KriPoZ-RR, Beitrag 27/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 22.01.2020 – 3 StR 526/19: Wohnungseigenschaft gem. § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB bleibt auch nach Tod der Bewohner erhalten

Leitsatz der Redaktion:

Auch nach dem Tod der Bewohner behält ein abgeschlossener und überdachter Raum, der weiterhin voll funktionstüchtig als Unterkunft von Menschen dienen kann, seine Eigenschaft als Wohnung i.S.d. § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB.

Sachverhalt:

Das LG Verden hat den Angeklagten unter anderem wegen Wohnungseinbruchdiebstahls verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen war den Angeklagte in mehrere Häuser von kürzlich verstorbenen Personen eingebrochen, deren Standorte er aus den Todesanzeigen in der Tageszeitung herausgeschrieben hatte. Dabei hatte ihm ein Mittäter zur Seite gestanden.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hielt das Urteil des LG aufrecht, da die Häuser der Verstorbenen als Wohnungen im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB anzusehen seien.

Dies ergebe sich zum einen aus dem Wortlaut der Vorschrift, da nach dem allgemeinen Sprachgebrauch der Zweck eines Gebäudes über dessen Wohnungseigenschaft entscheide und nicht dessen tatsächlicher Gebrauch. Auch aus der Systematik der Diebstahlsdelikte lasse sich dieses Ergebnis ableiten, da § 244 Abs. 4 StGB die dauerhaft genutzte Privatwohnung als qualifizierende Voraussetzung enthält. Somit ist die tatsächliche Nutzung im Umkehrschluss bei § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB gerade kein Tatbestandsmerkmal. Darüber hinaus gebrauche das Gesetz das Merkmal der Wohnung in §§ 123 Abs. 1, 201a Abs. 1 Nr. 1 und 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Nur bei § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB werde dabei eine tatsächliche Bewohnung gefordert. Dies folge jedoch aus dem unterschiedlichen Schutzzweck der Norm und habe daher keine Bedeutung für die Auslegung des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB.

Schließlich spreche auch der Schutzzweck der Norm für die Auslegung des LG, da die Vorschrift das Eigentum und die häusliche Integrität schütze. Diese Rechtsgüter könnten jedoch auch bei Dritten berührt sein, wenn sie einen Bezug zu den Räumlichkeiten hätten, so der BGH.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die dauerhaft genutzte Privatwohnung als Qualifikationstatbestand (§ 244 Abs. 4 StGB) wurde 2017 in das Gesetz eingefügt, dabei sollten u.a. Banden, die regelmäßig Wohnungseinbruchdiebstähle begehen, besser verfolgt und härter bestraft werden können. Weitere Informationen finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 26/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 23.01.2020 – 5 StR 518/19: Keine strafrechtliche Einziehung des Nachlasses bei deliktischer Herbeiführung des Erbfalls

Leitsatz der Redaktion:

Führt der Täter den Erbfall durch ein Tötungsdelikt herbei, kann der ihm durch seine Erbenstellung zufallende Nachlass nicht nach den §§ 73 ff. StGB eingezogen werden, da vorrangig und abschließend §§ 2339 Abs. 1 Nr. 1, 2340 ff. BGB zur Anwendung kommen.

Sachverhalt:

Das LG Lübeck hat den Angeklagten wegen Mordes verurteilt und die Einziehung des Nachlasses des getöteten Opfers angeordnet.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte seine Mutter getötet und dadurch als Erbschaft ein Hausgrundstück, ein Kraftfahrzeug und mehrere Bankguthaben erhalten. Diesen Nachlass hat das LG gem. § 73 Abs. 1 StGB eingezogen, da er durch eine rechtswidrige Tat erlangt worden sei.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob die Einziehungsentscheidung auf. Zwar sei es zutreffend, dass der Angeklagte den Nachlass durch die Tötung und damit durch eine rechtswidrige Tat im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB erlangt habe. Allerdings seien die Regelungen über die strafrechtliche Einziehung nach §§ 73 ff. StGB in solchen Fällen nicht anwendbar. Ihr Ziel sei es, eine von der Rechtsordnung nicht gebilligte Vermögenslage zu bereinigen. Werde die nach der Tat bestehende Güterlage von der Rechtsordnung gebilligt oder könne durch andere Rechtsinstitute rückgängig gemacht werden, bleibe für eine strafrechtliche Einziehung, die diese Wertung unterlaufen würde, kein Raum mehr, so der BGH.

Für die Situation, dass der Erblasser vom Erben getötet worden sei, gebe es allerdings mit § 2339 Abs. 1 Nr. 1, §§ 2340 ff. im BGB eine vorrangig anzuwendende und abschließende Sonderregelung. Charakteristisch für dieses Regelungsinstitut sei es, dass die Möglichkeit zur Erbanfechtung im Wege einer Gestaltungsklage dem Willen des Anfechtungsberechtigten überlassen werde. Diese Wertung des Gesetzgebers würde durch eine Anwendung der §§ 73 ff. StGB unterlaufen.

Zudem würde durch die strafrechtliche Einziehung nur die Vermögenslage, nicht jedoch die Erbenstellung des Täters geändert. Das führte dazu, dass er weiter für die Nachlassverbindlichkeiten haften müsste, ohne den Nachlass zu erhalten. Des Weiteren würde der Staat durch eine Einziehung die Nachlassgläubiger benachteiligen, deren Ansprüche nun nicht mehr aus dem Nachlass befriedigt werden könnten.

 

Anmerkung der Redaktion:

Das Recht der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung ist 2017 umfassend reformiert worden. Weitere Informationen zu der Gesetzesreform finden Sie hier.

KriPoZ-RR, Beitrag 25/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 05.02.2020 – 3 StR 565/19: Vorwegvollzug bei Freiheitsstrafe über drei Jahren

Amtlicher Leitsatz:

Ordnet das Tatgericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an und verhängt eine zeitige Freiheitsstrafe von über drei Jahren, so richtet sich die Anordnung des Vorwegvollzugs eines Teils der Strafe stets nach § 67 Abs. 2 Sätze 2 und 3 StGB; für die Anwendung des § 67 Abs. 2 Satz 1 StGB ist daneben kein Raum.

Sachverhalt:

Das LG Koblenz hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt sowie die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und den Vorwegvollzug von einem Jahr und fünf Monaten angeordnet.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen habe sich der Angeklagte ernstlich bereit gezeigt, in der Haft eine Ausbildung zu beginnen und dann eine Therapie gemäß § 35 BtMG zu absolvieren. Diese Möglichkeit hatte das LG als erreichbar eingeschätzt und nach § 67 Abs. 2 Satz 1 StGB einen Vorwegvollzug angeordnet, um als Vorstufe der Behandlung die Erreichung des Maßregelzwecks zu erleichtern. Durch die Möglichkeit, eine Ausbildung zu beginnen, hatte das LG dem Beschuldigten vor Auge führen wollen, wie sehr der Drogenkonsum sein Leben beeinträchtig habe, was zu einer Förderung der Therapiebereitschaft hatte führen sollen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH entschied, dass die Anordnung des Vorwegvollzugs rechtsfehlerhaft gewesen sei, da das LG § 67 Abs. 2 Satz 1 StGB angewendet hatte. Zu dem Verhältnis von § 67 Abs. 2 Satz 1 StGB zu Satz 2 und 3 derselben Vorschrift führte der BGH aus:

Bei einer Freiheitsstrafe von über drei Jahren müsse sich die Anordnung des Vorwegvollzugs stets nach § 67 Abs. 2 Sätze 2 und 3 StGB richten, da zum einen der Wille des historischen Gesetzgebers dafür spreche. Dieser habe den hier zu entscheidenden Fall bewusst aus § 67 Abs. 2 StGB a.F. herausgenommen und abschließend in den Sätzen 2 und 3 geregelt. Dabei sei der Vorwegvollzug zwingend auf den Halbstrafenzeitpunkt auszurichten, da somit die Aussicht auf eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung eine zusätzliche Therapiemotivation darstellen sollte.

Zudem habe der Rechtsausschuss im Gesetzgebungsverfahren darauf hingewiesen, dass es durch den Vorwegvollzug und die Unterbringung in der Maßregel, keine Verlängerung des Freiheitsentzuges geben dürfe.

Auch der Wortlaut und die Systematik sprächen für eine ausschließliche Anwendbarkeit der Sätze 2 und 3, da sowohl in Satz 1 als auch in Satz 2 von einem „Teil der Strafe“ gesprochen werde. Könnten nun beide Regelungen angewendet werden, führe dies dazu, dass es zwei verschiedene „Teile der Strafe“ geben würde. Einen mit fester Dauer (Satz 3) und einen, bei dem die Dauer im Ermessen des Gerichts stehe (Satz 1). Dass der Gesetzgeber für diesen Fall keine Regelung zur Auflösung dieses Zustands getroffen habe, zeige, dass eine ausschließliche Anwendung der Sätze 2 und 3 vorgesehen sei, so der BGH.

 

Anmerkung der Redaktion:

§ 67 Abs. 2 StGB war durch das Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 in seine drei Sätze unterteilt worden, wobei die ursprüngliche Regelung in Satz 1 übernommen worden war.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 24/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 14.01.2020 – 4 StR 397/19: Versuchsbeginn bei Qualifikationstatbeständen

Leitsatz der Redaktion:

Sollen keine weiteren wesentlichen Zwischenakte bis zur Tatbestandsverwirklichung mehr erfolgen, liegt der Versuchsbeginn bei Qualifikationstatbeständen schon im Zeitpunkt der Erfüllung des qualifizierenden Merkmals.

Sachverhalt:

Das LG Halle hat den Angeklagten wegen versuchten Wohnungseinbruchdiebstahls verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte er begonnen, ein Küchen- bzw. Terrassenfenster eines Einfamilienhauses aufzuhebeln. Dabei war er jeweils beobachtet und angesprochen worden und hatte sich daraufhin vom Tatort entfernt.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Verurteilung durch das LG. Der Angeklagte habe die Fenster aufgehebelt, um im Anschluss Gegenstände aus den Häusern zu entwenden. Dass er zu der für die Tatbestandsverwirklichung maßgeblichen Wegnahmehandlung noch nicht angesetzt hatte, sei für den Versuchsbeginn des Wohnungseinbruchdiebstahls in diesem Fall irrelevant. Nach dem Einbrechen in die Privathäuser, seien nach dem Tatplan des Beschuldigten keine weiteren wesentlichen Zwischenakte mehr bis zur Wegnahme erforderlich gewesen. Daher genüge die Verwirklichung dieses qualifizierenden Merkmals, um den Versuch beginnen zu lassen.

Zwar müsse die Handlung des Täters für die Beurteilung, ob diese nach dem Tatplan ohne weitere Zwischenakte in die Tatbestandsverwirklichung einmünden sollte, auch bei Qualifikationen oder Strafschärfungen meist in Beziehung zum Grundtatbestand beurteilt werden. Dies gelte jedoch nicht, wenn die Tatbestandserfüllung im unmittelbaren Anschluss geschehen soll und das Rechtsgut daher aus Tätersicht schon konkret gefährdet sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

Dies hatten der zweite (Beschl. v. 20.09.2016 – 2 StR 43/16) und fünfte Strafsenat (Beschl. v. 04.07.2019 – 5 StR 274/19) in anders gelagerten Fällen anders entschieden. Ein genereller Ausschluss des Versuchsbeginns beim Wohnungseinbruchdiebstahl, solange noch nicht unmittelbar zur Wegnahmehandlung angesetzt worden sei, schließe der vierte Senat aus.

 

 

Obergerichtliche Rechtsprechung betreffend Corona-Verordnungen

Entscheidungen aus dem Jahr 2020 finden Sie hier. Hier finden Sie Rechtsprechung der Verfassungs- und Oberverwaltungsgerichte zu den Corona-Verordnungen der einzelnen Bundesländer:

 

Entscheidungen des BGHs und BVerfGs:

 

BGH, Beschl. v. 08.02.2022 – 3 ZB 4/21: Unterbindungsgewahrsam wegen Verstoßes gegen Coronaschutzverordnung zulässig

Der BGH hat entschieden, dass § 3 Abs. 2 Nr. 8 der Coronaschutzverordnung NRW und die bußgeldbewehrte Anordnung kein Verfassungsrecht verletzen und damit die Rechtsbeschwerde des Betroffenen verworfen. Zur Unterbindung der Ordnungswidrigkeit war die angeordnete Freiheitsentziehung nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW nicht zu beanstanden. ⇒ KriPoZ-RR, Beitrag 08/2022

 

BVerfG, Beschl. v. 31.01.2022 – 1 BvR 208/22: Vorsorgliches Verbot von Corona-Protesten gebilligt

Das BVerfG hat in einem Eilantrag entschieden, dass das vorsorgliche Verbot von nicht angemeldeten Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen („Montagsspaziergängen“) vorerst bestehen bleibt. Der Antrag des Antragstellers wurde damit abgelehnt. 

Der Schutz von Leben und körperlicher Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) als geschützte Interessen der Allgemeinheit überwiege in einer Folgeabwägung gegenüber den Eingriffen in die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) des Beschwerdeführers. Insbesondere die Organisation der Versammlung (Anmeldung als unangemeldeter Spaziergang) verunmögliche die Kooperation mit der Versammlungsbehörde und spreche zu Lasten des Beschwerdeführers. 

Im Hauptsacheverfahren sei die offene Frage zu klären, ob ein präventives Versammlungsverbot mit Art. 8 GG vereinbar sei. 

 

BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20: Der Gesetzgeber muss Menschen mit Behinderung schützen („Triage-Urteil“)

Dem Staat ist es verboten Menschen wegen ihrer Behinderung unmittelbar oder mittelbar zu diskriminieren. Das Verbot sowie der Schutz vor Benachteiligung aufgrund der Behinderung auch durch Dritte ergeben sich aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG.

Dieser Schutzauftrag kann zu einer Schutzpflicht ausgedehnt werden, wenn bestimmte Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit vorliegen. Hierzu zählt die gezielte Ausgrenzung von Personen wegen einer Behinderung in Situationen, in denen eine Gefahr für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter wie das Leben oder auch Situationen struktureller Ungleichheit vorliegt.

Der Grund für diese Schutzpflicht ergibt sich aus dem Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen. ⇒ KriPoZ-RR, Beitrag 59/2021

 

BVerfG, Beschl. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 – 1 BvR 798/21 – 1 BvR 805/21 – 1 BvR 854/21 – 1 BvR 860/21 – 1 BvR 889/21: Corona-„Notbremse“ war verhältnismäßig

Das BVerfG hat entschieden, dass die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, die mit Inkrafttreten des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 23.04.2021 in das IfSG eingefügt wurden (§ 28 b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 10, Abs. 7; § 28 c), mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Die Verfassungsbeschwerden aller Beschwerdeführer wurden verworfen.

Durch die Neuregelungen liege eine erhebliche Verletzung in die Freiheit der Person, in die allgemeine Handlungsfreiheit sowie in das allgemeine Persönlichkeitsrecht und in das Ehe- und Familiengrundrecht vor. Die Maßnahmen seien jedoch Bestandteil eines Schutzkonzeptes, welches der Gesetzgeber zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems entwickelt habe. Trotz des Eingriffsgewichtes überwiege die Bedeutung der überragend wichtigen Gemeinwohlbelange. Die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen seien damit verhältnismäßig und würden den verfassungsmäßigen Anforderungen standhalten.

 

BVerfG, Beschl. v. 01.06.2021 / 31.05.2021 – 1 BvR 927/21 / 1 BvR 794/21: Weitere Anträge gegen Viertes Bevölkerungsschutzgesetz (Bundesnotbremse) erfolglos

In weiteren Anträgen haben sich verschiedene Interessensgruppen (Sportler, Einzelhändler, Kosmetiker etc.) gegen die sie jeweils betreffenden Regelungen des IfSG an das BVerfG gewendet.

Wiederum hat das Verfassungsgericht festgestellt, dass die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen anzusehen sind und sich die Begründetheit der Eilanträge daher anhand einer sog. doppelten Folgenabwägung zu beurteilen sind. Diese komme zu dem Ergebnis, dass der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers noch nicht überschritten worden sei und die Einschränkungen der sog. Bundesnotbremse daher in Kraft bleiben.

 

BVerfG, Beschl. v. 20.05.2021 – 1 BvR 968/21; 1 BvQ 64/21; 1 BvR 900/21; 1 BvR 928/21: Viertes Bevölkerungsschutzgesetzt bleibt in Kraft

Das BVerfG hat in mehreren Eilanträgen entschieden, dass die Änderungen des vierten Bevölkerungsschutzgesetzes am IfSG nicht vorläufig außer Vollzug gesetzt werden. Mehrere Beschwerdeführende hatten die verschärften Regelungen für den Einzelhandel, die Schulschließungen, das Verbot kulutreller Veranstaltungen sowie die sonstigen Kontaktbeschränkungen angegriffen.

Nach Ansicht des BVerfG genügten die Vorwürfe der Unverhältnismäßigkeit nicht den hohen Hürden für eine vorläufige Außervollzugsetzung. Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerden in der Hauptsachen seien offen und die deshalb anzustellende Folgenabwägung gehe jeweils zu Lasten der Beschwerdeführenden aus.

 

BVerfG, Beschl. v. 05.05.2021 – 1 BvR 781/21: Bundesnotbremse wird nicht vorläufig außer Vollzug gesetzt

Das BVerfG hat entschieden, dass die mit dem vierten Bevölkerungsschutzgesetz eingeführte bundesweite Notbremse mit nächtlicher Ausgangssperre nicht vorläufig außer Vollzug gesetzt wird. Die Regelgungen seien nicht offensichtlich verfassungswidrig, da sie einem legitimen Zweck dienten und die Angemessenheit nicht klar negativ ausfalle und letztlich im umfassenden Hauptsacheverfahren beurteilt werden müsse. Die deshalb anzustellende Folgenabwägung gehe zulasten der Antragsteller aus, da die möglichen Folgen, wenn das Gesetz außer Vollzug gesetzt würde, es jedoch verfassungsgemäß wäre, deutlich gravierender seien, als in der entgegengesetzten Konstellation.

 

Entscheidungen anderer VGs und OVGs:

 

OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 10.02.2022 – 1 S 16/22: OVG erklärt präventives Verbot unangemeldeter Corona-Demonstratitionen für zulässig

Das OVG Berlin-Brandenburg hat entschieden, dass präventive Verbote für unangemeldete Demonstrationen zulässig sind. Damit wurde die Entscheidung des VG Cottbus aufgehoben. 

Es seien durch die Polizei ausreichend Gründe aufgeführt worden, dass es zu massiven Verstößen gegen die Coronaverordnung kommen könne. Insbesondere spreche die bewusst unterlassene Anmeldung der Versammlung für diese Annahme. Hinzu komme, dass eine hohe Infektionsgefahr bestehe.

 

BayVGH, Beschl. v. 19.01.2022 – 20 NE 21.3119: 2G-Regel im Einzelhandel wird vorläufig außer Vollzug gesetzt

Auch der BayVGH hat entschieden, dass die bislang geltende 2G-Regel im Einzelhandel vorläufig außer Vollzug gesetzt wird. Dem Eilantrag der Antragstellerin hat das Gericht stattgegeben. 

Die Regelung greife in die Berufsfreiheit und den Gleichheitsgrundsatz der Antragstellerin ein. Bei der vorliegend strittigen Ausnahmeregelung „Ladengeschäfte zur Deckung des täglichen Bedarf“ ergebe sich nicht mit hinreichender Klarheit aus der Verordnung selbst welche Ladengeschäfte hiervon betroffen seien. Dies müsse sich aber – insbesondere für „Mischsortimente“ – aus der Verordnung selbst ergeben und nicht auf gerichtlicher Ebene entschieden werden. 

 

OVG NRW, Beschl. v. 22.12.2021 – 13 B 1858/21.NE: 2G-Regel im Einzelhandel ist nicht offensichtlich unverhältnismäßig

Das OVG NRW hat entschieden, dass die 2G-Regel im Einzelhandel in Kraft bleibt, da die Regelungen nicht offensichtlich unverhältnismäßig seien. Der Antrag der Antragstellerin wurde als unbegründet zurückgewiesen.

Zwar greife die Maßnahme als Berufsausübungsregelung in Art. 12 Abs. 1 GG der betroffenen Betreiber sowie in Art. 2 Abs. 1 GG der potentiellen Kunden ein, gegenüber dem bezweckten Gesundheitsschutz der Bevölkerung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) als Rechtsgut von überragender Bedeutung sei dieser Eingriff allerdings gerechtfertigt.

Auch das OVG Saarland, VG Berlin und OVG Schleswig-Holstein beschlossen, dass die 2G-Regel im Einzelhandel in Kraft bleibt. Anders hingegen entschied das OVG Niedersachsen und setzte die 2G-Regel vorläufig außer Vollzug.

 

OVG Bremen, Beschl. v. 12.04.2021 – 1 B 123/21: Gastro-Schließung bleibt bestehen

Das OVG Bremen hat entschieden, dass die Beschränkungen für die Gastronomie aufgrund der Bremischen Coronaverordnung (§ 4 Abs. 2 Nr. 8) offensichtlich rechtmäßig sind und daher nicht einstweilig aufgehoben werden. Damit hat das Gericht den Eilanträgen dreier Gastronomiebetreibern nicht abgeholfen.

Das OVG hält eine Inanspruchnahme der Gastronomen als sog. Nichtstörer für möglich, da auch Dritte nach dem IfSG Adressat infektionsschützender Maßnahmen sein könnten. Darüber hinaus sei die Maßnahme auch verhältnismäßig, da zwar die Ansteckungsgefahr im Freien nach wissenschaftlichen Erkenntnissen wesentlich geringer sei, aber eine Schließung der Außengastronomie solle laut der Begründung des Gesetzgebers die Mobilität der Bevölkerung im Gesamten senken, was eine zulässige Erwägung innerhalb des gesetzgeberischen Einschätzungsspielraums darstelle.

 

OVG Niedersachsen, Beschl. v. 09.04.2021 – 13 MN 170/21: Quarantänepflicht bei Rückreise bleibt in Kraft

Das OVG Niedersachsen hat entschieden, dass die Pflicht für Reiserückkehrer, sich in Quarantäne zu begeben, nicht offensichtlich rechtswidrig sei und daher nicht außer Vollzug gesetzt werde.

Es sei offen, ob die Regelung eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG und mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sei, jedoch genügten offene Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht, um das Aussetzungsinteresse überwiegen zu lassen, da die anzustellende Folgenabwägung zugunsten des weiteren Vollzugs der Regelung ausgehe.

 

OVG NRW, Beschl. v. 19.03.2021 – 13 B 252/21.NE: Beschränkungen des Einzelhandels in NRW aufgehoben

Das OVG NRW in Münster hat die Beschränkungen für den Einzelhandel in der CoronaSchVO NRW vorläufig außer Vollzug gesetzt. Das Gericht hatte in der Differenzierung zwischen einzelnen Handelszweigen eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung und damit einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz gesehen. Wenn kein sachlicher Differenzierungsgrund mehr ersichtlich sei, überschreite der Verordnungsgeber seinen ohnehin schon großen Gestaltungsspielraum, so die Richter.

 

OLG Hamm, Beschl. v. 08.02.2021 – 1 RBs 2, 4-5/21: Ansammlungsverbot der CoronaSchVO NRW voraussichtlich rechtmäßig

Das OLG Hamm hat in mehreren Beschlüssen entschieden, dass das Ansammlungsverbot im öffentlichen Raum (§ 12 Abs. 1 i.V.m. § 16 Abs. 3 Nr. 2 CoronaSchVO) rechtmäßig ist. Das Verbot sei von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt. Begriffliche Unbestimmtheiten bestünden bei den Begriffen „Zusammenkunft“ und „Ansammlung“ nicht.  Auch bestünden keine Bedenken gegen die materielle rechtmäßigkeit der Regelung, da sie insbesondere verhältnismäßig sei.

Eine ähnliche Entscheidung erging am 28.01.2021 vom 4. Senat für Bußgeldsachen: 4 RBs 446/20.

 

SächsOVG, Beschl. v. 07.02.2021 – 3 B 424/20: § 5 Abs. 2 Sätze 2 bis 5 SächsCoronaSchVO sind voraussichtlich rechtmäßig

Das Sächsische OVG hat entschieden, dass die Zutrittsbeschränkung für Groß- und Einzelhandelsmärkte, die eine Verkaufsfläche von über 800 qm aufweisen, voraussichtlich rechtmäßig ist und somit nicht einstweilen außer Vollzug zu setzten ist.

Die Verordnung der Sächsischen Staatsregierung stütze sich auf eine ausreichende Verordnungsermächtigung, die Voraussetzungen dieser lägen zudem auch vor, die Norm sei ausreichend bestimmt und greife zudem nicht in unverhältnismäßiger Weise in die Grundrechte der Antragstellerin ein.

 

BayVGH, Beschl. v. 26.01.2021 – 20 NE 21.162: 15 KM-Regelung außer Kraft gesetzt

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die 15 KM-Regelung aus § 25 Abs. 1 Satz 1-3 BayIfSMV vorläufig außer Vollzug gesetzt. Die Norm verstoße gegen den Bestimmtheitsgrundsatz (abgeleitet aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG), da für den Bürger nicht erkennbar sei, welchen räumlichen Geltungsbereich die ihn hieraus treffende Pflicht, keine touristische Tagesausflüge über einen Umkreis von 15 km um die Wohnortgemeinde zu unternehmen, hat. Sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht sei aus der Regelung nicht unmittelbar ersichtlich, ab welchem Zeitpunkt das Verbot gelte und wie sich der erlaubte Aufenthaltsbereich für den Normunterworfenen konkret darstelle.

 

OVG Thüringen, Beschl. v. 07.01.2021 – 3 EN 851/20: Schließung des Einzelhandels gerechtfertigt

Das OVG Thüringen hat den Antrag auf Außervollzugsetzung der Sondereindämmungsmaßnahmenverordnung einer Möbelhausbetreiberin abgelehnt.

Es müsse offenbleiben, ob die Differenzierung in § 8 Abs. 2 3. ThürSARS-CoV-2-SonderEindmaßnVO, wonach Geschäfte des Einzelhandels für den Publikumsverkehr grundsätzlich zu schließen seien, jedoch der Kfz-Handel weiterhin geöffnet sei, nach Art. 3 GG sachlich zu rechtfertigen sei. Eine solche Rechtfertigung sei ausgehend von der besonderen Infektionslage und dem dadurch bedingten Handlungsdruck des Verordnungsgebers nicht ausgeschlossen, so das OVG.

Allein eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebotes eröffne dem Verordnungsgeber, soweit nicht andere rechtserhebliche Gesichtspunkte Anderes geböten erneut einen Entscheidungsspielraum, diesen Gleichheitsverstoß zu beseitigen. Dies schließe vorliegend nicht aus, im Interesse des Infektionsschutzes und der Vermeidung weiterer Infektionen, Kontaktbeschränkungen gegebenenfalls auch für weitere, bislang geöffnete Bereiche des Wirtschaftslebens einzuführen.

KriPoZ-RR, Beitrag 23/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 12.03.2020 – C‑659/18: Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand darf nicht entzogen werden, wenn Beschuldigter nicht vor Untersuchungsrichter erscheint

Amtlicher Leitsatz:

Die Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, insbesondere ihr Art. 3 Abs. 2, ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inanspruchnahme des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in der vorgerichtlichen Phase des Strafverfahrens aufgrund des Nichterscheinens des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person auf eine Ladung vor einen Untersuchungsrichter ausgesetzt werden kann, bis der nationale Haftbefehl gegen den Betroffenen vollzogen ist.

Sachverhalt:

Das Untersuchungsgericht Nr. 4 von Badalona, Spanien hat dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob nationale Regelungen, die es vorsehen, das Recht des Beschuldigten auf Zugang zu seinem Rechtsbeistand im vorgerichtlichen Verfahren an bestimmte Bedingungen zu knüpfen, gegen Unionsrecht verstoßen.

Anlass zu dieser Frage bot ein Verfahren, das in Spanien wegen des Vorwurfs des Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Urkundenfälschung geführt worden war. Der Beschuldigte hatte in einer Verkehrskontrolle einen gefälschten bulgarischen Führerschein vorgezeigt. Zu seiner richterlichen Vernehmung war er nicht erschienen. Daraufhin hatte sich eine ordnungsgemäß bevollmächtigte Strafverteidigerin bei den Behörden gemeldet und beantragt, dass alle maßgeblichen Dokumente an sie verschickten werden. Nach der geltenden Rechtslage in Spanien wäre es nun möglich gewesen, dem Beschuldigten den Zugang zu seiner Verteidigerin zu verwehren bzw. diese nicht anzuerkennen bis er persönlich bei Gericht erschienen ist. Das Vorlegende Gericht hat Zweifel, ob diese nationale Regelung mit der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs vereinbar ist.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH entschied, dass die spanische Regelung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

Zunächst stellte er fest, dass die Richtlinie unmissverständlich anordne, dass jedem Beschuldigten auch schon vor der ersten Befragung durch die Strafverfolgungsbehörden das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zugutekomme.

Von diesem Recht des Beschuldigten dürfe in der Praxis nur aufgrund der wenigen in der Richtlinie angegebenen Ausnahmen, insbesondere die große geographische Entfernung, abgewichen werden.

Eine solche Ausnahme sei im vorliegenden Fall jedoch nicht ersichtlich, so der EuGH.

Weitere Ausnahmen könne der nationale Gesetzgeber nicht vorsehen, da die Richtlinie insoweit abschließend sei. Käme den nationalen Gesetzgebern das Recht zu eigene Ausnahmetatbestände, ähnlich dem in Spanien, zu schaffen, würde dies die Systematik und die Zwecke der Richtlinie konterkarieren.

Damit sei es rechtswidrig, das Recht des Beschuldigten auf Zugang zu einem Rechtsbeistand von seinem Erscheinen vor dem Untersuchungsrichter abhängig zu machen. Insoweit verstoße die spanische Regelung gegen Unionsrecht.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Anforderungen der Richtlinie sind in Deutschland durch das zweite Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts umgesetzt worden. Die Richtlinie und Informationen zur nationalen Umsetzung finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 22/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 03.03.2020 – C‑717/18: Vollstreckungsstaat hat bei Prüfung der Voraussetzungen eines EuHB die im Tatzeitpunkt geltenden Normen des Ausstellungsstaates heranzuziehen

Amtlicher Leitsatz:

Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde bei der Prüfung, ob die Straftat, wegen der ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt worden ist, im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist, das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats in der für die Handlungen, die zu der Rechtssache geführt haben, in deren Rahmen der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, geltenden Fassung heranzuziehen hat.

Sachverhalt:

Der Appellationshof in Gent, Belgien hat dem EuGH zur Vorabentscheidung die Frage vorgelegt, auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung des Strafmaßes im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (EuHB) abzustellen sei. Denn gem. Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sei die beiderseitige Strafbarkeit als Vollstreckungsvoraussetzung ab einer maximalen Strafandrohung von drei Jahren nicht mehr vom Vollstreckungsstaat zu prüfen.

Anlass zu dieser Frage hatte ein Vollstreckungsverfahren auf Betreiben des spanischen Nationalen Gerichtshofs gegeben.

Das Gericht hatte von den zuständigen belgischen Behörden die Festnahme und Überstellung eines spanischen Rappers gefordert, der in Spanien rechtskräftig wegen Verherrlichung des Terrorismus und der Erniedrigung seiner Opfer zu der im Verurteilungszeitpunkt maximalen Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden war. Die Vollstreckung hatte das zuständige Gericht der ersten Instanz abgelehnt, da die gegenseitige Strafbarkeit nicht gegeben gewesen sei.

Nach der Verurteilung des Angeklagten, aber noch vor Ausstellung des EuHB, war die maximale Strafandrohung des Tatbestands in Spanien auf drei Jahre Freiheitsstrafe erhöht worden, sodass bei Heranziehung dieser Strafandrohung die beiderseitige Strafbarkeit vom erstinstanzlichen Gericht in Belgien nicht mehr zu prüfen gewesen wäre.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH entschied, dass die maßgebliche Strafandrohung der Norm zu entnehmen sei, die im Tatzeitpunkt gegolten habe.

Zunächst gebe die Zeitform, in der die Regelung des Rahmenbeschluss abgefasst worden sei, keinen Aufschluss über den maßgeblichen Zeitpunkt, da das Indikativ Präsens generell in den Regelungen verwendet werde, um deren Geltungsanspruch hervorzuheben, so der EuGH.

Weiter führt der Gerichtshof aus, dass sich aus dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses klar ergebe, dass zur Prüfung des Mindestmaßes von vier Monaten allein auf das Recht des Ausstellungsstaates abgestellt werden dürfe, welches im Verurteilungszeitpunkt gegolten habe. Gleiches müsse dann auch für Art. 2 Abs. 2 gelten.

Würde für die Prüfung, ob ein Fall des Art. 2 Abs. 2 vorliege, das Recht des Ausstellungsstaates im Zeitpunkt des Erlasses des EuHB herangezogen werden, könne dies die kohärente Anwendung beider Vorschriften beeinflussen.

Zudem ergebe sich aus Rubrik c des im Rahmenbeschluss vorgeschriebenen Formblatts des Europäischen Haftbefehls, dass die Angaben, die die ausstellende Justizbehörde zur möglichen Strafhöhe machen müsse, das zur Tatzeit geltende Recht betreffen müsse.

Schließlich sei dieses Ergebnis auch mit dem Zweck des EuHB vereinbar.

Dieser bestünde darin, die justizielle Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union effektiver und schneller zu gestalten. 

Würde man vom vollstreckenden Mitgliedsstaat nun verlangen, die Voraussetzungen der Vollstreckung des EuHB aufgrund der Vorschriften zu beurteilen, die im Erlasszeitpunkt anstatt im Tatzeitpunkt gegolten haben, würde dieser Zweck gefährdet. Denn die vollstreckende Justizbehörde könnte bei der Bestimmung der maßgeblichen Vorschriften auf Schwierigkeiten stoßen, wenn diese, wie in diesem Fall, zwischen Verurteilung und Erlass des EuHB geändert worden seien.

Damit sei im Ergebnis immer auf das Recht abzustellen, das im Ausstellungsstaat zum Tatzeitpunkt gegolten habe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Zuletzt hatte der EuGH zum Europäischen Haftbefehl entschieden, dass der Vollstreckungsstaat die konkreten Haftbedingungen im Ausstellungsstaat zu prüfen habe, wenn ernstliche Bedenken bestehen, dass diese den Anforderungen der EMRK nicht genügen. Den KriPoZ-RR Beitrag zu diesem Urteil finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 21/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 09.01.2020 – 4 StR 324/19: § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB erfasst alle Verkehrsvorgänge, für die der Verordnungsgeber eine Vorfahrtsregelung getroffen hat

Leitsatz der Redaktion:

Der Anwendungsbereich des § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB erfasst alle Verkehrsvorgänge, bei denen sich Fahrzeuge derart im Straßenverkehr begegnen, dass es der Verordnungsgeber für erforderlich hielt, eine Vorfahrtsregelung zu erlassen.

Sachverhalt:

Das LG Aachen hat den Angeklagten – neben weiteren Delikten – wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte seinen PKW in einer Engstelle an am Straßenrand geparkten Fahrzeugen vorbei auf die Gegenfahrbahn gesteuert, obwohl ihm ein anderer PKW entgegengekommen war und die verbleibende Fahrbahnbreite für beide Fahrzeuge nicht ausgereicht hatte. Damit hatte der Angeklagten gegen die Vorfahrtsregel des § 6 Satz 1 StVO verstoßen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Entscheidung des LG, wonach dieser Verstoß gegen § 6 Satz 1 StVO ebenfalls von § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB erfasst werden könne.

Es komme für eine mögliche Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs nicht darauf an, dass der Vorfahrtsverstoß in einer Missachtung der Vorfahrt bei sich kreuzenden Straßen (§ 8 StVO) bestehe. Vielmehr erfasse der Tatbestand alle Verstöße gegen ein Vorfahrtsgebot, welches der Verordnungsgeber für Verkehrsvorgänge erlassen habe, bei denen die Fahrlinien zweier Fahrzeuge bei unveränderter Fahrtrichtung und Fahrweise zusammentreffen oder einander gefährlich nahekommen, so der BGH.

 

Anmerkung der Redaktion:

Damit bestätigt der Senat erneut die Anwendbarkeit des sog. erweiterten Vorfahrtsbegriffs im Rahmen des § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB. Eine ähnliche Entscheidung (allerdings zu § 10 Satz 1 StVO) erging bereits 2009. Diese finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 20/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 10.10.2019 – 1 StR 632/18: 1. Senat hält Verfahrensrüge bei Divergenz zwischen Hauptverhandlungsprotokoll und Urteilsurkunde für nicht erforderlich (a.A.: 3. Senat)

Leitsatz der Redaktion:

Weicht das verkündete Urteil laut Hauptverhandlungsprotokoll von der späteren schriftlichen Urteilsurkunde ab, stellt dies einen Rechtsfehler dar, der von Amts wegen zu prüfen ist und nicht mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden muss.

Sachverhalt:

Das LG Nürnberg-Fürth hat den Angeklagten wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen nach der schriftlichen Urteilsurkunde zu 13 Jahren Haft verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte eine Bande zum Absatz von Heroin gegründet, deren Chef er gewesen war. Er hatte das Heroin beschafft, die anderen Mitglieder angewiesen es zu portionieren und abzupacken und dann von weiteren Mitgliedern zu einem festgelegten Preis verkaufen lassen.

Das schriftliche Urteil des LG weist dafür eine Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren aus. In der Sitzungsniederschrift ist der verkündete Tenor allerdings mit 12 Jahren Freiheitsstrafe angegeben worden. Der dem Protokoll angefügte und unterschriebene Tenor enthalte ebenso wie die Haftentscheidung und der Haftbefehl wiederum eine Strafe von 13 Jahren.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das ansonsten im Schuld- und Maßregelausspruch rechtsfehlerfreie Urteil auf, da die Begründung des Strafausspruchs, gerade bei einer solch hohen Freiheitsstrafe, die nötige Begründungstiefe vermissen lasse.

Zu den unterschiedlichen Strafhöhen führte der Senat aus:

Die Ansicht des 3. Senats, dass eine Divergenz zwischen dem Urteilstenor aus dem Hauptverhandlungsprotokoll und dem des schriftlichen Urteils mit der Verfahrensrüge vom Beschwerdeführer anzugreifen sei, begegne Bedenken.

§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gelte nur für Verfahrensverstöße und gerade nicht für Fehler, die von Amts wegen zu prüfen seien. Um einen solchen Fehler handele es sich jedoch bei der verfahrensgegenständlichen Konstellation. Dies folge daraus, dass ein Urteil mit der Verkündung der Urteilsformel nach § 268 Abs. 2 Satz 1 StPO entstehe. Die nachträgliche schriftliche Abfassung und Übernahme des Tenors in eine Urteilsurkunde, seien nicht maßgeblich.

Da das Revisionsverfahren ein zu prüfendes erstinstanzliches Urteil voraussetze, sei auch dessen Bestehen, ebenso wie das Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen der wirksamen Anklageerhebung und des Eröffnungsbeschlusses, von Amts wegen zu prüfen. Somit sei die wirksame Verkündung des Urteils, bewiesen durch das Hauptverhandlungsprotokoll (§ 274 Satz 1 StPO) eine Verfahrensvoraussetzung und von Amts wegen zu prüfen.

Bei einem Auseinanderfallen des Protokolls und der schriftlichen Urteilsurkunde, sei dann die Sitzungsniederschrift maßgeblich.

 

Anmerkung der Redaktion:

Den die Gegenansicht vertretenden Beschluss des 3. Senats finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 19/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 29.01.2020 – 4 StR 605/19: Revisionsrechtliche Prüfung von Erziehungsmaßregeln auch bei rechtsfehlerfreiem Schuldspruch

Amtlicher Leitsatz:

Das Revisionsgericht hat auf eine unbeschränkt eingelegte und auch sonst zulässige Revision die vorinstanzlich angeordneten Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel ohne die Beschränkung in § 55 Abs. 1 Satz 1 JGG auch dann auf Rechtsfehler zu überprüfen, wenn es den Schuldspruch unangetastet lässt.

Sachverhalt:

Das LG Dessau-Roßlau hat den jugendlichen Angeklagten wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung zu 150 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt.

Hiergegen richtete sich die unbeschränkt eingelegte Revision des Angeklagten, mit der er ebenfalls den Umfang der ihm erteilten Auflagen rügt.

Nach Ansicht des Generalbundesanwalts könne der BGH diese jedoch nicht prüfen, da § 55 Abs. 1 Satz 1 JGG den Prüfungsumfang des Revisionsgerichts einschränke.

Entscheidung des BGH:

Der BGH widersprach dem Generalbundesanwalt und geht von einer umfassenden Prüfungskompetenz aus.

Aus § 337 StPO und § 2 Abs. 2 JGG ergebe sich eine umfassende Prüfungspflicht des Revisionsgerichts, wenn das Rechtsmittel zulässig und unbeschränkt eingelegt worden sei.

Eine Beschränkung dieses Prüfungsumfangs sei nur aufgrund einer besonderen gesetzlichen Regelung möglich. Eine solche stelle § 55 Abs. 1 Satz 1 JGG jedoch nicht dar, da der Beschwerdeführer ausdrücklich auch gegen den Schuldspruch vorgegangen sei. Zudem sei die Norm als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und ihrem Wortlaut daher keine weitergehende Beschränkung zu entnehmen. Dies sei auch vor dem Hintergrund der Garantie eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) geboten.

 

Anmerkung der Redaktion:

Ein Urteil im Jugendstrafverfahren kann nicht dadurch angefochten werden, dass der Revisionsantrag sich ausschließlich gegen Art oder Umfang der verhängten Erziehungsmaßregel wendet: BGH, Beschl. v. 10.07.2013 – 1 StR 278/13.

Sein Angriffsziel muss der Revisionsführer bei Revision gegen ein Zuchtmittelurteil klar benennen: OLG Hamm, Beschl. v. 07.02.2017 – III-5 RVs 6/17.

Eine Umgehung des § 55 Abs. 1 Satz 1 JGG kann nicht durch lediglich formale Angreifung des Schuldspruchs erfolgen: OLG Nürnberg, Beschl. v. 30.03.2016 – 1 OLG 8 Ss 49/16.

 

 

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