KriPoZ-RR, Beitrag 23/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 12.03.2020 – C‑659/18: Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand darf nicht entzogen werden, wenn Beschuldigter nicht vor Untersuchungsrichter erscheint

Amtlicher Leitsatz:

Die Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, insbesondere ihr Art. 3 Abs. 2, ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inanspruchnahme des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in der vorgerichtlichen Phase des Strafverfahrens aufgrund des Nichterscheinens des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person auf eine Ladung vor einen Untersuchungsrichter ausgesetzt werden kann, bis der nationale Haftbefehl gegen den Betroffenen vollzogen ist.

Sachverhalt:

Das Untersuchungsgericht Nr. 4 von Badalona, Spanien hat dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob nationale Regelungen, die es vorsehen, das Recht des Beschuldigten auf Zugang zu seinem Rechtsbeistand im vorgerichtlichen Verfahren an bestimmte Bedingungen zu knüpfen, gegen Unionsrecht verstoßen.

Anlass zu dieser Frage bot ein Verfahren, das in Spanien wegen des Vorwurfs des Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Urkundenfälschung geführt worden war. Der Beschuldigte hatte in einer Verkehrskontrolle einen gefälschten bulgarischen Führerschein vorgezeigt. Zu seiner richterlichen Vernehmung war er nicht erschienen. Daraufhin hatte sich eine ordnungsgemäß bevollmächtigte Strafverteidigerin bei den Behörden gemeldet und beantragt, dass alle maßgeblichen Dokumente an sie verschickten werden. Nach der geltenden Rechtslage in Spanien wäre es nun möglich gewesen, dem Beschuldigten den Zugang zu seiner Verteidigerin zu verwehren bzw. diese nicht anzuerkennen bis er persönlich bei Gericht erschienen ist. Das Vorlegende Gericht hat Zweifel, ob diese nationale Regelung mit der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs vereinbar ist.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH entschied, dass die spanische Regelung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

Zunächst stellte er fest, dass die Richtlinie unmissverständlich anordne, dass jedem Beschuldigten auch schon vor der ersten Befragung durch die Strafverfolgungsbehörden das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zugutekomme.

Von diesem Recht des Beschuldigten dürfe in der Praxis nur aufgrund der wenigen in der Richtlinie angegebenen Ausnahmen, insbesondere die große geographische Entfernung, abgewichen werden.

Eine solche Ausnahme sei im vorliegenden Fall jedoch nicht ersichtlich, so der EuGH.

Weitere Ausnahmen könne der nationale Gesetzgeber nicht vorsehen, da die Richtlinie insoweit abschließend sei. Käme den nationalen Gesetzgebern das Recht zu eigene Ausnahmetatbestände, ähnlich dem in Spanien, zu schaffen, würde dies die Systematik und die Zwecke der Richtlinie konterkarieren.

Damit sei es rechtswidrig, das Recht des Beschuldigten auf Zugang zu einem Rechtsbeistand von seinem Erscheinen vor dem Untersuchungsrichter abhängig zu machen. Insoweit verstoße die spanische Regelung gegen Unionsrecht.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Anforderungen der Richtlinie sind in Deutschland durch das zweite Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts umgesetzt worden. Die Richtlinie und Informationen zur nationalen Umsetzung finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 22/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 03.03.2020 – C‑717/18: Vollstreckungsstaat hat bei Prüfung der Voraussetzungen eines EuHB die im Tatzeitpunkt geltenden Normen des Ausstellungsstaates heranzuziehen

Amtlicher Leitsatz:

Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde bei der Prüfung, ob die Straftat, wegen der ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt worden ist, im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist, das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats in der für die Handlungen, die zu der Rechtssache geführt haben, in deren Rahmen der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, geltenden Fassung heranzuziehen hat.

Sachverhalt:

Der Appellationshof in Gent, Belgien hat dem EuGH zur Vorabentscheidung die Frage vorgelegt, auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung des Strafmaßes im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (EuHB) abzustellen sei. Denn gem. Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sei die beiderseitige Strafbarkeit als Vollstreckungsvoraussetzung ab einer maximalen Strafandrohung von drei Jahren nicht mehr vom Vollstreckungsstaat zu prüfen.

Anlass zu dieser Frage hatte ein Vollstreckungsverfahren auf Betreiben des spanischen Nationalen Gerichtshofs gegeben.

Das Gericht hatte von den zuständigen belgischen Behörden die Festnahme und Überstellung eines spanischen Rappers gefordert, der in Spanien rechtskräftig wegen Verherrlichung des Terrorismus und der Erniedrigung seiner Opfer zu der im Verurteilungszeitpunkt maximalen Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden war. Die Vollstreckung hatte das zuständige Gericht der ersten Instanz abgelehnt, da die gegenseitige Strafbarkeit nicht gegeben gewesen sei.

Nach der Verurteilung des Angeklagten, aber noch vor Ausstellung des EuHB, war die maximale Strafandrohung des Tatbestands in Spanien auf drei Jahre Freiheitsstrafe erhöht worden, sodass bei Heranziehung dieser Strafandrohung die beiderseitige Strafbarkeit vom erstinstanzlichen Gericht in Belgien nicht mehr zu prüfen gewesen wäre.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH entschied, dass die maßgebliche Strafandrohung der Norm zu entnehmen sei, die im Tatzeitpunkt gegolten habe.

Zunächst gebe die Zeitform, in der die Regelung des Rahmenbeschluss abgefasst worden sei, keinen Aufschluss über den maßgeblichen Zeitpunkt, da das Indikativ Präsens generell in den Regelungen verwendet werde, um deren Geltungsanspruch hervorzuheben, so der EuGH.

Weiter führt der Gerichtshof aus, dass sich aus dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses klar ergebe, dass zur Prüfung des Mindestmaßes von vier Monaten allein auf das Recht des Ausstellungsstaates abgestellt werden dürfe, welches im Verurteilungszeitpunkt gegolten habe. Gleiches müsse dann auch für Art. 2 Abs. 2 gelten.

Würde für die Prüfung, ob ein Fall des Art. 2 Abs. 2 vorliege, das Recht des Ausstellungsstaates im Zeitpunkt des Erlasses des EuHB herangezogen werden, könne dies die kohärente Anwendung beider Vorschriften beeinflussen.

Zudem ergebe sich aus Rubrik c des im Rahmenbeschluss vorgeschriebenen Formblatts des Europäischen Haftbefehls, dass die Angaben, die die ausstellende Justizbehörde zur möglichen Strafhöhe machen müsse, das zur Tatzeit geltende Recht betreffen müsse.

Schließlich sei dieses Ergebnis auch mit dem Zweck des EuHB vereinbar.

Dieser bestünde darin, die justizielle Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union effektiver und schneller zu gestalten. 

Würde man vom vollstreckenden Mitgliedsstaat nun verlangen, die Voraussetzungen der Vollstreckung des EuHB aufgrund der Vorschriften zu beurteilen, die im Erlasszeitpunkt anstatt im Tatzeitpunkt gegolten haben, würde dieser Zweck gefährdet. Denn die vollstreckende Justizbehörde könnte bei der Bestimmung der maßgeblichen Vorschriften auf Schwierigkeiten stoßen, wenn diese, wie in diesem Fall, zwischen Verurteilung und Erlass des EuHB geändert worden seien.

Damit sei im Ergebnis immer auf das Recht abzustellen, das im Ausstellungsstaat zum Tatzeitpunkt gegolten habe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Zuletzt hatte der EuGH zum Europäischen Haftbefehl entschieden, dass der Vollstreckungsstaat die konkreten Haftbedingungen im Ausstellungsstaat zu prüfen habe, wenn ernstliche Bedenken bestehen, dass diese den Anforderungen der EMRK nicht genügen. Den KriPoZ-RR Beitrag zu diesem Urteil finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 21/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 09.01.2020 – 4 StR 324/19: § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB erfasst alle Verkehrsvorgänge, für die der Verordnungsgeber eine Vorfahrtsregelung getroffen hat

Leitsatz der Redaktion:

Der Anwendungsbereich des § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB erfasst alle Verkehrsvorgänge, bei denen sich Fahrzeuge derart im Straßenverkehr begegnen, dass es der Verordnungsgeber für erforderlich hielt, eine Vorfahrtsregelung zu erlassen.

Sachverhalt:

Das LG Aachen hat den Angeklagten – neben weiteren Delikten – wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte seinen PKW in einer Engstelle an am Straßenrand geparkten Fahrzeugen vorbei auf die Gegenfahrbahn gesteuert, obwohl ihm ein anderer PKW entgegengekommen war und die verbleibende Fahrbahnbreite für beide Fahrzeuge nicht ausgereicht hatte. Damit hatte der Angeklagten gegen die Vorfahrtsregel des § 6 Satz 1 StVO verstoßen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Entscheidung des LG, wonach dieser Verstoß gegen § 6 Satz 1 StVO ebenfalls von § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB erfasst werden könne.

Es komme für eine mögliche Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs nicht darauf an, dass der Vorfahrtsverstoß in einer Missachtung der Vorfahrt bei sich kreuzenden Straßen (§ 8 StVO) bestehe. Vielmehr erfasse der Tatbestand alle Verstöße gegen ein Vorfahrtsgebot, welches der Verordnungsgeber für Verkehrsvorgänge erlassen habe, bei denen die Fahrlinien zweier Fahrzeuge bei unveränderter Fahrtrichtung und Fahrweise zusammentreffen oder einander gefährlich nahekommen, so der BGH.

 

Anmerkung der Redaktion:

Damit bestätigt der Senat erneut die Anwendbarkeit des sog. erweiterten Vorfahrtsbegriffs im Rahmen des § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB. Eine ähnliche Entscheidung (allerdings zu § 10 Satz 1 StVO) erging bereits 2009. Diese finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 20/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 10.10.2019 – 1 StR 632/18: 1. Senat hält Verfahrensrüge bei Divergenz zwischen Hauptverhandlungsprotokoll und Urteilsurkunde für nicht erforderlich (a.A.: 3. Senat)

Leitsatz der Redaktion:

Weicht das verkündete Urteil laut Hauptverhandlungsprotokoll von der späteren schriftlichen Urteilsurkunde ab, stellt dies einen Rechtsfehler dar, der von Amts wegen zu prüfen ist und nicht mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden muss.

Sachverhalt:

Das LG Nürnberg-Fürth hat den Angeklagten wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen nach der schriftlichen Urteilsurkunde zu 13 Jahren Haft verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte eine Bande zum Absatz von Heroin gegründet, deren Chef er gewesen war. Er hatte das Heroin beschafft, die anderen Mitglieder angewiesen es zu portionieren und abzupacken und dann von weiteren Mitgliedern zu einem festgelegten Preis verkaufen lassen.

Das schriftliche Urteil des LG weist dafür eine Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren aus. In der Sitzungsniederschrift ist der verkündete Tenor allerdings mit 12 Jahren Freiheitsstrafe angegeben worden. Der dem Protokoll angefügte und unterschriebene Tenor enthalte ebenso wie die Haftentscheidung und der Haftbefehl wiederum eine Strafe von 13 Jahren.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das ansonsten im Schuld- und Maßregelausspruch rechtsfehlerfreie Urteil auf, da die Begründung des Strafausspruchs, gerade bei einer solch hohen Freiheitsstrafe, die nötige Begründungstiefe vermissen lasse.

Zu den unterschiedlichen Strafhöhen führte der Senat aus:

Die Ansicht des 3. Senats, dass eine Divergenz zwischen dem Urteilstenor aus dem Hauptverhandlungsprotokoll und dem des schriftlichen Urteils mit der Verfahrensrüge vom Beschwerdeführer anzugreifen sei, begegne Bedenken.

§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gelte nur für Verfahrensverstöße und gerade nicht für Fehler, die von Amts wegen zu prüfen seien. Um einen solchen Fehler handele es sich jedoch bei der verfahrensgegenständlichen Konstellation. Dies folge daraus, dass ein Urteil mit der Verkündung der Urteilsformel nach § 268 Abs. 2 Satz 1 StPO entstehe. Die nachträgliche schriftliche Abfassung und Übernahme des Tenors in eine Urteilsurkunde, seien nicht maßgeblich.

Da das Revisionsverfahren ein zu prüfendes erstinstanzliches Urteil voraussetze, sei auch dessen Bestehen, ebenso wie das Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen der wirksamen Anklageerhebung und des Eröffnungsbeschlusses, von Amts wegen zu prüfen. Somit sei die wirksame Verkündung des Urteils, bewiesen durch das Hauptverhandlungsprotokoll (§ 274 Satz 1 StPO) eine Verfahrensvoraussetzung und von Amts wegen zu prüfen.

Bei einem Auseinanderfallen des Protokolls und der schriftlichen Urteilsurkunde, sei dann die Sitzungsniederschrift maßgeblich.

 

Anmerkung der Redaktion:

Den die Gegenansicht vertretenden Beschluss des 3. Senats finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 19/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 29.01.2020 – 4 StR 605/19: Revisionsrechtliche Prüfung von Erziehungsmaßregeln auch bei rechtsfehlerfreiem Schuldspruch

Amtlicher Leitsatz:

Das Revisionsgericht hat auf eine unbeschränkt eingelegte und auch sonst zulässige Revision die vorinstanzlich angeordneten Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel ohne die Beschränkung in § 55 Abs. 1 Satz 1 JGG auch dann auf Rechtsfehler zu überprüfen, wenn es den Schuldspruch unangetastet lässt.

Sachverhalt:

Das LG Dessau-Roßlau hat den jugendlichen Angeklagten wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung zu 150 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt.

Hiergegen richtete sich die unbeschränkt eingelegte Revision des Angeklagten, mit der er ebenfalls den Umfang der ihm erteilten Auflagen rügt.

Nach Ansicht des Generalbundesanwalts könne der BGH diese jedoch nicht prüfen, da § 55 Abs. 1 Satz 1 JGG den Prüfungsumfang des Revisionsgerichts einschränke.

Entscheidung des BGH:

Der BGH widersprach dem Generalbundesanwalt und geht von einer umfassenden Prüfungskompetenz aus.

Aus § 337 StPO und § 2 Abs. 2 JGG ergebe sich eine umfassende Prüfungspflicht des Revisionsgerichts, wenn das Rechtsmittel zulässig und unbeschränkt eingelegt worden sei.

Eine Beschränkung dieses Prüfungsumfangs sei nur aufgrund einer besonderen gesetzlichen Regelung möglich. Eine solche stelle § 55 Abs. 1 Satz 1 JGG jedoch nicht dar, da der Beschwerdeführer ausdrücklich auch gegen den Schuldspruch vorgegangen sei. Zudem sei die Norm als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und ihrem Wortlaut daher keine weitergehende Beschränkung zu entnehmen. Dies sei auch vor dem Hintergrund der Garantie eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) geboten.

 

Anmerkung der Redaktion:

Ein Urteil im Jugendstrafverfahren kann nicht dadurch angefochten werden, dass der Revisionsantrag sich ausschließlich gegen Art oder Umfang der verhängten Erziehungsmaßregel wendet: BGH, Beschl. v. 10.07.2013 – 1 StR 278/13.

Sein Angriffsziel muss der Revisionsführer bei Revision gegen ein Zuchtmittelurteil klar benennen: OLG Hamm, Beschl. v. 07.02.2017 – III-5 RVs 6/17.

Eine Umgehung des § 55 Abs. 1 Satz 1 JGG kann nicht durch lediglich formale Angreifung des Schuldspruchs erfolgen: OLG Nürnberg, Beschl. v. 30.03.2016 – 1 OLG 8 Ss 49/16.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 18/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 04.02.2020 – StB 2/20: § 88 JGG gilt auch bei Vollstreckung der Jugendstrafe im Erwachsenenvollzug

Amtlicher Leitsatz:

Die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung einer Restjugendstrafe ist auch dann nach § 88 JGG zu treffen, wenn die Jugendstrafe gemäß § 89b JGG nach den Vorschriften des Strafvollzuges für Erwachsene vollzogen wird und ihre Vollstreckung gemäß § 85 Abs. 6 Satz 1 JGG an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde abgegeben worden ist.

Sachverhalt:

Das OLG München hatte den mittlerweile 38jährigen Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen, die er als Heranwachsender geleistet hatte, zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt.

Die Strafe war gemäß § 89b JGG nach den Vorschriften des Strafvollzuges für Erwachsene vollstreckt worden.

Nach Verbüßung eines Drittels der Haftzeit hatte der Verurteilte einen Antrag auf Restaussetzung der Strafe zur Bewährung gestellt. Diesen Antrag hat das OLG verworfen, da sich die Vollstreckung mittlerweile nach § 57 StGB richte und damit der maßgebliche Halbstrafenzeitpunkt noch nicht erreicht sei.

Gegen diese Entscheidung wendete sich der Verurteilte mit der sofortigen Beschwerde zum BGH.

Entscheidung des BGH:

Der BGH half der Beschwerde ab.

Grundsätzlich sei gemäß § 1 Abs. 2 JGG und § 105 Abs. 1 JGG der Tatzeitpunkt der für die Anwendung des Jugendstrafrechts gemäß § 110 Abs. 1 JGG maßgebliche Zeitpunkt. Damit sei die Geltung des § 88 JGG gesetzlich angeordnet.

Dieser Grundsatz gelte im Erkenntnisverfahren zwingend, auch wenn in Fallkonstellationen wie der verfahrensgegenständlichen der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts nicht mehr zum Tragen komme.

Für eine Einschränkung im Vollstreckungsverfahren, wie vom OLG angenommen, bestünde ebenfalls kein Raum, so der BGH.

Mit der Entscheidung nach § 85 Abs. 6 Satz 1 JGG könne nicht die Feststellung verbunden werden, dass aufgrund fallbedingter Umstände kein Bedürfnis für die Anwendung des Jugendstrafrechts mehr bestehe.

Dies folge zum einen daraus, dass die besonderen Wertungen des Jugendstrafrechts bereits im Erkenntnisverfahren, wenn überhaupt, nur noch eine untergeordnete Rolle gespielt hätten und dennoch eine Jugendstrafe mit geringerem Strafrahmen habe gebildet werden müssen. Der Charakter einer Jugendstrafe ändere sich durch die Herausnahme des Verurteilten aus dem Jugendstrafvollzug gerade nicht, so der BGH.

Zum anderen bestehe für eine Anwendung des § 57 StGB kein zwingender Grund, da § 88 JGG eine Ermessensentscheidung über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung ermögliche, in deren Abwägung dann die besonderen Umstände, wie das hohe Alter des Verurteilten und die Vollstreckung der Strafe nach Erwachsenenstrafrecht, eingestellt werden könnten.

Schließlich spreche auch gegen die Anwendung des § 57 StGB, dass mit einer Abgabeentscheidung nach § 85 Abs. 6 JGG, gegen die lediglich eine gerichtliche Kontrolle gemäß §§ 23 ff. EGGVG möglich ist, dann eine Änderung der materiellen Rechtslage von erheblicher Bedeutung für den Verurteilten einhergehen würde. Vor dem Hintergrund, dass gegen solche Entscheidungen mit ähnlicher Tragweite nach der StPO Rechtsmittel wie die sofortige Beschwerde oder die ausnahmsweise Anfechtbarkeit einer oberlandesgerichtlichen Entscheidung statthaft seien, wäre eine solche Konstellation nicht vom Willen des Gesetzgebers umfasst.

Ebenfalls lasse sich eine Anwendbarkeit des § 57 StGB nicht aus einer Auslegung der §§ 89b Abs. 1, 85 Abs. 6 JGG ableiten.

Der Wortlaut des § 89b JGG spreche gerade von der Vollziehung und nicht Vollstreckung einer Jugendstrafe und nicht Strafe.

Zudem verweise § 85 Abs. 6 Satz 2 JGG nur auf die StPO sowie das GVG und gerade nicht auf das StGB. Eine mittelbare Verweisung auf das StGB über § 454 Abs. 1 StPO liege nach Ansicht des BGH fern.

Abschließend seien zudem keine systematischen oder historischen Argumente ersichtlich, die ein anderes Ergebnis der Auslegung erzwingen würden.

Damit sei der Antrag des Verurteilten auf Aussetzung der Restjugendstrafe zur Bewährung im Ergebnis nicht schon aufgrund der erst zu einem Drittel verbüßten Haftstrafe unzulässig gewesen.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Frage, ob eine nach den Regeln des Erwachsenenvollzugs vollstreckte Jugendstrafe schon nach Verbüßung eines Drittels der Haft zur Bewährung ausgesetzt werden kann, ist in der Rechtsprechung und Literatur umstritten.

Für eine Anwendung des § 57 StGB zum Beispiel: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 25.04.1995 – 1 Ws 332 – 333/95; OLG München, Beschl. v. 12.11.2008 – 2 Ws 986 – 988/08; KG, Beschl. v. 05.04.2011 – 2 Ws 102/11.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 17/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 28.01.2020 – 4 StR 303/19: Keine teleologische Reduktion des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG

Amtlicher Leitsatz:

Zur Ablehnung einer teleologischen Reduktion des Tatbestands des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln.

Sachverhalt:

Das LG Bielefeld hat den Angeklagten wegen bewaffneten unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit bewaffnetem unerlaubten Sichverschaffens von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte verschiedene Betäubungsmittel in nicht geringer Menge in seiner Wohnung vorrätig gehalten, um sie teils selbst zu konsumieren und teils zu veräußern.

Diese waren bei einer Wohnungsdurchsuchung neben zwei Teleskopschlagstöcken, einem Jagd- und einem Springmesser sowie einer halbautomatischen Schreckschusspistole sichergestellt worden. Zeitgleich hatte der Angeklagte auch eine weitere Bestellung von Betäubungsmittel bei seinem Lieferanten aufgegeben, was dazu geführt hatte, dass der Kurier ebenfalls von der Polizei festgesetzt werden konnte.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Verurteilung des Angeklagten wegen § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG, da es für den Tatbestand ausreiche, dass dem Täter die Schusswaffe oder der gefährliche Gegenstand während eines Teilakts (hier der Bestellung bei seinem Lieferanten) der Tatbestandsverwirklichung zur Verfügung gestanden habe. Eine Verwendungsabsicht fordere die Qualifikation gerade nicht.

Ebenfalls sei eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs nicht angezeigt.

Telos der Norm sei es, die erhöhte Gefährlichkeit zu adressieren, die von einem Täter bei einem Akt des Betäubungsmittelhandels ausgehe, der jederzeit Zugriff auf eine Waffe habe. Daher schütze die Qualifikation nicht nur das Rechtsgut der Volksgesundheit, sondern darüber hinaus als abstraktes Gefährdungsdelikt auch das Leben und die körperliche Unversehrtheit von Personen, die gewollt oder ungewollt mit dem Täter während des Umsatzgeschäfts in Kontakt kämen.

Dabei sei dem Gesetzgeber bei der Einführung des Tatbestandes die weite Auslegung des Handeltreibens in der Rechtsprechung bekannt gewesen, was schon gegen eine einschränkende Auslegung spreche.

Zudem seien keine klaren Kriterien ersichtlich, anhand derer eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs der Norm festgemacht werden könne, so der BGH.

Eine Begrenzung auf Konstellationen, in denen ein zeitgleicher Zugriff auf die Waffe bestanden habe, würde bewaffnete und nicht am Umsatzgeschäft unmittelbar beteiligte Hintermänner privilegieren.

Da die Norm alle Personen schützen solle, die mit dem Täter während des Handeltreibens in Kontakt kämen, scheide auch eine Begrenzung auf vom Täter gewollte Begegnungen mit Dritten unter dem Gesichtspunkt der Gefährlichkeit aus. Auch oder gerade die ungewollten Begegnungen von Dritten mit einem bewaffneten Täter, böten gefährliches Eskalationspotential.

Zudem habe der Gesetzgeber den Tatbestand bewusst als abstraktes und gerade nicht als konkretes Gefährdungsdelikt ausgestaltet, um das Erfordernis einer gefährlichen Situation im Einzelfall mit einer bevorstehenden Rechtsgutsverletzung auszuschließen.

Für eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs bestehe auch deshalb kein Bedürfnis, da atypische Fallkonstellationen mit geringem Schuldumfang des Täters über § 30a Abs. 3 BtMG erfasst werden könnten.

Lediglich die konkurrenzrechtliche Bewertung durch das LG sei rechtsfehlerhaft, da der Waffenbesitz beide Taten des bewaffneten Handeltreibens zu einer Tateinheit verknüpfe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Überlegungen, Fälle, bei denen keine Gefahr für das geschützte Rechtsgut bestand, von der Strafbarkeit der Qualifikation auszunehmen, finden sich beispielsweise in BGH, Urt. v. 14.08.2018 – 1 StR 149/18 und BGH, Beschl. v. 03.04.2002 – 1 ARs 14/02.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 16/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BVerfG, Urt. v. 26.02.2020 – 2 BvR 2347/15: Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB

Amtliche Leitsätze:

1.

a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.

b) Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.

c) Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.

2. Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung entfalten, können Grundrechte beeinträchtigen und müssen daher von Verfassungs wegen hinreichend gerechtfertigt sein. Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung macht es Suizidwilligen faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte, geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen.

3.

a) Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist am Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit zu messen.

b) Bei der Zumutbarkeitsprüfung ist zu berücksichtigen, dass die Regelung der assistierten Selbsttötung sich in einem Spannungsfeld unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte bewegt. Die Achtung vor dem grundlegenden, auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht, tritt in Kollision zu der Pflicht des Staates, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen.

4. Der hohe Rang, den die Verfassung der Autonomie und dem Leben beimisst, ist grundsätzlich geeignet, deren effektiven präventiven Schutz auch mit Mitteln des Strafrechts zu rechtfertigen. Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der Suizidhilfe unter Strafe stellt, muss sie sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt.

5. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in § 217 Abs. 1 StGB verengt die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem solchen Umfang, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit verbleibt.

6. Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.

Sachverhalt:

Verschiedene Beschwerdeführer haben Verfassungsbeschwerde gegen das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) erhoben. Darunter mehrere schwer erkrankte Personen, die ihr Leben unter Zuhilfenahme geschäftsmäßig angebotener Hilfe anderer Personen beenden wollen. Zudem mehrere Vereine, die Hilfe bei der Selbsttötung angeboten haben und weitere im Bereich der Patientenversorgung tätige Ärzte und Rechtsanwälte.

Die Patienten haben sich durch § 217 StGB in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verletzt gesehen, welches ihnen ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben zusichere, von dem auch das Recht umfasst sei, für die Einleitung eines Sterbeprozesses Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen.

Die Sterbehilfevereine könnten ihrer Tätigkeit nicht mehr nachgehen, ohne sich einer Strafbarkeit bzw. einer Ordnungswidrigkeit auszusetzen, weshalb sie in der Strafnorm eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 12 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG gesehen haben.

Die Ärzte und Rechtsanwälte haben ihre Verfassungsbeschwerde ebenfalls mit einer Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG und der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 Var. 2 GG begründet.

Zudem waren alle Beschwerdeführer der Auffassung, dass § 217 StGB zu unbestimmt sei und die im Einzelfall straffreie Suizidbeihilfe erfassen könne, wenn sie von einem Berufsträger ausgeübt werde.

Entscheidung des BVerfG:

Das BVerfG gab den Verfassungsbeschwerden statt und erklärte § 217 StGB für verfassungswidrig und nichtig.

Die Strafnorm greife ungerechtfertigt in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der sterbewilligen Patienten ein. Aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG lasse sich die Wertung des Grundgesetzes entnehmen, dass der einzelne Mensch eine zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähige Person darstelle. Die damit verfassungsrechtlich verbürgte autonome Wahrung der eigenen Persönlichkeit setze voraus, dass der Einzelne über seine Existenz frei verfügen könne und nicht zu einem Leben gezwungen werden könne, welches dem eigenen Selbstbild und Selbstverständnis nicht entspreche.

Davon umfasst sei auch der freiwillige und dauerhafte Entschluss, sein Leben zu beenden, der wie kein anderer die Grundfragen der eigenen menschlichen Existenz im Hinblick auf Identität und Individualität berühre. Das folglich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ableitbare Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben sei daher auch auf keine von außen definierte Situation beschränkbar. Die Wertungen des Grundgesetzes verböten eine Einschränkung des Suizidrechts anhand bestimmter Kriterien, wie Alter oder Krankheitszustand, denn eine solche Einengung würde eine Bewertung der Motive des Einzelnen bedeuten, die dem staatlichen Eindringen entzogen sei, so das BVerfG.

Der Mensch dürfe den Entschluss, sein eigenes Leben zu beenden, allein anhand seines eigenen Verständnisses von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eignen Existenz treffen und somit seiner der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung mit seinem Suizid ein letztes Mal Ausdruck verleihen.

Da dieses Recht des Einzelnen faktisch nur im Austausch mit Dritten effektiv ausgeübt werden könne, stelle das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe einen mittelbaren, faktischen Grundrechtseingriff dar, der vom Gesetzgeber auch in dieser Art bezweckt worden sei.

Eine Rechtfertigung des Eingriffs scheide dabei jedoch aus.

Zwar sei der Autonomie- und Lebensschutz, der § 217 StGB zugrunde liege, ein legitimer Zweck. Allerdings sei dort, wo die freie Entscheidung des Einzelnen nicht mehr nur vor sozialen Pressionen geschützt, sondern (faktisch) unmöglich gemacht werde, die Grenze des zu wahrenden Entfaltungsraums autonomer Selbstbestimmung überschritten.

Außerhalb der geschäftsmäßigen Sterbehilfe verblieben dem Einzelnen oft nur wenig Möglichkeiten seinen Suizidentschluss umzusetzen. Daher sei die straffreie Suizidbeihilfe im Einzelfall nicht ausreichend, um dem Selbstbestimmungsrecht des Sterbewilligen zur Durchsetzung zu verhelfen, denn dann sei der Patient auf die Bereitschaft eines Arztes zur Hilfe angewiesen, welche in der Regel nicht vorliegen werde, so das BVerfG.

Schließlich sei auch der Ausbau der palliativmedizinischen Versorgung kein Argument für die Angemessenheit des § 217 StGB. Eine solche könne lediglich dafür sorgen, dass die Fallzahlen freiwilliger Suizidentschlüsse gesenkt würden. Dennoch müsse es dem Einzelnen freistehen, sich gegen bestehende Alternativen und für den eigenen Tod zu entscheiden.

Da das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen mit dem Handeln von Sterbehelfern korrespondiere und erst durch deren geschäftsmäßige Hilfehandlungen voll verwirklicht werden könne, sei deren Strafbarkeit als unmittelbare Normadressaten ebenfalls gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG verfassungswidrig. Die Tätigkeit der Vereine sei von Art. 12 Abs. 1 GG geschützt, gegen den § 217 StGB damit ebenfalls verstoße.

Da eine einschränkende und verfassungskonforme Auslegung den Zielen des Gesetzgebers nicht entspreche, sei eine solche nicht möglich und der Straftatbestand für nichtig zu erklären.

 

Anmerkung der Redaktion:

§ 217 StGB war 2015 in das StGB eingefügt worden. Weitere Informationen zum Gesetzgebungsverfahren erhalten Sie hier.

Prof. Dr. Dr. h.c. Hillenkamp und Dr. Oğlakcıoğlu haben sich in der KriPoZ mit dem Tatbestand auseinandergesetzt.

Ein Urteil zur Straffreiheit der Suizidbeihilfe im Einzelfall finden Sie in unserem KriPoZ-RR Beitrag 03/2019.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 15/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 07.01.2020 – 3 StR 561/19: Beschluss nach § 411 Abs. 1 Satz 3 StPO ist letzte maßgebliche Entscheidung nach § 55 Abs. 1 StGB

Amtlicher Leitsatz:

Der Beschluss, mit dem nach § 411 Abs. 1 Satz 3 StPO über den auf die Höhe der Tagessätze einer festgesetzten Geldstrafe beschränkten Einspruch des Angeklagten gegen einen Strafbefehl entschieden wird, ist die für die mögliche Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe maßgebliche letzte tatgerichtliche Entscheidung im Sinne des § 55 Abs. 1 StGB.

Sachverhalt:

Das LG Osnabrück hat den Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln unter Einbeziehung einer früher gegen ihn verhängten Geldstrafe verurteilt.

Die verfahrensgegenständliche Tat war vom Angeklagten am 9. Mai 2019 begangen worden. Für diese Tat hat das LG eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten ausgeurteilt. Des Weiteren hat das AG C. am 2. Mai 2019 per Strafbefehl eine Geldstrafe gegen den Angeklagten verhängt. Diese Strafe ist auf den Einspruch des Angeklagten hin am 7. Juni 2019 in der Höhe herabgesetzt worden. Diese – nach der verfahrensgegenständlichen Tat gebildete – Strafe hat das LG einbezogen und eine Gesamtstrafe von zwei Jahren vier Monaten und einer Woche gebildet.

Entscheidung des BGH:

Der BGH bestätigte die Entscheidung des LG, da die Voraussetzungen für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung erfüllt gewesen seien.

Der Beschluss gem. § 411 Abs. 1 Satz 3 StPO, der letztendlich die Höhe der Tagessätze festgelegt hatte, sei eine frühere Verurteilung im Sinne des § 55 Abs. 1 StGB gewesen.

Der Begriff der „Verurteilung“ in § 55 StGB erfasse nicht nur Urteile als Entscheidungsform, sondern entgegen des Wortlauts in § 55 Abs. 1 Satz 2 StGB auch einem Urteil gleichstehende Erkenntnisse. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Gesamtstrafenbildung sei dann der Erlass des Strafbefehls bzw. des Urteils, wenn gegen den Strafbefehl Einspruch eingelegt worden sei.

In einem Fall, in dem – wie im gegenständlichen Verfahren – die Höhe der Tagessätze durch Beschluss nach § 411 Abs. 1 Satz 3 StPO festgesetzt werden, sei das Datum des Beschlusses die letzte Sachentscheidung und damit der maßgebliche Zeitpunkt.

Diese Gleichsetzung von Beschluss und Urteil sei auch mit dem Sinn und Zweck des § 55 StGB vereinbar, da dieser dem Angeklagten den Vorteil erhalten wolle, der ihm bei gemeinsamer Aburteilung der Taten entstanden wäre. Entscheide das Gericht nun durch Beschluss anstelle eines Urteils, gelte dieser Zweck weiterhin und das Unterlassen einer Gesamtstrafenbildung würde den Angeklagten ungerechtfertigt belasten, so der BGH.

Zudem stelle die Entscheidung über die Höhe der Tagessätze auch eine Entscheidung über die Straffolge in der Sache dar, da diese die Höhe der Geldstrafe insgesamt beeinflusse und zumeist nur nach einem neuen Sachvortrag durch den Angeklagten ergehe.

Damit seien die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 StGB erfüllt gewesen.

 

Anmerkung der Redaktion:

Dieser Rechtsprechung des 3. Senats hat sich in einer neueren Entscheidung auch der 1. Senat angeschlossen. Die Entscheidung (BGH, Beschl. v. 03.12.2019 – 1 StR 535/19) finden Sie hier.

Auch in diesem Beschluss argumentiert der BGH damit, dass, nach der Wertung des § 410 Abs. 3 StPO, ein rechtskräftiger Strafbefehl einem in Rechtskraft erwachsenen Urteil gleichstehe. Auch das Argument, der Zweck des § 55 StGB bestehe in der Vorteilserhaltung für den Angeklagten und spreche daher für ein weites Verständnis seines Anwendungsbereichs, wiederholt der 1. Senat.

Durch ein rechtsfehlerhaftes Unterlassen einer Gesamtstrafenbildung wäre der Angeklagte beschwert gewesen: BGH, Beschl. v. 23.01.2020 – 5 StR 501/19.

Zum Umfang der Vollstreckung einer Geldstrafe im Rahmen des § 55 StGB siehe: BGH, Beschl. v. 21.01.2020 – 3 StR 567/19.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 14/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 13.02.2020 – C-688/18: Angeklagte können auf Anwesenheitsrecht in Hauptverhandlung verzichten

Amtlicher Leitsatz:

Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die für den Fall, dass die beschuldigte Person rechtzeitig über die sie betreffende Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens zu dieser Verhandlung unterrichtet wurde und von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt, den sie bestellt hat, vertreten wurde, vorsieht, dass das Recht der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der sie betreffenden Verhandlung nicht verletzt wurde, wenn

– sie unmissverständlich entschieden hat, einem der Termine der sie betreffenden Verhandlung fernzubleiben, oder

– sie einem dieser Verhandlungstermine aus einem nicht von ihr zu vertretenden Grund ferngeblieben ist, sofern sie im Anschluss an diesen Verhandlungstermin über die in ihrer Abwesenheit vorgenommenen Handlungen unterrichtet wurde und in Kenntnis der Sachlage die Entscheidung getroffen hat, entweder zu erklären, dass sie nicht unter Berufung auf ihre Abwesenheit die Rechtmäßigkeit dieser Handlungen in Frage stellen werde, oder zu erklären, dass sie an diesen Handlungen mitwirken wolle, was das befasste nationale Gericht dazu veranlasste, diese Handlungen insbesondere durch Durchführung einer zusätzlichen Zeugenvernehmung, bei der die beschuldigte Person die Möglichkeit hatte, in vollem Umfang mitzuwirken, zu wiederholen.

Sachverhalt:

Gegen die Angeklagten war eine Hauptverhandlung in Bulgarien wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung eröffnet worden. Mehrere Angeklagte hatten aus verschiedenen Gründen an einigen Terminen der Hauptverhandlung nicht teilgenommen. Dies hatte das Gericht dazu veranlasst, eine Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit der Angeklagten zu erörtern, was nach bulgarischem Recht möglich sei, und dafür folgende Bedingungen aufzustellen: Die zwingende Teilnahme eines Rechtsanwalts für den Beschuldigten, die Protokollversendung an den Beschuldigten, die Möglichkeit einen neuen Termin in seiner Anwesenheit zu beantragen, das Recht auf eine Wiederholung des Termins zu bestehen, wenn ein unverschuldetes Fernbleiben vorliegt und das Recht auf eine Wiederholung zu bestehen, wenn ein verschuldetes Fernbleiben vorliegt und die Anwesenheit des Beschuldigten zur Wahrung seiner Interessen erforderlich ist.

Daraufhin war die Hauptverhandlung an mehreren Terminen in Abwesenheit verschiedener Angeklagter durchgeführt worden, wogegen diese sich nicht gewendet hatten und die formalen Vorgaben eingehalten worden waren. Dennoch bezweifelte das bulgarische Gericht die Vereinbarkeit der nationalen Norm, die eine Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten erlaubt, mit geltendem EU-Recht, namentlich der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen.

Daher hat das bulgarische Gericht dem EuGH die Frage vorgelegt, ob Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen sei, dass er einer nationalen Regelung entgegenstehe, die für den Fall, dass die beschuldigte Person rechtzeitig über die sie betreffende Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens zu dieser Verhandlung unterrichtet worden sei und von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt, den sie bestellt habe, vertreten worden sei, vorsehe, dass das Recht der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung nicht verletzt worden sei, wenn

– sie unmissverständlich entschieden habe, einem der Termine der sie betreffenden Verhandlung fernzubleiben, oder

– sie einem dieser Verhandlungstermine aus einem nicht von ihr zu vertretenden Grund ferngeblieben sei, sofern sie im Anschluss an diesen Verhandlungstermin über die in ihrer Abwesenheit vorgenommenen Handlungen unterrichtet worden sei und in Kenntnis der Sachlage die Entscheidung getroffen habe, entweder zu erklären, dass sie nicht unter Berufung auf ihre Abwesenheit die Rechtmäßigkeit dieser Handlungen in Frage stellen werde, oder zu erklären, dass sie an diesen Handlungen mitwirken wolle, was das befasste nationale Gericht dazu veranlasste, diese Handlungen insbesondere durch Durchführung einer zusätzlichen Zeugenvernehmung, bei der die beschuldigte Person die Möglichkeit hatte, in vollem Umfang mitzuwirken, zu wiederholen.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH entschied, dass Art. 8 Abs. 1 und 2 der in Rede stehenden Richtlinie einer etwaigen nationalen Regelung, die eine Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Beschuldigten ermögliche, nicht entgegenstehe, wenn bestimmte Mindestvoraussetzungen eingehalten worden seien.

Diese umfassten zunächst die Belehrung des Angeklagten über den Termin der Hauptverhandlung und über die Folgen seines etwaigen Nichterscheinens. Zudem sei die Vertretung des Beschuldigten durch einen vom ihm ausgewählten Rechtsanwalt zwingend. Dann sei die unmissverständliche Entscheidung des Beschuldigten, von der Verhandlung fernbleiben zu wollen, notwendig. Liege ein unverschuldetes Nichterscheinen vor, so müsse der Angeklagte über den Prozessablauf informiert werden und ihm müsse das Recht zugestanden werden eine Wiederholung des Termins zu verlangen.

Seine Entscheidung begründet der EuGH damit, dass die Richtlinie keine absolute Geltung des Anwesenheitsrechts vorsehe und die Möglichkeit, in Abwesenheit eines Beschuldigten zu verhandeln, bei Einhaltung der formalen Vorgaben auch nicht gegen die Grundrechtecharta oder die EMRK verstoße.

 

Anmerkung der Redaktion:

Weitere Informationen zur EU-Richtlinie finden Sie hier.

 

 

 

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