachverhalt:

Das LG Köln hat den Angeklagten u.a. wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung in drei Fällen, in einem Fall in weiterer Tateinheit mit Bedrohung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte nachts eine junge Frau überwältigt, die gerade ihre Wohnungstür hatte aufschließen wollen. Er hatte sie gewaltsam von der Tür weggezogen, sie nach Gegenwehr ihrerseits gegen ein Geländer geschleudert und weitere Hilferufe der Geschädigten durch eine Todesdrohung zu unterbinden versucht.

Nachdem er sie in ein Gebüsch geführt und nochmals gedroht hatte sie „abzustechen“, wurde eine Zeugin auf das Geschehen aufmerksam, was den Angeklagten zur Flucht veranlasst hatte, ohne den Geschlechtsverkehr vollziehen zu können.

Entscheidung des BGH:

Der BGH änderte das Urteil dahingehend, dass die tateinheitliche Verurteilung wegen Bedrohung entfällt.

Der Tatbestand der Bedrohung trete hinter der sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung gesetzeskonkurrierend zurück, wenn die Todesdrohung Tatmittel der sexuellen Nötigung sei und der Ermöglichung der sexuellen Handlung diene. Gleiches gelte auch für den Versuch der Vergewaltigung.

Die Änderung des § 177 StGB vom 4. November 2016 ändere an dieser Rechtsprechungspraxis nichts, da das Tatbestandsmerkmal der qualifizierten Drohung zwar in einen Qualifikationstatbestand überführt worden sei, sich inhaltlich allerdings nicht verändert habe.

Anmerkung der Redaktion:

Diese konkurrenzrechtliche Betrachtung wurde vom BGH am 23. April 2002 entwickelt (1 StR 95/02).

§ 177 StGB wurde im November 2016 durch das Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches („Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung“) reformiert. Eine Chronologie des Gesetzgebungsverfahrens finden Sie hier.

Prof. Hörnle, die ebenfalls als Sachverständige im Gesetzgebungsverfahren tätig war, ordnete die geplanten Änderungen in der KriPoZ kritisch ein. Den Beitrag finden Sie hier. Einen weiteren Beitrag zum neuen Sexualstrafrecht von Dr. Papathanasiou finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 33/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 09.07.2019 – 3 StR 155/19: Abschiebung nach Einlegung der Revision begründet kein Prozesshindernis

Leitsatz der Redaktion:

Eine Abschiebung des Angeklagten nach Einlegung der Revision und vor Zustellung des tatgerichtlichen Urteils stellt kein Prozesshindernis nach § 206a Abs. 1 bzw. § 205 Satz 1 StPO dar.

Sachverhalt:

Das LG Osnabrück hatte den Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung verurteilt. Nach Einlegung der Revision aber noch vor Zustellung des angefochtenen Urteils ist der Angeklagte in den Libanon abgeschoben worden. Dies stelle ein Prozesshindernis dar, welches im Hinblick auf ein faires Verfahren (§ 6 Abs. 1 MRK) und das Recht auf Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK) die Einstellung des Verfahrens gebiete, so die Revision.

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf die Revision des Angeklagten, da eine Abschiebung nach Einlegung der Revision kein Prozesshindernis darstelle.

Dies begründete der Senat damit, dass eine Abschiebung den Fortgang des Revisionsverfahrens, aufgrund der unterschiedlichen Ausgestaltung und Zielsetzung desselben, nicht hindere. Es sei Aufgabe des Tatgerichts, die Aufklärung des Sachverhalts zu betreiben und eine gerechte Strafe auszusprechen. Auf dieses Verfahren könne der Beschuldigte massiv selbst einwirken und so auch die Überzeugung des Richters von der eigenen Schuld oder Unschuld beeinflussen. Im Revisionsverfahren hingegen solle das Instanzurteil allein auf Rechts- oder Verfahrensfehler hin überprüft werden, was die Mitwirkungsmöglichkeiten des Angeklagten auf die Einlegung und Rücknahme des Rechtsmittels beschränke. Andere Prozesshandlungen könne der Beschuldigte meist nur durch seinen Verteidiger vornehmen (vgl. § 344 StPO). Der Inhaftierte Angeklagte habe schon kein Recht auf Teilnahme an der Revisionsverhandlung, diese stehe im Ermessen des Revisionsgerichts (§ 350 Abs. 2 Satz 3 StPO).

Soweit der durch einen Verteidiger vertretene Angeklagte zumindest mit seinem Verteidiger Kontakt haben könne, um zu entscheiden, ob die Revision weiterverfolgt oder zurückgenommen werden solle, sei dies auch unproblematisch, so der BGH.

Gleiches gelte bei Abschiebungen. Ein Prozesshindernis komme daher nur in Betracht, wenn der Angeklagte nicht mehr in der Lage sei mit seinem Verteidiger Kontakt aufzunehmen, was aufgrund der modernen Kommunikationsmittel unwahrscheinlich sei. Auch die durch die Abschiebung vereitelte Möglichkeit des Angeklagten, seine Revision zu Protokoll der Geschäftsstelle zu begründen, stelle bei anwaltlicher Vertretung keine erhebliche Einschränkung dar, zumal der Verteidiger mit großer Wahrscheinlichkeit rechtskundiger als sein Mandant sei.

Anmerkung der Redaktion:

Ähnlich hatte der BGH bereits zu Fällen der Verhandlungsunfähigkeit entschieden. Es genüge, wenn der Angeklagte derart gesund sei, dass er über die Einlegung des Rechtsmittels verantwortlich entscheiden könne und sporadisch über dessen Aufrechterhaltung oder Rücknahme mit seinem Verteidiger entscheiden könne (vgl. BGH, Beschl. v. 21.12.2016 – 4 StR 527/16).

 

KriPoZ-RR, Beitrag 32/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 23.07.2019 – 1 StR 107/18: Anforderungen an die Parallelwertung in der Laiensphäre bezüglich der Bedenklichkeit eines Arzneimittels

Amtlicher Leitsatz:

Um den sozialen Bedeutungsgehalt der Bedenklichkeit eines Arzneimittels zu erfassen, bedarf es auch der Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die für die Abwägung des Verhältnisses zwischen dem bekannten Risiko und dem Nutzen von Relevanz sind. Diese muss der Täter nach einer Parallelwertung in der Laiensphäre richtig in sein Vorstellungsbild aufgenommen haben, um einen Vorsatzschuldvorwurf zu begründen.

Sachverhalt:

Das LG Hildesheim hat den Angeklagten wegen fahrlässigen Inverkehrbringens von bedenklichen Arzneimitteln und wegen Steuerhinterziehung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte zwischen Dezember 2008 und Mai 2013 die Substanzen MMS und MMS2 über das Internet als Mittel zur Behandlung von verschiedenen Krankheiten und zur Desinfektion des Körpers vertrieben.

Bei den Präparaten hatte es sich um eine 28-prozentige Natriumchloritlösung (MMS) und ein 70-prozentiges Calciumhypochlorit (MMS2) gehandelt, die beide bei oraler Einnahme erhebliche Schäden hätten hervorrufen können. Das LG hat beide Substanzen als bedenkliche Arzneimittel gemäß §§ 2 Abs. 1 Nr. 1, 5 Abs. 2 AMG eingeordnet. Der Angeklagte war aber von einer heilenden Wirkung ausgegangen, obwohl ihm die mögliche gesundheitsschädliche Wirkung bekannt gewesen war. Er hatte sich selbst nach der Einnahme immer besser gefühlt und war von vermeintlich wissenschaftlichen Publikationen davon überzeugt worden, dass die Mittel Krankheitserreger im Körper abtöten könnten. Mit dem Verkauf der Präparate hatte der Beschuldigte einen Umsatz von 270.206€ erzielt für den er weder Umsatzsteuer abgeführt noch eine Umsatzsteuererklärung abgegeben hatte.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat sich gegen die Verurteilung wegen Fahrlässigkeit anstatt Vorsatzes gerichtet. Der Angeklagte hat eine auf die Verletzung von § 265 Abs. 1 StPO gestützte Verfahrensrüge erhoben und auch die sachlich-rechtliche Überprüfung des Urteils beantragt.

 

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf beide Revisionen als unbegründet.

Zur staatsanwaltschaftlichen Revision führte der Senat aus, dass eine Verneinung des Vorsatzes keinen sachlich-rechtlichen Bedenken begegne. Das LG habe tragfähig und unter Einbeziehung aller wesentlichen tatsächlichen Umstände begründet, warum es davon überzeugt gewesen war, dass der Angeklagte von einer heilenden Wirkung der Präparate ausgegangen war und die möglichen gesundheitsschädlichen Wirkungen als hinnehmbare Nebenwirkungen für die nach seiner Ansicht überwiegenden positiven Effekte angesehen hatte.

Auch die Annahme des Tatgerichts, dass dieses Vorstellungsbild für eine vorsätzliche Tatbegehung nicht ausgereicht habe, sei nicht zu beanstanden.

Für die Einordnung als bedenkliches Arzneimittel sei erforderlich, dass die negativen Folgen einer Einnahme die positiven Effekte nach Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft unvertretbar überwiegen. Um dieses Merkmal der Unvertretbarkeit korrekt erfassen zu können, sei eine Bewertung der therapeutischen und schädlichen Wirkungen in ihrem widerstreitenden Verhältnis nötig. Objektiv habe danach, wie vom LG angenommen, eine Unvertretbarkeit und somit auch ein bedenkliches Arzneimittel vorgelegen. Allerdings hätte sich der Vorsatz des Täters für eine Verurteilung auch auf beide oben genannten Elemente beziehen müssen, weshalb die Kenntnis von einer möglichen schädlichen Wirkung allein nicht ausreichend sei, so neben dem LG auch der BGH.

Der Angeklagte hätte auch die therapeutische Wirkung zumindest nach einer Parallelwertung in der Laiensphäre erfassen müssen, um den sozialen Bedeutungsgehalt des Rechtsbegriffs der Bedenklichkeit in seinen Tatvorsatz aufnehmen zu können.

Genau über diese (nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht vorhandene) positive Wirkung seiner Präparate sei der Angeklagte aber im Irrtum (§ 16 Abs. 1 StGB) gewesen. Daher habe er das Tatbestandsmerkmal der Unvertretbarkeit der schädlichen Wirkungen nicht einmal in seiner Laiensphäre erfassen können, was eine vorsätzliche Begehung der Tat ausschließe.

Auch die Revision des Angeklagten sei unbegründet, da ein ausreichender rechtlicher Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 StPO vom Gericht erteilt worden sei und auch keine sonstigen den Angeklagten belastenden Rechtsfehler erkennbar seien.

 

Anmerkung der Redaktion:

Zur genügenden Bestimmtheit des § 5 Abs. 2 AMG siehe: Urteil des BVerfG vom 26.04.2000 und Beschluss des BGH vom 11.08.1999. Das Urteil des LG Hildesheim finden Sie hier.

 

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