KriPoZ-RR, Beitrag 36/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 05.06.2019 – 2 StR 42/19: Zur Anwendung des § 63 StGB bei Anlasstaten innerhalb einer psychiatrischen Einrichtung

Leitsatz der Redaktion:

  1. Dem ansonsten gewichtigen Indiz, dass der Beschuldigte über einen längeren Zeitraum keine mit der Anlasstat vergleichbaren Delikte begangen hat, kann keine Bedeutung zukommen, soweit dem Beschuldigten dies aufgrund einer Sicherungsmaßnahme ohnehin unmöglich war.
  2. Um zu beurteilen, ob eine Tat in einer psychiatrischen Einrichtung als rechtlich unerheblich anzusehen ist, ist auf ihre Ursache abzustellen.

Sachverhalt:

Das LG Limburg hat die von der StA beantragte Unterbringung des Beschuldigten in einer psychiatrischen Einrichtung abgelehnt. Dagegen hat die StA Revision eingelegt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der an einer paranoiden Schizophrenie, einer Störung der Impulskontrolle und einer gemischt dissoziativen Störung leidende Angeklagte während seiner Unterbringung in einer jugendpsychiatrischen Einrichtung u.a. Bedrohungen, versuchte und vollendete Körperverletzungen und eine versuchte gefährliche Körperverletzung zum Nachteil des Klinikpersonals begangen.

Dennoch hat das LG die Voraussetzungen des § 63 StGB verneint, da die geforderte Gefahrenprognose nicht gestellt werden könne.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück an das LG.

Dadurch, dass das Tatgericht darauf abgestellt habe, dass die Gefahr für erhebliche Straftaten nur außerhalb einer Unterbringung bestünde und die innerhalb der Einrichtung zu befürchtenden Körperverletzungsdelikte nicht den erforderlichen Schweregrad erreichten, habe es einen unzutreffenden Maßstab angelegt, so der BGH.

Denn § 63 StGB erfasse auch Delikte der mittleren Kriminalität, zu denen die zu erwartenden Körperverletzungsdelikte sehr wohl zählten. Dies sei auch durch den Umstand bedingt, dass der Beschuldigte die Verletzungsfolgen seiner Aggressionstaten nicht zu steuern vermöge und es somit allein vom Zufall abhänge, wie schwer die von ihm verursachten Verletzungen seien.

Auch die Erwägung des LG, dass der Beschuldigte seit der letzten Anlasstat einen größeren Zeitraum verstreichen lassen habe ohne weitere Delikte zu begehen, begegne durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Da der Angeklagte nach der letzten Tat in der Einrichtung über einen längeren Zeitraum fixiert worden war und immer wieder nur kurz und unter Aufsicht ohne Sicherungsmaßnahme untergebracht gewesen war, sei keine Indizwirkung aus dem längeren Zeitraum der Unauffälligkeit abzuleiten, so der Senat.

Abschließend stellte der BGH klar, dass Taten gegen Pflegepersonal innerhalb einer psychiatrischen Einrichtung im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose zwar nicht mit Taten außerhalb gleichzusetzen seien. Dies bedeute allerdings nicht, dass Aggressions- oder Gewaltdelikte generell nicht in die Prognose einfließen könnten nur weil sie in einer psychiatrischen Klinik begangen worden seien. Zur Beurteilung der Frage, ob eine solche Tat als rechtlich unerheblich anzusehen sei, müsse auf die Ursachen der Tat abgestellt werden. Maßgebliches Unterscheidungskriterium sei hierbei, ob die Tat in der durch die Unterbringung ausgelöste Ausnahmesituation begründet liege oder beispielsweise in einer Provokation, die auch außerhalb einer Klinik im Alltag auftreten könne.

Anmerkung der Redaktion:

Zuletzt hatte der BGH entschieden, dass sich die Gefährlichkeitsprognose auf den Angeklagten im Zeitpunkt der Hauptverhandlung beziehen müsse (BGH, Beschl. v. 13.08.2019 – 4 StR 342/19). Weitere Entscheidungen zur Gefährlichkeitsprognose im Rahmen des § 63 StGB finden Sie hier:

BGH, Beschl. v. 06.08.2019 – 4 StR 255/19

BGH, Beschl. v. 31.07.2019 – 5 StR 321/19

BGH, Beschl. v. 11.07.2019 – 3 StR 254/19

BGH, Beschl. v. 20.06.2019 – 5 StR 208/19

In einer aktuellen Entscheidung weist der 5. Strafsenat darauf hin, dass er der bisherigen Rechtsprechung des BGH nicht uneingeschränkt folgen wird. Auch er hält allerdings am Umterscheidungskriterium fest, wonach es auf die Umstände der Tat ankomme (durch die Unterbringung bedingt oder jederzeit auch im normalen Alltag möglich).

KriPoZ-RR, Beitrag 35/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 24.07.2019 – 3 StR 257/19: § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG verdrängt § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG, nicht jedoch den § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG

Leitsatz der Redaktion:

Zwar verdrängt eine Strafbarkeit nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG regelmäßig den ebenfalls verwirklichten § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG, liegt allerdings ein Fall des Handeltreibens mit einer nicht geringen Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG vor, steht dieser zu § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG in Tateinheit.

Sachverhalt:

Das LG Stade hat den Angeklagten u.a. wegen Abgabe von Betäubungsmitteln als Person über 21 Jahre an eine Person unter 18 Jahren in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und wegen gewerbsmäßiger Abgabe von Betäubungsmitteln als Person über 21 Jahre an eine Person unter 18 Jahren in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der über 21 Jahre alte Angeklagte eine nicht geringe Menge Marihuana regelmäßig an Personen unter und über 18 Jahren veräußert, um sich dadurch eine Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Umfang zu verschaffen.

Entscheidung des BGH:

Der GBA schlug dem Senat vor, die Strafbarkeit gem. § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG tateinheitlich neben den verwirklichten § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG treten zu lassen.

§ 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG verdränge zwar das einfache Handeltreiben mit Betäubungsmitteln nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG, da dessen Unrechtsgehalt vollständig von § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG mitabgebildet werde. Allerdings bestehe im Falle der gleichzeitigen Verwirklichung des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG ein zusätzlicher bzw. höherer Unrechtsgehalt durch die größere Menge an gehandelten Betäubungsmitteln. Dieser müsse durch eine tateinheitliche Verurteilung zum Ausdruck kommen.

Dieser Bewertung schloss sich der BGH an.

Anmerkung der Redaktion:

Zuletzt entschied der BGH zur Klammerwirkung des Besitzes von Betäubungsmitteln bei ansonsten selbstständigen Beihilfehandlungen. Die Entscheidung finden Sie hier.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 34/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 02.07.2019 – 2 StR 130/19: § 241 StGB tritt hinter § 177 StGB zurück, wenn die Drohung zur Durchführung der sexuellen Handlung eingesetzt wird

Leitsatz der Redaktion:

Die Reform des § 177 StGB hat keine Auswirkungen auf das Konkurrenzverhältnis zu § 241 StGB.

Sachverhalt:

Das LG Köln hat den Angeklagten u.a. wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung in drei Fällen, in einem Fall in weiterer Tateinheit mit Bedrohung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte nachts eine junge Frau überwältigt, die gerade ihre Wohnungstür hatte aufschließen wollen. Er hatte sie gewaltsam von der Tür weggezogen, sie nach Gegenwehr ihrerseits gegen ein Geländer geschleudert und weitere Hilferufe der Geschädigten durch eine Todesdrohung zu unterbinden versucht.

Nachdem er sie in ein Gebüsch geführt und nochmals gedroht hatte sie „abzustechen“, wurde eine Zeugin auf das Geschehen aufmerksam, was den Angeklagten zur Flucht veranlasst hatte, ohne den Geschlechtsverkehr vollziehen zu können.

Entscheidung des BGH:

Der BGH änderte das Urteil dahingehend, dass die tateinheitliche Verurteilung wegen Bedrohung entfällt.

Der Tatbestand der Bedrohung trete hinter der sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung gesetzeskonkurrierend zurück, wenn die Todesdrohung Tatmittel der sexuellen Nötigung sei und der Ermöglichung der sexuellen Handlung diene. Gleiches gelte auch für den Versuch der Vergewaltigung.

Die Änderung des § 177 StGB vom 4. November 2016 ändere an dieser Rechtsprechungspraxis nichts, da das Tatbestandsmerkmal der qualifizierten Drohung zwar in einen Qualifikationstatbestand überführt worden sei, sich inhaltlich allerdings nicht verändert habe.

Anmerkung der Redaktion:

Diese konkurrenzrechtliche Betrachtung wurde vom BGH am 23. April 2002 entwickelt (1 StR 95/02).

§ 177 StGB wurde im November 2016 durch das Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches („Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung“) reformiert. Eine Chronologie des Gesetzgebungsverfahrens finden Sie hier.

Prof. Hörnle, die ebenfalls als Sachverständige im Gesetzgebungsverfahren tätig war, ordnete die geplanten Änderungen in der KriPoZ kritisch ein. Den Beitrag finden Sie hier. Einen weiteren Beitrag zum neuen Sexualstrafrecht von Dr. Papathanasiou finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 33/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 09.07.2019 – 3 StR 155/19: Abschiebung nach Einlegung der Revision begründet kein Prozesshindernis

Leitsatz der Redaktion:

Eine Abschiebung des Angeklagten nach Einlegung der Revision und vor Zustellung des tatgerichtlichen Urteils stellt kein Prozesshindernis nach § 206a Abs. 1 bzw. § 205 Satz 1 StPO dar.

Sachverhalt:

Das LG Osnabrück hatte den Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung verurteilt. Nach Einlegung der Revision aber noch vor Zustellung des angefochtenen Urteils ist der Angeklagte in den Libanon abgeschoben worden. Dies stelle ein Prozesshindernis dar, welches im Hinblick auf ein faires Verfahren (§ 6 Abs. 1 MRK) und das Recht auf Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK) die Einstellung des Verfahrens gebiete, so die Revision.

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf die Revision des Angeklagten, da eine Abschiebung nach Einlegung der Revision kein Prozesshindernis darstelle.

Dies begründete der Senat damit, dass eine Abschiebung den Fortgang des Revisionsverfahrens, aufgrund der unterschiedlichen Ausgestaltung und Zielsetzung desselben, nicht hindere. Es sei Aufgabe des Tatgerichts, die Aufklärung des Sachverhalts zu betreiben und eine gerechte Strafe auszusprechen. Auf dieses Verfahren könne der Beschuldigte massiv selbst einwirken und so auch die Überzeugung des Richters von der eigenen Schuld oder Unschuld beeinflussen. Im Revisionsverfahren hingegen solle das Instanzurteil allein auf Rechts- oder Verfahrensfehler hin überprüft werden, was die Mitwirkungsmöglichkeiten des Angeklagten auf die Einlegung und Rücknahme des Rechtsmittels beschränke. Andere Prozesshandlungen könne der Beschuldigte meist nur durch seinen Verteidiger vornehmen (vgl. § 344 StPO). Der Inhaftierte Angeklagte habe schon kein Recht auf Teilnahme an der Revisionsverhandlung, diese stehe im Ermessen des Revisionsgerichts (§ 350 Abs. 2 Satz 3 StPO).

Soweit der durch einen Verteidiger vertretene Angeklagte zumindest mit seinem Verteidiger Kontakt haben könne, um zu entscheiden, ob die Revision weiterverfolgt oder zurückgenommen werden solle, sei dies auch unproblematisch, so der BGH.

Gleiches gelte bei Abschiebungen. Ein Prozesshindernis komme daher nur in Betracht, wenn der Angeklagte nicht mehr in der Lage sei mit seinem Verteidiger Kontakt aufzunehmen, was aufgrund der modernen Kommunikationsmittel unwahrscheinlich sei. Auch die durch die Abschiebung vereitelte Möglichkeit des Angeklagten, seine Revision zu Protokoll der Geschäftsstelle zu begründen, stelle bei anwaltlicher Vertretung keine erhebliche Einschränkung dar, zumal der Verteidiger mit großer Wahrscheinlichkeit rechtskundiger als sein Mandant sei.

Anmerkung der Redaktion:

Ähnlich hatte der BGH bereits zu Fällen der Verhandlungsunfähigkeit entschieden. Es genüge, wenn der Angeklagte derart gesund sei, dass er über die Einlegung des Rechtsmittels verantwortlich entscheiden könne und sporadisch über dessen Aufrechterhaltung oder Rücknahme mit seinem Verteidiger entscheiden könne (vgl. BGH, Beschl. v. 21.12.2016 – 4 StR 527/16).

 

KriPoZ-RR, Beitrag 32/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 23.07.2019 – 1 StR 107/18: Anforderungen an die Parallelwertung in der Laiensphäre bezüglich der Bedenklichkeit eines Arzneimittels

Amtlicher Leitsatz:

Um den sozialen Bedeutungsgehalt der Bedenklichkeit eines Arzneimittels zu erfassen, bedarf es auch der Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die für die Abwägung des Verhältnisses zwischen dem bekannten Risiko und dem Nutzen von Relevanz sind. Diese muss der Täter nach einer Parallelwertung in der Laiensphäre richtig in sein Vorstellungsbild aufgenommen haben, um einen Vorsatzschuldvorwurf zu begründen.

Sachverhalt:

Das LG Hildesheim hat den Angeklagten wegen fahrlässigen Inverkehrbringens von bedenklichen Arzneimitteln und wegen Steuerhinterziehung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte zwischen Dezember 2008 und Mai 2013 die Substanzen MMS und MMS2 über das Internet als Mittel zur Behandlung von verschiedenen Krankheiten und zur Desinfektion des Körpers vertrieben.

Bei den Präparaten hatte es sich um eine 28-prozentige Natriumchloritlösung (MMS) und ein 70-prozentiges Calciumhypochlorit (MMS2) gehandelt, die beide bei oraler Einnahme erhebliche Schäden hätten hervorrufen können. Das LG hat beide Substanzen als bedenkliche Arzneimittel gemäß §§ 2 Abs. 1 Nr. 1, 5 Abs. 2 AMG eingeordnet. Der Angeklagte war aber von einer heilenden Wirkung ausgegangen, obwohl ihm die mögliche gesundheitsschädliche Wirkung bekannt gewesen war. Er hatte sich selbst nach der Einnahme immer besser gefühlt und war von vermeintlich wissenschaftlichen Publikationen davon überzeugt worden, dass die Mittel Krankheitserreger im Körper abtöten könnten. Mit dem Verkauf der Präparate hatte der Beschuldigte einen Umsatz von 270.206€ erzielt für den er weder Umsatzsteuer abgeführt noch eine Umsatzsteuererklärung abgegeben hatte.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat sich gegen die Verurteilung wegen Fahrlässigkeit anstatt Vorsatzes gerichtet. Der Angeklagte hat eine auf die Verletzung von § 265 Abs. 1 StPO gestützte Verfahrensrüge erhoben und auch die sachlich-rechtliche Überprüfung des Urteils beantragt.

 

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf beide Revisionen als unbegründet.

Zur staatsanwaltschaftlichen Revision führte der Senat aus, dass eine Verneinung des Vorsatzes keinen sachlich-rechtlichen Bedenken begegne. Das LG habe tragfähig und unter Einbeziehung aller wesentlichen tatsächlichen Umstände begründet, warum es davon überzeugt gewesen war, dass der Angeklagte von einer heilenden Wirkung der Präparate ausgegangen war und die möglichen gesundheitsschädlichen Wirkungen als hinnehmbare Nebenwirkungen für die nach seiner Ansicht überwiegenden positiven Effekte angesehen hatte.

Auch die Annahme des Tatgerichts, dass dieses Vorstellungsbild für eine vorsätzliche Tatbegehung nicht ausgereicht habe, sei nicht zu beanstanden.

Für die Einordnung als bedenkliches Arzneimittel sei erforderlich, dass die negativen Folgen einer Einnahme die positiven Effekte nach Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft unvertretbar überwiegen. Um dieses Merkmal der Unvertretbarkeit korrekt erfassen zu können, sei eine Bewertung der therapeutischen und schädlichen Wirkungen in ihrem widerstreitenden Verhältnis nötig. Objektiv habe danach, wie vom LG angenommen, eine Unvertretbarkeit und somit auch ein bedenkliches Arzneimittel vorgelegen. Allerdings hätte sich der Vorsatz des Täters für eine Verurteilung auch auf beide oben genannten Elemente beziehen müssen, weshalb die Kenntnis von einer möglichen schädlichen Wirkung allein nicht ausreichend sei, so neben dem LG auch der BGH.

Der Angeklagte hätte auch die therapeutische Wirkung zumindest nach einer Parallelwertung in der Laiensphäre erfassen müssen, um den sozialen Bedeutungsgehalt des Rechtsbegriffs der Bedenklichkeit in seinen Tatvorsatz aufnehmen zu können.

Genau über diese (nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht vorhandene) positive Wirkung seiner Präparate sei der Angeklagte aber im Irrtum (§ 16 Abs. 1 StGB) gewesen. Daher habe er das Tatbestandsmerkmal der Unvertretbarkeit der schädlichen Wirkungen nicht einmal in seiner Laiensphäre erfassen können, was eine vorsätzliche Begehung der Tat ausschließe.

Auch die Revision des Angeklagten sei unbegründet, da ein ausreichender rechtlicher Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 StPO vom Gericht erteilt worden sei und auch keine sonstigen den Angeklagten belastenden Rechtsfehler erkennbar seien.

 

Anmerkung der Redaktion:

Zur genügenden Bestimmtheit des § 5 Abs. 2 AMG siehe: Urteil des BVerfG vom 26.04.2000 und Beschluss des BGH vom 11.08.1999. Das Urteil des LG Hildesheim finden Sie hier.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 31/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 07.08.2019 – 1 StR 57/19: Keine besonderen Formerfordernisse für Atteste nach § 256 StPO

Leitsatz der Redaktion:

§ 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO verlangt nicht zwingend, dass ein ärztliches Attest unterschrieben worden ist.

Sachverhalt:

Das LG Heilbronn hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt und hatte in der Hauptverhandlung drei ärztliche Berichte über die Verletzungen des Opfers, die nicht unterschrieben gewesen waren, im Selbstleseverfahren eingeführt. Hiergegen hat sich der Beschuldigte mit der Verfahrensrüge gewendet, da das Vorgehen des LG eine Verletzung des Grundsatzes der persönlichen Vernehmung und der Vorschriften über den Urkundenbeweis darstelle.

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf die Revision als unbegründet.

§ 256 StPO ordne eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes an und erlaube neben § 251 StPO die Verlesung von bestimmten Erklärungen von Behörden oder Sachverständigen.

Gerade bei Körperverletzungsdelikten sei es aufgrund ihrer Häufigkeit aus prozessökonomischen Gründen sinnvoll, dass nicht jeder Arzt persönlich zu seinen Feststellungen vernommen werden müsse. Dies habe auch der Gesetzgeber erkannt und daher mit dem Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens die Möglichkeit der Verlesung nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO auf alle Körperverletzungen, unabhängig von dem konkreten Tatvorwurf, ausgeweitet. Dabei sei das Ziel gewesen, auf eine persönliche Vernehmung des Arztes in der Hauptverhandlung verzichten zu können, da diese sich sowieso oft nicht mehr an den Patienten erinnern könnten und daher nur ihren Bericht persönlich vorstellten.

Besondere Formerfordernisse stelle § 256 StPO dabei nicht, so der BGH, da der Gesetzeszweck schon erreicht werde, wenn aus dem Attest hervorgehe, welcher Arzt die Untersuchung durchgeführt habe und für die Feststellungen verantwortlich sei. Zudem müsse aus dem Dokument ersichtlich werden, dass es sich nicht um eine Entwurfsfassung handele.

Eine Unterschrift des Arztes sei nicht erforderlich.

Anmerkung der Redaktion:

Das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens ist 2017 in Kraft getreten und für umfangreiche Änderungen in der StPO, aber auch im StGB, JGG und weiteren Gesetzen verantwortlich. Alle Informationen zum Gesetz finden Sie hier.

KriPoZ-RR, Beitrag 30/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 25.06.2019 – 3 StR 130/19: Von Mittätern in Tatmehrheit begangene Delikte können beim Täter zu einer Tat verknüpft werden

Leitsatz der Redaktion:

Fördert ein Täter durch seine Tatbeiträge die tatmehrheitlich begangen Taten seiner Mittäter gleichzeitig und gleichartig, können ihm diese Taten als tateinheitlich begangen zugerechnet werden.

Sachverhalt:

Das LG Oldenburg hat den Angeklagten wegen Wohnungseinbruchdiebstahls in 45 Fällen (teilweise nur im Versuch) verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte wechselnde Mittäter bei Wohnungseinbruchdiebstählen dadurch unterstützt, dass er sie mit einem Auto in ein Wohngebiet gefahren, im Fahrzeug gewartet und alle Täter anschließend mit der Beute zurück gefahren hatte.

Die Mittäter hatten in vielen Fällen an einem Abend mehrere tatmehrheitlich verwirklichte Taten begangen, die das LG dem Angeklagten auch als tatmehrheitlich zugerechnet hat.

Hiergegen richtete sich die Revision des Angeklagten.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob die tatmehrheitliche Verurteilung auf.

Es sei für jeden Mittäter einzeln zu betrachten, ob die begangen Taten tateinheitlich oder tatmehrheitlich begangen worden sind.

Fördere der Täter mit seinem Tatbeitrag mehrere Taten in individueller Weise, liege bei Handlungsmehrheit auch Tatmehrheit vor. Profitierten jedoch viele Taten in gleicher Weise durch die gleichartige Unterstützungshandlung des Täters, verknüpfe dieser die Taten in seiner Person zu einer Handlung iSd § 52 Abs. 1 StGB.

Um eine solche Förderung habe es sich in diesem Fall gehandelt, da der Angeklagte alle tatmehrheitlich begangenen Taten seiner Mittäter durch seine, für alle Taten gleichartige, Handlung in gleichem Maße und gleichzeitig unterstützt habe.

Anmerkung der Redaktion:

Diese Rechtsprechung wurde vom BGH am 17.06.2004 (3 StR 344/03) entwickelt und zuletzt am 22.12.2011 (4 StR 514/11) bestätigt.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 29/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 14.08.2019 – 5 StR 228/19: Zur Anwendung deutschen Strafrechts bei Schleuserkriminalität und zum Verwertungsverbot bei Verletzung des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO

Leitsatz der Redaktion:

  1. Bei illegaler Schleusung in die Europäische Union ist deutsches Strafrecht gem. § 96 Abs. 4 AufenthG selbst dann anwendbar, wenn der Beschuldigte Ausländer ist und die Tat im Ausland begangen hat.
  2. Die Neuregelung des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO gebietet keine Bestellung eines Pflichtverteidigers bei jeder richterlichen Vernehmung nach § 115 Abs. 2 StPO eines aufgrund Haftbefehls Ergriffenen. Zudem führt ein etwaiger Verstoß nur in Ausnahmefällen zu einem Beweisverwertungsverbot.

Sachverhalt:

Das LG Kiel hat den Angeklagten wegen versuchter Schleusung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchter banden- und gewerbsmäßiger Schleusung verurteilt.

Der Angeklagte hatte sich nach den Feststellungen des Tatgerichts einer Gruppe angeschlossen, die ihren Lebensunterhalt mit der Verbringung von Drittstaatsangehörigen in die Europäische Union verdient hatte. Dabei war der Angeklagte als Wohnungsvermittler und Zahlstellenverwalter in der Türkei für die Gruppe tätig gewesen. Den Migranten war eine sichere Überfahrt über das Mittelmeer auf komfortablen Jachten gegen Zahlung erheblicher Geldbeträge versprochen worden. Tatsächlich waren sie von bewaffneten Männern auf kleine Holzboote gebracht worden, die mit der Vielzahl an Menschen stark überladen und Havariegefährdet waren. Bei einer solchen Überfahrt war ein Boot gekentert und es war zu zahlreichen Todesfällen gekommen, bevor die griechische Küstenwache die restlichen Migranten hatte retten können.

Einer zusätzlichen Verfahrensrüge des Angeklagten lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Angeklagte war wegen des obigen Vorwurfs per Haftbefehl gesucht und auch festgenommen worden. Die zuständige Ermittlungsrichterin hatte versucht einen Verteidiger zu bestellen, was ihr jedoch nicht gelungen war. Bei der Vorführung war der Angeklagte daraufhin nach § 136 Abs. 1 StPO belehrt worden und ihm war eröffnet worden, dass er sich ohne anwaltliche Vertretung nicht äußern müsse. Dennoch hatte er dann auf einen Rechtsbeistand verzichtet und zu Sache ausgesagt. Danach hatte er erklärt, dass das Gericht ihm einen Anwalt aussuchen könne. Nach der Befragung war der Beschuldigte von der Bundespolizei erneut über sein Schweigerecht belehrt und weiter befragt worden. Der von der Ermittlungsrichterin am darauffolgenden Tag erreichte Verteidiger hatte der Verwertung der Vernehmungsergebnisse in der Hauptverhandlung widersprochen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH wies die Revision als unbegründet zurück.

Der Angeklagte habe zwar als Ausländer im Ausland gehandelt, sodass eine Anknüpfung an §§ 5 bis 7 StGB nicht möglich sei, allerdings bestimme sich die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts in diesem Fall nach § 96 Abs. 4 AufenthG.

Diese Regelung sei durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union  vom 19. August 2007 eingeführt worden und setzte die Verpflichtung des Gesetzgebers aus Art. 27 SDÜ fort. Mit ihr wolle der Gesetzgeber bewusst bestimmte inländische Tatbestände auch auf Auslandstaten beziehen, was aus der Gesetzesbegründung hervorgehe, so der BGH.

Ob eine zusätzliche Legitimation deutscher Strafgewalt durch einen besonderen inländischen Anknüpfungspunkt erforderlich sei, sei in diesem Fall irrelevant, da alle etwaigen besonderen Anknüpfungspunkte (Wohnsitz im Inland, Festnahme im Inland oder Gefahr einer illegalen Einreise nach Deutschland) erfüllt seien.

Zudem lägen die Voraussetzungen von § 96 Abs. 4 AufenthG vor.

Auch die Verfahrensrüge erklärte der BGH für unbegründet.

Gegen eine durch die Novellierung des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO normierte Pflicht, vor jeder richterlichen Vernehmung des ergriffenen Beschuldigten nach § 115 Abs. 2 StPO einen Pflichtverteidiger zu bestellen, spreche schon, dass dem Gesetzgeber die bisherige Praxis bekannt gewesen sei und bei einer gewünschten Änderung dahingehende Ausführungen in den Gesetzesmaterialien zu erwarten gewesen wären, so der Senat.

Außerdem sei ein Festhalten am § 141 Abs. 3 Satz 5 StPO dann unverständlich, da dieser im Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO die Verteidigerbestellung unverzüglich nach der Vollstreckung vorsehe.

Allerding folge aus einer Verletzung des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO, selbst bei Annahme einer Pflicht zur Verteidigerbestellung vor jeder richterlichen Vernehmung, nicht automatisch ein Beweisverwertungsverbot. Es müsse dann lediglich eine Abwägung zwischen dem Recht des Beschuldigten auf unverzügliche Vorführung und dem Gebot zur Bestellung eines Verteidigers stattfinden, bei der der Ermittlungsrichter einen nur eingeschränkt überprüfbaren Wertungsspielraum habe. Ein Verwertungsverbot käme somit nur in Betracht, wenn dieser Wertungsspielraum in unvertretbarer Weise ausgeschöpft worden wäre, was schon fernliege, wenn die Ermittlungsrichterin, wie in diesem Fall, alles Mögliche unternehme, um einen Verteidiger zu erreichen und der Beschuldigte nach Belehrung auf die Hinzuziehung eines solchen verzichte.

Anmerkung der Redaktion:

§ 141 Abs. 3 Satz 4 StPO war am 17.08.2017 durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens eingefügt worden. Informationen zum Gesetzgebungsverfahren erhalten Sie hier. Prof. Dr. Schiemann veröffentlichte zudem eine Analyse der Reform in KriPoZ 2017, 338 ff.

Mittlerweile liegt ein neuer Regierungsentwurf vor, der die §§ 140 ff. der StPO neu gestaltet. Dieser Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung war aufgrund einer EU-Richtlinie (sog. PKH-Richtlinie) erforderlich geworden. Informationen zu diesem Reformvorhaben erhalten Sie hier.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 28/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 27.08.2019 – 5 StR 196/19: Deutsches Strafrecht auf Handeltreiben mit Schusswaffen aus dem Ausland mit Versand nach Deutschland anwendbar

Leitsatz der Redaktion:

Verkauft ein Deutscher aus dem Ausland heraus Waffen nach Deutschland, ist Deutsches Strafrecht anwendbar, da ihm die Überlassung der Waffen an die Erwerber durch den Transportunternehmer zuzurechnen ist. Dadurch ist ein inländischer Handlungsort nach § 3 StGB begründet.

Sachverhalt:

Das LG Berlin hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Schusswaffen in Tateinheit mit unerlaubtem Verbringen von Schusswaffen in den Geltungsbereich des Waffengesetzes verurteilt.

Nach den Feststellungen des Tatgerichts hatte der Beschuldigte in Ungarn Waffen gekauft, die dort nicht erlaubnispflichtig gewesen waren, um diese über deutschsprachige Internetdomänen deutschen Käufern anzubieten. Dabei hatte er gewusst, dass die Waffen nach deutschem Recht erlaubnispflichtig gewesen waren und sie dennoch nach einer Bestellung mithilfe eines Postdienstleisters an die deutschen Käufer versandt.

Der Angeklagte hat die Revision gegen das Urteil mit der Begründung erhoben, dass deutsches Strafrecht auf diesen Fall nicht anwendbar gewesen sei.

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf die Revision und stellte klar, dass das in § 2 Abs. 2 iVm § 1 Abs. 3, § 21 Abs. 1 Satz 1 WaffG normierte präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, an welches die Strafnorm des § 52 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c WaffG anknüpfe, auch für den Internethandel mit Waffen aus dem Ausland an eine deutsche Zielgruppe gelte.

Dies folge schon aus einem Umkehrschluss zu § 21 Abs. 4 Nr. 2 Alt. 2 WaffG.

Zudem sei gemäß §§ 3, 9 Abs. 1 StGB auch das deutsche Strafrecht anwendbar, da dem Angeklagten das Handeln des Postdienstleisters zugerechnet werden könne und dieser somit im Inland Waffenhandel betrieben habe.

Dies begründet der BGH damit, dass die Tathandlungen aus Abschnitt 2 Nr. 9 Anlage 1 WaffG vom Angeklagten zwar hauptsächlich in Ungarn verwirklicht worden seien, allerdings habe der Postdienstleister die Waffen in Deutschland „überlassen“, was einen inländischen Handlungsort nach § 3 StGB begründe. Dieses Überlassen in Deutschland sei dem Angeklagten auch zuzurechnen, da er das Transportunternehmen als gutgläubigen Tatmittler eingesetzt habe.

Daran ändere auch § 34 Abs. 1 WaffG nichts, der keine – wie von der Revision angenommene – rechtliche Fiktion und Antizipation des Besitzwechsels an den Besteller bereits mit Übergabe durch den Versender an das Postunternehmen in Ungarn bewirke. Die Norm regle lediglich, dass bei Versendung von Waffen an einen Dritten, es auf dessen Berechtigung zum Empfang/Besitz der Waffe ankomme und nicht auf die des Postunternehmens. Dies ergebe sich schon aus der systematischen Stellung der Norm im Unterabschnitt „Obhutspflichten, Anzeige-, Hinweis- und Nachweispflichten“. Zudem werde die Tathandlung des „Transportieren-Lassens“ vom Gesetz dem „Verbringen“ zugeordnet, was dem „Überlassen“ zwingend zeitlich vorgelagert und daher getrennt zu beachten sein müsse.

Anmerkung der Redaktion:

Mittlerweile versucht der Gesetzgeber nicht nur die Händler und Käufer sondern auch die Plattformbetreiber, der Plattformen, die für solche Waffengeschäfte im Internet genutzt werden, strafrechtlich besser verfolgbar zu machen. Dazu gibt es auf Initiative des Landes NRW einen Gesetzentwurf des Bundesrates zur „Einführung einer eigenständigen Strafbarkeit für das Betreiben von internetbasierten Handelsplattformen für illegale Waren und Dienstleistungen“. Alles zum Gesetzentwurf finden Sie hier.

 

KriPoZ-RR, Beitrag 27/2019

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 30.01.2019 – 2 StR 325/17: Verabreichung von Medikamenten kann trotz Verstoßes gegen ärztliche Verordnung durch erklärte oder mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt sein

Amtlicher Leitsatz:

Die Verabreichung von Morphin zur Bekämpfung von Vernichtungsschmerzen bei einem Sterbenden durch eine Pflegekraft kann auch dann durch erklärte oder mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt sein, wenn sie nicht der ärztlichen Verordnung entspricht. Ein zugleich vorliegender Verstoß gegen §29 Abs.1 Satz 1 Nr.6 Buchst. b BtMG steht dem nicht zwingend entgegen (Abgrenzung von BGH, Urteil vom 22. Januar 2015 – 3 StR 233/14,  BGHSt 60, 166).

Sachverhalt:

Das LG Darmstadt hat die Angeklagte wegen Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte die als Pflegekraft in einer Seniorenresidenz arbeitende Angeklagte einem im Sterbeprozess befindlichen Patienten absichtlich die doppelte Menge des ihm ärztlich verordneten Morphins gespritzt. Dies hatte sie aus Mitleid getan, da sie der Ansicht war, dass die ärztlich verordnete Medikation nicht zur vollständigen Schmerzlinderung ausreichend gewesen war. Der Patient hatte an einer Darmkrebs-Erkrankung im Endstadium gelitten und in seiner Patientenverfügung auf Lebenserhaltene Maßnahmen verzichtet sowie der Verabreichung von Medikamenten zur Erleichterung des Sterbeprozesses zugestimmt.

Dass die Verabreichung der erhöhten Morphin-Dosis den Tod des Patienten beschleunigt hatte, hatte das LG nicht festzustellen vermocht.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil des LG auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an eine andere Schwurgerichtskammer zurück.

Diese Entscheidung begründete der Senat zum einen damit, dass das LG eine Gesundheitsschädigung iSd § 223 Abs. 1 StGB schon allein in der Verabreichung des Morphins gesehen, es allerdings keine Feststellungen zur konkreten pathologischen Wirkung des Medikaments in diesem Einzelfall getroffen habe. Dies wäre aber für eine lediglich auf der Medikamentenverabreichung basierenden Verurteilung erforderlich gewesen.

Zum anderen sei auch die Ablehnung einer möglichen Rechtfertigung der Angeklagten rechtsfehlerhaft gewesen.

Eine solche komme zwar nicht in Betracht, wenn die Körperverletzung gegen die guten Sitten verstoßen habe. Dies sei jedoch vom Tatgericht nicht abschließend geprüft worden.

Der Begriff der guten Sitten sei im Lichte des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) verfassungskonform dahingehend einschränkend auszulegen, dass die Sittenwidrigkeit der Tat nach allgemein gültigen Maßstäben eindeutig aus der Rechtsordnung hervorgehen müsse. Gerade bei medizinischen Eingriffen stehe allerdings ein anerkannter Zweck im Vordergrund, nämlich die Behandlung einer Krankheit oder die Rettung des Lebens. Dies führe dazu, dass eine medizinisch indizierte Maßnahme grundsätzlich nicht gegen die guten Sitten verstoße und das Gegenteil unzweifelhaft festgestellt werden müsse. An einer solchen Feststellung fehle es hier.

Auch ein möglicher Verstoß gegen § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG lasse eine Rechtfertigung nach § 228 StGB nicht von vornherein ausscheiden, so der BGH.

Die Einnahme illegaler Drogen sei heute nicht mehr als Verstoß gegen die guten Sitten zu werten, was somit auch auf die Verabreichung solcher Drogen bei vorliegender Einwilligung zu übertragen sei. Auch die entgegenstehende Rechtsprechung des 3. Strafsenats bei verabredeten Schlägereien könne auf Fälle der medizinisch indizierten Verabreichung von Betäubungsmitteln nicht übertragen werden, da es in solchen Fällen der indirekten Sterbehilfe auf den Zweck der Handlung und nicht auf das Gewicht des Rechtsgutseingriffs ankomme.

Da die Betäubungsmitteldelikte das Rechtsgut der Volksgesundheit schützten, was als Rechtsgut der Allgemeinheit der Disposition des Einzelnen entzogen sei, könne auch eine etwaige Verwirklichung des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG keine Anhaltspunkte für eine Unwirksamkeit der Einwilligung des Dispositionsbefugten Individuums aufgrund der Sittenwidrigkeit der Körperverletzung liefern.

Da das LG aufgrund des möglichen Verstoßes gegen das BtMG eine Rechtfertigung von vornherein ausgeschlossen habe, habe es auch zwingend erforderliche Feststellungen zur mutmaßlichen Einwilligung nicht getroffen.

Das Handeln einer Person, die kein Arzt ist, schließe in der Ausnahmesituation, die ein Sterbeprozess darstelle, eine Rechtfertigung aufgrund einer mutmaßlichen Einwilligung nicht zwingend aus.

Daher hätte das Tatgericht hier eine Gesamtwürdigung aller Umstände, insbesondere der Patientenverfügung, vornehmen müssen, um das Vorliegen einer mutmaßlichen Einwilligung in die Körperverletzung durch Erhöhung der Morphindosis durch die Angeklagte zu prüfen.

 

Anmerkung der Redaktion:

Am 3. Juli 2019 hatte der BGH entschieden, dass ein Arzt, der den freiverantwortlichen Sterbewillen seines Patienten kennt, nicht wegen Totschlags durch Unterlassen bestraft werden kann, wenn er lebenserhaltende Maßnahmen unterlässt. Siehe dazu: KriPoZ-RR, Beitrag 03/2019

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