KriPoZ-RR, Beitrag 72/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

EuGH, Urt. v. 24.09.2020 – C-195/20 PPU: Grundsatz der Spezialität bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls

Amtlicher Leitsatz:

Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der in Abs. 2 dieses Artikels aufgestellte Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme gegenüber einer Person, gegen die ein erster Europäischer Haftbefehl ergangen ist, wegen einer anderen und früheren Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe in Vollstreckung dieses Haftbefehls zugrunde liegt, nicht entgegensteht, wenn diese Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats dieses ersten Haftbefehls freiwillig verlassen hat und dorthin in Vollstreckung eines zweiten, nach dieser Ausreise zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls übergeben worden ist, sofern im Rahmen des zweiten Europäischen Haftbefehls die diesen vollstreckende Justizbehörde ihre Zustimmung zur Ausweitung der Verfolgung auf die Handlung erteilt hat, derentwegen die fragliche freiheitsbeschränkende Maßnahme verhängt worden ist.

Sachverhalt:

Der Beschuldigte war in Deutschland in drei verschiedenen Strafverfahren verfolgt worden. Im ersten Verfahren war er im Jahr 2011 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Im zweiten Verfahren wegen einer Tat in Portugal hatte die StA Hannover einen Europäischen Haftbefehl erlassen, da sich der Beschuldigte in Portugal aufgehalten hatte. Nach der Überstellung des Beschuldigten nach Deutschland, wo dieser dann seine Strafe für die zweite Tat von einem Jahr und drei Monaten verbüßt hatte, wurde während der Vollstreckung dieser Haftstrafe die Aussetzung der ersten Strafe zur Bewährung widerrufen. Daraufhin hatte die StA Flensburg bei der portugiesischen Vollstreckungsbehörde beantragt, die im Jahr 2011 verhängte Strafe vollstrecken zu dürfen und daher auf den Grundsatz der Spezialität aus Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/5841 zu verzichten. Eine Antwort aus Portugal hatte die StA nie erhalten und den Verurteilten deshalb freigelassen, was dieser für die Ausreise nach Italien genutzt hatte. Einen Tag nachdem der Verurteilte das Bundesgebiet verlassen hatte, hatte die StA Flensburg dann einen Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung der ersten Strafe aus dem Jahr 2011 erlassen. Dies hatte zur erneuten Ergreifung und Überstellung nach Deutschland diesmal durch italienische Behörden geführt.

In einem Dritten Verfahren hatte dann das AG Braunschweig einen Haftbefehl wegen einer 2005 in Portugal begangenen Tat gegen den Beschuldigten erlassen. Der daraufhin beantragte Verzicht auf den Grundsatz der Spezialität war von den italienischen Behörden bewilligt worden, sodass der Beschuldigte daraufhin wegen der Tat aus 2005 und im Hinblick auf die noch zu vollstreckende Strafe aus dem Urteil aus 2011 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt worden war.

Gegen diese Verurteilung hat sich der Verurteilte mit der Revision gewendet und das Revisionsgericht hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob der Untersuchungshaftbefehl des AG Braunschweig aufrechterhalten werden könne. Dies hat der Beschuldigte mit dem Argument in Abrede gestellt, dass zwar die italienischen Vollstreckungsbehörden, jedoch nicht die portugiesischen auf den Grundsatz der Spezialität verzichtet hätten.

Entscheidung des EuGH:

Der EuGH beantwortete die Vorlagefrage so, dass Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen seien, dass der in Abs. 2 dieses Artikels aufgestellte Grundsatz der Spezialität einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme gegenüber einer Person, gegen die ein erster EHB ergangen sei, wegen einer anderen und früheren Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe in Vollstreckung dieses Haftbefehls zugrunde liege, nicht entgegenstehe, wenn diese Person das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats dieses ersten EHB freiwillig verlassen habe und dorthin in Vollstreckung eines zweiten, nach dieser Ausreise zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten EHB übergeben worden sei, sofern im Rahmen des zweiten EHB die diesen vollstreckende Justizbehörde ihre Zustimmung zur Ausweitung der Verfolgung auf die Handlung erteilt habe, derentwegen die fragliche freiheitsbeschränkende Maßnahme verhängt worden sei.

Diese Entscheidung sei zum einen das Ergebnis einer wörtlichen Auslegung der Bestimmung, die auf die Übergabe im Singular abstelle, also den Grundsatz der Spezialität eng mit der Vollstreckung eines ganz bestimmten Europäischen Haftbefehls verknüpfe. Ebenfalls würde die Effektivität des Auslieferungsverfahrens behindert, wenn eine Zustimmung beider ausländischen Vollstreckungsbehörden gefordert würde, so der EuGH.

Demnach könne der Haftbefehl des AG Braunschweig aufrecht erhalten bleiben, da nur die Zustimmung der italienischen Vollstreckungsbehörde erforderlich gewesen sei, welche diese auch erteilt habe.

 

Anmerkung der Redaktion:

Ziel der Vorschriften über den Europäischen Haftbefehl ist gerade die effektivere Gestaltung des innereuropäischen Auslieferungsverfahrens. Weitere Informationen über den Europäischen Haftbefehl erhalten Sie hier.

Im Dezember 2019 hatte der EuGH bereits Anforderungen an die einen EuHB ausstellende Behörde festgelegt. Den KriPoZ-RR Beitrag finden Sie hier.

Auch zur Frage welches Recht bei der Prüfung eines EuHB anzuwenden ist, hat sich der EuGH bereits geäußert: KriPoZ-RR, Beitrag 22/2020.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 71/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 04.08.2020 – 3 StR 132/20: Zur Zwangsprostitution nach § 232a StGB

Amtliche Leitsätze:

  1. Der Täter veranlasst eine zur weiteren Ausübung der Prostitution bereite Person im Sinne des § 232a Abs. 1 Nr. 1 StGB zur Fortsetzung derselben, wenn er sie entgegen ihrem Willen zu einer qualitativ intensiveren oder quantitativ wesentlich umfangreicheren Form der Ausübung bewegt oder von einer weniger intensiven bzw. wesentlich weniger umfangreichen Form abhält.

  2. List im Sinne des § 232a Abs. 3 StGB verlangt, dass sich die irreführenden Machenschaften auf die Tatsache der Prostitutionsausübung an sich beziehen. Das lediglich arglistige Schaffen eines Anreizes gegenüber einer Person, die sich frei für oder gegen eine Prostitutionsaufnahme oder –fortsetzung entscheiden kann, genügt nicht. Das Hervorrufen eines bloßen Motivirrtums wird deshalb regelmäßig von dem Tatbestandsmerkmal nicht erfasst.

Sachverhalt:

Das LG Wuppertal hat den Angeklagten u.a. wegen wegen „Beihilfe zur Zuhälterei“ und „Beihilfe zur besonders schweren Zwangsprostitution in Tateinheit mit Zuhälterei“ zu einer Jugendstrafe verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte (A) den aufgrund eines gemeinsamen Tatplans als Zuhälter tätigen Mitangeklagten (B und C) eine 18-jährige und als Prostituierte tätige Frau vermittelt. Diese hatte B unter Vorspieglung falscher Tatsachen dazu gebracht, sich in ihn zu verlieben und alle ihre Einnahmen an ihn abzugeben (sog. Loverboy-Methode). Die Einnahmen hatte B mit C hälftig geteilt. Es war mehrfach zu Gewaltanwendung durch den Mitangeklagten gekommen, um sie zur Prostitution anzuhalten. Der Angeklagte hatte sich häufig in der Wohnung der Frau aufgehalten, um sie nach Absprache mit den Mitangeklagten zu überwachen.

Die gleiche Methode hatte wenige Zeit später der C angewandt bei gleicher Vorgehensweise, worauf sich die 18-Jährige wiederum zur Prostitution bereit erklärt hatte. Währenddessen hatte der Angeklagte die Heranwachsende immer weiter bestärkt und Cs Liebe als aufrichtig dargestellt.

Entscheidung des BGH:

Der BGH änderte den Schuldspruch in zwei Fälle der Beihilfe zur ausbeuterischen und dirigistischen Zuhälterei, in einem Fall davon in Tateinheit mit Beihilfe zur Zwangsprostitution um.

Das Verhalten des Angeklagten habe sowohl die Tatbestandsmerkmale der ausbeuterischen Zuhälterei nach § 181a Abs. 1 Nr. 1 StGB als auch diejenigen der dirigistischen Zuhälterei nach § 181a Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt. Diese beiden Normen stellten jedoch zwei eigenständige Tatbestände dar, deren Verwirklichung in Tateinheit stehe.

Zur Strafbarkeit des Angeklagten wegen Beihilfe zur Zwangsprostitution führte der Senat folgendes aus:

Schutzzweck des § 232a Abs. 1 Nr. 1 StGB sei es, eine bereits die Prostitution ausübende Person davor zu schützen, weiter in das Gewerbe verstrickt zu werden. Demnach erfülle den Tatbestand, wer entweder eine der Prostitution nachgehende Person, die – nach den Vorstellungen des Täters – den Willen habe, diese Tätigkeit zu beenden, von diesem Gedanken abgebracht werde oder entgegen ihres Willens zu einer intensiveren Form der Prostitutionsausübung gedrängt werde bzw. von dem Willen abgebracht werde, eine weniger intensive Form der Tätigkeit zu wählen.

Dabei sei es irrelevant, ob der qualitative oder quantitative Umfang der Prostitutionsausübung betroffen sei. Ebenfalls müsse die Verlagerung die Tätigkeit als Prostituierte selbst betreffen, ein Wechsel des Zuhälters genüge beispielsweise nicht.

Durch ihre Täuschungen, zu denen der Angeklagte Hilfe geleistet habe, hätten die Mitangeklagten die Heranwachsende gegen ihren Willen zu einer quantitativen Erweiterung ihrer Tätigkeit gebracht. Dies erfülle den Tatbestand.

Im Gegensatz zur landgerichtlichen Wertung verwirklichten die Mitangeklagten die Qualifikation des § 232a Abs. 3 StGB nicht, da das Opfer nicht mit List getäuscht worden sei.

List sei jede Verhaltensweise des Täters, die darauf gerichtet sei, seine Ziele unter geflissentlichem und geschicktem Verbergen der wahren Absichten und Umstände durchzusetzen. Davon regelmäßig nicht erfasst, sei das Hervorrufen eines Motivirrtums beim Opfer, welches sich trotz dieser Motivation noch für oder gegen die Aufnahme oder Fortsetzung der Prostitution entscheiden könne.

An diesem restriktiven Verständnis sei auch nach der Gesetzesänderung in 2016 festzuhalten, da der Wortlaut der Norm hierauf keinen Hinweis gebe und die Gesetzesmaterialien explizit keine Erweiterung in Bezug auf das Tatmittel der List vorgesehen hätten, so der BGH.

Danach sei das Vorspielen einer Liebesbeziehung ebenso wie das einer Krankheit oder hohen Schulden nicht ausreichend, um die Qualifikation zu erfüllen.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Vorschriften zum Menschenhandel sind 2016 geändert worden. Insbesondere ist mit § 232a Abs. 3 StGB die Qualifikation der schweren Zwangsprostitution neu eingeführt worden. Weitere Informationen zum Gesetzgebungsverfahren erhalten Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 70/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 02.09.2020 – 5 StR 630/19: Nochmaliges Unterbreiten eines Verständigungsvorschlags begründet keine Befangenheit

Leitsatz der Redaktion:

Das nochmalige Unterbreiten eines Verständigungsvorschlags ist für sich genommen ebenso wenig geeignet, eine Besorgnis der Befangenheit zu begründen, wie das Festhalten an der im Verständigungsvorschlag genannten Strafhöhe bei Scheitern der Verständigung und einem dennoch geständigen Angeklagten.

Sachverhalt:

Das LG Berlin hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

Dagegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft u.a. mit der Rüge formellen Rechts. Der Rüge liegt folgendes Geschehen zugrunde:

Die Vorsitzende Richterin des LG hatte im Vorfeld der Hauptverhandlung Gespräche mit dem Ziel einer Verständigung geführt. Dabei hatte sie einen Strafrahmen bei einer geständigen Einlassung und Schadenswiedergutmachung des Angeklagten genannt. Die Staatsanwaltschaft war mit diesem nicht einverstanden gewesen. Dennoch unterbreitete die Vorsitzende zu Beginn der Hauptverhandlung den Verständigungsvorschlag, den der Angeklagte angenommen hatte, die StA jedoch nicht.

Nachdem dieser Versuch der Verständigung als gescheitert im Protokoll aufgenommen worden war, kam es zu einem umfassenden Geständnis des Angeklagten und einer Verteidigererklärung, dass der Angeklagte den Schaden wiedergutgemacht hätte. Zum Beweis hatte der Verteidiger einen Einzahlungsbeleg auf ein Anderkonto und zwei unwiderrufliche Zahlungsaufträge vor.

Am zweiten Verhandlungstag hatte die StA, die vorher eine dienstliche Stellungnahme der Vorsitzenden zur Erklärung über weitere Verständigungsgespräche gefordert hatte, welche diese mit einer Verneinung abgegeben hatte, daraufhin einen Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende gestellt, da diese trotz eines Scheiterns der Verständigung am Ziel des Verständigungsvorschlags festgehalten hätte.

Entscheidung des BGH:

Der BGH wies die Rüge als unbegründet ab.

Es stelle regelmäßig keinen Befangenheitsgrund dar, wenn ein Richter einen Verständigungsvorschlag nochmals in der Hauptverhandlung unterbreite, obwohl dieser schon vorher abgelehnt worden sei.

Gerade weil eine Verständigung nach der Rechtsprechung des BVerfG kein Vergleich im Gewande eines Urteils sein dürfe, sondern lediglich eine transparente Einschätzung der Strafzumessungsentscheidung des Gerichts bei geständiger Einlassung des Angeklagten, diene eine derart offene und kommunikative Verhandlungsführung der Verfahrensförderung und begegne auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Daher sei es unbedenklich, wenn das Gericht einen abgelehnten Verständigungsvorschlag nochmals zu Beginn der Hauptverhandlung unterbreite. Aufgrund des Charakters der Verständigung als antizipierte strafzumessungsrechtliche Bewertung bei einem bestimmten erwarteten Prozessverhalten des Angeklagten (beispielsweise einem Geständnis), sei es zudem unbedenklich, wenn das Gericht auch ohne Zustandekommen der Verständigung bei Vornahme der erwarteten Prozesshandlungen durch den Angeklagten, den im Verständigungsvorschlag gewählten Strafrahmen nutze.

Die Verständigung solle gerade keinen „Handel mit Gerechtigkeit“, sondern ein transparentes Verfahren darstellen, welches dem Angeklagten den Wert eines etwaigen Geständnisses transparent aufzeige.

Bei Nichtzustandekommen der Verständigung entfalle lediglich die Bindungswirkung und die Sicherheit für den Angeklagten, dass sein Geständnis nicht verwertet werde, wenn die Strafzumessung nicht im gewählten Rahmen bliebe. Dennoch spreche nichts dagegen den gleichen Rahmen zu wählen, wenn eine Verständigung scheitert und der Angeklagte dennoch alle Bedingungen bei ansonsten unveränderter Sachlage erfülle. Dies sei dann nur folgerichtig.

 

Anmerkung der Redaktion:

Das Grundsatzurteil des BVerfG zur Verständigung im Strafprozess finden Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 69/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 10.07.2020 – 1 StR 221/20: Fehlende sexuelle Selbstbestimmung des Opfers bei § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB muss durch Gesamtbetrachtung der Umstände festgestellt werden

Leitsatz der Redaktion:

Auf die fehlende Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung des Opfers darf das Tatgericht nicht schon allein aufgrund des Alters des Opfers unter 16 Jahren oder des Altersunterschieds zum Täter schließen. Erforderlich ist eine Gesamtbetrachtung der Umstände im jeweiligen Einzelfall.

Sachverhalt:

Das LG Heidelberg hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in vier Fällen verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte sich als 18-Jähriger ausgegeben und unter einem Pseudonym im Internet sowie später per Chatnachrichten Kontakt zu der 15-jährigen Nebenklägerin gesucht. Sie hatten sich angefreundet. Daraufhin hatte der Angeklagte den Kontakt zu einem vermeintlichen Freund von ihm hergestellt, der nach seiner Aussage, sehr nett sei und viel Geld habe. In Wirklichkeit war dies der Angeklagte selbst nur unter einem anderen Pseudonym gewesen. Die Nebenklägerin hatte sich daraufhin mehrmals mit dem Angeklagten getroffen, den sie für den Freund ihres Chatpartners gehalten hatte. Bei manchen dieser Treffen war es auch zu Geschlechtsverkehr zwischen beiden gekommen. Zu diesem Geschlechtsverkehr hatte der Angeklagte die Nebenklägerin unter dem ersten Pseudonym ermutigt.

Das LG hat eine altersbedingte Unreife der Nebenklägerin angenommen, da sie psychisch labil gewesen sei und bisher keine sexuellen Erfahrungen gemacht habe. Daher habe sie sich dem Angeklagten nicht wiedersetzen können und sie haben ihn und ihren vermeintlichen Chatpartner auch nicht enttäuschen und dadurch verlieren wollen.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da das LG sich nicht ausreichend mit der Beziehung zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin auseinandergesetzt habe.

Zur Beurteilung des Fehlens der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung könne nicht allein auf das Alter des Opfers unter 16 abgestellt werden. Bei Jugendlichen sei solch ein Fehlen der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung zwar möglich, jedoch deshalb nicht pauschal in jedem Fall vorhanden. Dazu seien konkrete Feststellungen des Tatgerichts erforderlich. Maßgeblich sei, ob der Jugendliche nach seiner geistigen und seelischen Entwicklung reif genug gewesen sei, die Bedeutung und Tragweite der konkreten sexuellen Handlung angemessen zu erfassen oder ob die Beziehung auf sexuelle Beherrschung des jugendlichen Opfers angelegt gewesen sei oder der Täter unlautere Mittel der Willensbeeinflussung genutzt habe.

Ein Indiz für eine solche Beherrschung könne ein großer Altersunterschied zwischen den beiden Beteiligten sein, was aber auch für sich genommen nicht ausreiche. Prägendes Merkmal des Tatbestandes sei zudem das Ausnutzen der Unreife des Opfers. Der Täter müsse sich also die Unreife bewusst zur Nutze gemacht haben. Daher seien auch Liebesbeziehungen, die zwar von Unreife aber auch von echter gegenseitiger Zuneigung geprägt seien, nicht vom Tatbestand erfasst.

Das Urteil des LG lasse nach diesen Grundsätzen wesentliche Feststellungen zur konkreten Art der Beziehung zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin vermissen, zumal es bei einigen Treffen der beiden nicht um Geschlechtsverkehr ging, sodass eine tiefere Bindung zwischen beiden zumindest nicht ausgeschlossen sei.

 

Anmerkung der Redaktion:

So hatte auch schon der 2. Strafsenat am 17. Juni 2020 entschieden (2 StR 57/20).

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 68/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 31.08.2020 – AK 20/20: Zum Grad der Eingliederung in einen fremden Geheimdienst nach § 18 Abs. 7 Nr. 1 AWG

Amtlicher Leitsatz:

Für die Qualifikation des § 18 Abs. 7 Nr. 1 AWG ist nicht zu verlangen, dass das Tun des Täters zu einer funktionellen Eingliederung in die Ausforschungsbemühungen des Geheimdienstes einer fremden Macht führt. Ausreichend ist jedenfalls, wenn sich die Tat als Ausfluss der Einbindung des Täters lediglich in die geheimdienstliche Beschaffungsstruktur darstellt.

Sachverhalt:

Der Beschuldigte ist im Februar 2020 vorläufig festgenommen worden und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, sich durch mehrere Ausfuhren von Werkzeugmaschinen nach Russland, gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 lit. A, Abs. 7 Nr. 1 und 2 Alternative 1 AWG i.V.m. Art. 1 lit. A, Art. 2 Abs. 1 der Russlandembargo-VO (EU) Nr. 833/2014, §§ 52, 53 StGB strafbar gemacht zu haben.

Nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen soll der Beschuldigte mehrere Werkzeugmaschinen, die der Russlandembargo-VO unterfallen waren, an einen Geschäftspartner verkauft und geliefert haben, der vom russischen Geheimdienst kontrolliert worden war. Der Beschuldigte soll dabei mit einer militärischen Verwendung der Maschinen gerechnet haben.

Der Beschuldigte hat sich gegen die Fortdauer seiner Untersuchungshaft gewendet.

Entscheidung des BGH:

Der BGH entschied, dass die Untersuchungshaft fortzudauern habe.

Der Beschuldigte sei dringend verdächtig gewerbsmäßig und geheimdienstlich gesteuert, gegen ein Verkaufs- und Ausfuhrverbot der Europäischen Union verstoßen zu haben.

Neben der Qualifikation der Gewerbsmäßigkeit (§ 18 Abs. 7 Nr. 2 Alt. 1 AWG) sei der Beschuldigte ebenfalls verdächtig, für einen Geheimdienst einer fremden Macht gehandelt zu haben (§ 18 Abs. 7 Nr. 1 AWG).

Eine organisatorische Eingliederung in den fremden Geheimdienst sei dafür, ebenso wie bei § 99 Abs. 1 StGB, nicht erforderlich. Im Unterschied zu dieser Norm fordere § 18 Abs. 7 Nr. AWG jedoch gerade keine geheimdienstliche Tätigkeit, sondern nur ein schlichtes Handeln für einen fremden Geheimdienst. Somit sei ebenfalls nicht erforderlich, dass der Täter funktionell in die Ausforschungsbemühungen des ausländischen Geheimdienstes eingegliedert sei, so der BGH.

Demnach sei es für die Verwirklichung der Qualifikation des § 18 Abs. 7 Nr. 1 AWG ausreichend, wenn sich die Tat als Ausfluss der Einbindung des Täters lediglich in die geheimdienstliche Beschaffungsstruktur darstelle.

Dies sei im vorliegenden Fall anzunehmen und der Haftbefehl daher aufrechtzuerhalten.

 

Anmerkung der Redaktion:

Die Qualifikation des § 18 Abs. 7 Nr. 1 AWG wurde 2013 vom Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts geschaffen, um der höheren Gefährlichkeit illegaler Beschaffungsvorgänge, wenn sie geheimdienstliche gesteuert werden, zu begegnen.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 67/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 31.08.2020 – StB 23/20: Beurteilungsspielraum bei der Ablehnung der Bestellung eines weiteren Verteidigers

Amtlicher Leitsatz:

Auf die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines weiteren Verteidigers prüft das Beschwerdegericht, ob der Vorsitzende des Erstgerichts die Grenzen seines Beurteilungsspielraums zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO eingehalten und sein Entscheidungsermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Es kann die Beurteilung des Vorsitzenden, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung nicht erfordert, nur dann beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält.

Sachverhalt:

Das OLG Dresden führt gegen den Angeklagten ein Strafverfahren wegen des Vorwurfs der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Beihilfe zum Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und zur Sachbeschädigung, in einem Fall in Tateinheit mit Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen sowie in einem Fall in Tateinheit mit Sachbeschädigung.

Er soll als Mitglied einer rechtsextremistischen Vereinigung an einem Sprengstoffanschlag mitgewirkt und identitätsstiftende Fotografien unter Abbildung eines Hakenkreuzes und des „Hitlergrußes“ angefertigt sowie rassistische und fremdenfeindliche Graffitiparolen gesprüht haben.

Der Ermittlungsrichter am OLG hatte dem Angeklagten einen Rechtsanwalt als Verteidiger bestellt. Knapp zwei Jahre später hatte der Angeklagte die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers beantragt, da aufgrund des Umfangs und der Komplexität des Prozessstoffs nur bei Arbeitsteilung zweier Verteidiger eine sachgerechte Verteidigung möglich sei. Diesen Antrag hat der Vorsitzende des Senats beim OLG abgelehnt, wogegen sich die Beschwerde des Beschuldigten zum BGH richtete.

Entscheidung des BGH:

Der BGH wies die zulässige sofortige Beschwerde des Angeklagten als unbegründet zurück.

§ 144 Abs. 1 StPO erlaube in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten bis zu zwei zusätzliche Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich sei. Diese, vom Willen des Beschuldigten unabhängige, Möglichkeit fordere also die Notwendigkeit der Bestellung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung. Für die Auslegung der Vorschrift könne auf die frühere Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers sei demnach nur in begrenzten Ausnahmefällen möglich, wenn ein unabweisbares Bedürfnis für eine solche bestehe, um eine sachgerechte Verteidigung des Angeklagten und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten.

Dies sei immer dann anzunehmen, wenn sich die Hauptverhandlung über einen längeren Zeitraum erstrecke und sicherzustellen sei, dass auch bei Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden könne oder der Verfahrensstoff derart umfangreich sei, dass er nur im Zusammenwirken zweiter Verteidiger beherrscht werden könne.

Zwar trete bei der sofortigen Beschwerde das Beschwerdegericht eigentlich an die Stelle des Erstgerichts und nehme eine eigene Ermessensentscheidung vor. Bei der Entscheidung über die Beiordnung eines weiteren Verteidigers stehe dem Vorsitzenden des Tatgerichts jedoch ein Beurteilungsspielraum für die oben genannten Voraussetzungen zu. Das Beschwerdegericht könne demnach nur prüfen, ob der Vorsitzende sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.

Dies folge daraus, dass dem Vorsitzenden des Erstgerichts ein solcher nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum schon nach der alten Rechtslage zugestanden habe. Für eine abweichende Bewertung nach der Reform der Vorschriften zur notwendigen Verteidigung bestehe indes kein Anlass, so der BGH.

Die Gesetzesmaterialien böten ebenso wenig Anlass dafür, wie der Zweck des Gesetzes. Dieser sei es dem Vorsitzenden in seiner Funktion als Leiter der Hauptverhandlung, die Möglichkeit zu bieten, einen oder mehrere weitere Pflichtverteidiger beizuordnen, um die Rechte des Angeklagten auf eine sachgerechte Verhandlung und ein Urteil innerhalb angemessener Frist (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2, Art. 6. Abs. 1 Satz 1 MRK) zu wahren. Damit könne das Beschwerdegericht nicht ohne weiteres seine eigene Beurteilung, wie die Hauptverhandlung zu gestalten sei, um dem Beschleunigungsgrundsatz zu entsprechen, an die Stelle derjenigen des Vorsitzenden setzen. Das widerspräche dem gesetzlichen Kompetenzgefüge.

Im vorliegenden Fall begegne die Entscheidung des Vorsitzenden keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, da seine Entscheidungsgründe noch ausreichend dargelegt worden seien und so keine Ermessenfehler zu besorgen seien.

 

Anmerkung der Redaktion:

Das Recht der notwendigen Verteidigung wurde 2019 durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 zur Anpassung an die EU-Richtlinie 2016/800 und 2016/1919 reformiert. Weitere Informationen zum Gesetz erhalten Sie hier.

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 66/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 15.07.2020 – 6 StR 7/20: Neben sexueller Nötigung kein Raum für versuchte Vergewaltigung

Leitsatz der Redaktion:

Ist der Qualifikationstatbestand des § 177 Abs. 5 StGB erfüllt, scheidet eine tateinheitliche Verurteilung wegen Versuch des Regelbeispiels des § 177 Abs. 6 Nr. 1 StGB (Vergewaltigung) aus.

Sachverhalt:

Das LG Bückeburg hat den Angeklagten – unter Freispruch im Übrigen – wegen Körperverletzung in zwei Fällen verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte die Nebenklägerin geweckt, als er von der Arbeit nach Hause kam, um Geschlechtsverkehr mit ihr zu haben. Dies hatte das Opfer abgelehnt.

Daraufhin hatte der Beschuldigte sie an ihren Handgelenken festgehalten und versucht sie und sich selbst zu entkleiden sowie ihre Beine auseinander zu drücken. Es war der Zeugin jedoch gelungen, sich los zu reißen und in den Flur zu flüchten, wo der Angeklagte sie einholte und an eine Wand drückte, wodurch ihr Kopf mehrmals an die Wand schlug.

Das LG konnte sich von einer Vergewaltigung nicht überzeugen und verneinte auch eine versuchte Vergewaltigung wegen Rücktritts.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil auf, da das LG den Unrechtsgehalt der Tat nicht vollumfänglich erfasst habe und daher seiner Kognitionspflicht (§ 264 StPO) nicht nachgekommen sei.

Durch das Festhalten der Handgelenkte und das Ausziehen sowie Spreizen der Beine habe der Angeklagte den Tatbestand der sexuellen Nötigung gem. §§ 177 Abs. 1 und 5 StGB verwirklicht.

Die Handlungen wiesen objektiv, also allein gemessen an ihrem äußeren Erscheinungsbild, einen eindeutigen Sexualbezug auf und der Angeklagte habe auch schon mit diesen Handlungen am Körper des Opfers begonnen. Damit habe es sich um sexuelle Handlungen gehandelt, die aufgrund des Festhaltens auch mit Gewalt verübt worden seien, sodass die Qualifikation der sexuellen Nötigung erfüllt gewesen sei.

Daneben sei jedoch für eine tateinheitlich begangene versuchte Vergewaltigung kein Raum mehr, so der BGH.

Eine versuchte Vergewaltigung komme bei Vollendung des Grundtatbestands des § 177 Abs. 1 StGB aufgrund der Ausgestaltung des § 177 Abs. 6 StGB als Strafzumessungsregel nicht in Betracht. Dies habe sich auch durch die Neufassung der Vorschrift durch das Gesetz zur Verbesserung der sexuellen Selbstbestimmung vom November 2016 nicht geändert.

Damit brauchte der Senat erneut nicht entscheiden, ob der Versuch eines Regelbeispiels überhaupt möglich ist.

 

Anmerkung der Redaktion:

§ 177 StGB war 2016 nach den Geschehnissen der Kölner Silvesternacht, denen eine breite gesellschaftliche Debatte nachfolgte, durch das Gesetz zur Verbesserung der sexuellen Selbstbestimmung neu gefasst worden. Informationen zu den Änderungen finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 65/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 18.08.2020 – StB 25/20: Kein Beschwerderecht gegen Pflichtverteidigerbestellung

Amtlicher Leitsatz:

Einem Pflichtverteidiger steht gegen die Aufhebung seiner Bestellung kein eigenes Beschwerderecht zu.

Sachverhalt:

Gegen den Angeklagten wird vor dem OLG Frankfurt ein Strafverfahren wegen Mordes geführt.

In diesem Verfahren war der Beschwerdeführer dem Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet, was der Beschuldigte beantragt hatte, aufgrund von Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses, rückgängig zu machen. Diesem Antrag war der Vorsitzende gefolgt und hatte den Beschwerdeführer von seinem Mandat entbunden.

Entscheidung des BGH:

Der BGH verwarf die sofortige Beschwerde als unzulässig.

Sie sei zwar gemäß § 304 Abs. 4 S. 2 HS 2 Nr. 1 StPO statthaft, jedoch sei eine Beschwer des Verteidigers nicht ersichtlich.

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erfolge allein im öffentlichen Interesse zum Schutz des Beschuldigten und nicht im Interesse des Verteidigers. Daher stehe dem Pflichtverteidiger, im Gegensatz zu den Fällen der Ablehnung einer von ihm beantragten Entpflichtung, in den Fällen, in denen die Entpflichtung auf Antrag des Angeklagten erfolgt, kein eigenes Beschwerderecht zu.

Die Rücknahme einer Bestellung als Pflichtverteidiger greife nicht beschwerend in dessen Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG ein, so der BGH. Es bestehe kein Anspruch auf Fortführung des Mandas, was auch wirtschaftliche Erwägungen oder ein etwaiges Rehabilitationsinteresse in der öffentlichen Wahrnehmung nicht zu ändern vermögen.

Eine vergleichbare Interessenlage zu einem Wahlverteidiger sei aufgrund der öffentlichen Funktion des Pflichtverteidigers ebenfalls abzulehnen, da der entbundene Pflichtverteidiger auch weiterhin als Wahlverteidiger für den Mandanten tätig werden dürfe, was für den ausgeschlossenen Wahlverteidiger gerade nicht gelte.

Dieses Ergebnis stimme auch mit den gesetzgeberischen Wertungen und der Auslegung der EU-Richtlinie 2016/1919/EU überein, da der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 in Kenntnis der bisherigen Praxis für die sofortige Beschwerde in § 143a Abs. 4 StPO an dem Erfordernis einer Beschwer festgehalten habe und gerade für diese Konstellation keine andere Rechtsschutzmöglichkeit eingeführt habe.

 

Anmerkungen der Redaktion:

Informationen zum Gesetz zur Neureglung des Rechts der notwendigen Verteidigung, mit dem der Gesetzgeber die EU-Richtlinie über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in nationales Recht umgesetzt hat, finden Sie hier.

 

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 64/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Urt. v. 02.07.2020 – 4 StR 678/19: Schutzlose Lage in § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB ist nach obj. Maßstäben zu bestimmen

Amtliche Leitsätze:

  1. Der Begriff der schutzlosen Lage ist rein objektiv zu bestimmen; einer subjektiven Zwangswirkung der Schutzlosigkeit auf das Tatopfer bedarf es nicht.

  2. Zum Begriff des „Ausnutzens“ im Sinne des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB.

Sachverhalt:

Das LG Halle hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, in einem davon in Tateinheit mit sexuellem Übergriff und in einem Fall in Tateinheit mit sexueller Nötigung verurteilt.

Nach den tatgerichtlichen Feststellungen hatte der Angeklagte im April 2018 das ihm bekannte sechs Jahre alte Tatopfer unter einem Vorwand in eine verlassene Fabrikhalle gelockt, ihr dort Hose und Unterhose ausgezogen und im Intimbereich berührt. Nachdem das Mädchen angefangen hatte zu weinen und den Angeklagten gebeten hatte aufzuhören, hatte er von ihr abgelassen.

Im November 2018 hatte der Angeklagte ein vor seinem Haus wartendes achtjähriges Mädchen entdeckt. Er hatte das Kind daraufhin hochgehoben und den Mund zugehalten. Im Anschluss hatte er das Mädchen unter Todesdrohungen zu einer verlassenen Ruine geführt. Wiederum hatte er dann Hose und Unterhose des Kindes sowie seine eigene ausgezogen und das Kind im Intimbereich geleckt. Danach hatte das Mädchen ihm einen Kuss geben sollen. Nach dessen Weigerung hatte der Beschuldigte das Kind geküsst und war mit seiner Zunge in ihren Mund eingedrungen. Danach hatte er das Mädchen auf ihre Bitte hin gehen lassen.

Die erste Tat ist vom LG als sexueller Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Übergriff im Sinne der § 176 Abs. 1 und § 177 Abs. 1 StGB abgeurteilt worden. Eine Verurteilung wegen § 177 Abs. 5 Nr. 3 ist nicht erfolgt, da es an einer schutzlosen Lage und auf Seiten des Opfers an der Kenntnis der schutzlosen Lage fehle.

Die zweite Tat ist vom LG als sexueller Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung im Sinne der § 176 Abs. 1, § 177 Abs. 1 und Abs. 5 Nr. 2 StGB abgeurteilt worden. Wiederum hat es dem LG für eine Verurteilung nach der Variante des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB an einer schutzlosen Lage und einer darauf beruhenden Willensbeugung des Opfers gefehlt.

Hiergegen wendete sich die Revision.

Entscheidung des BGH:

Der BGH hob das Urteil zuungunsten des Angeklagten auf, da das LG von einem zu engen Verständnis der schutzlosen Lage i.S.d. § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB ausgegangen sei.

Die Vorschrift ist durch das 50. Gesetz zur Änderung des StGB – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung am 4. November 2016 eingeführt worden. Inhaltlich entspreche das Tatbestandsmerkmal des Ausnutzens einer schutzlosen Lage zwar dem § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F., dennoch lasse sich die hierzu ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung nicht auf den neuen Tatbestand übertragen, so der BGH.

Ursprünglich sei auch nach der Rechtsprechung des BGH die Schutzlosigkeit einer Lage rein objektiv zu bestimmen und zu bejahen gewesen, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Tatopfers in einem solchen Maße verringert seien, dass es dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben sei. Dies sei dann der Fall, wenn sich das Opfer dem Täter alleine gegenübersieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen könne.

Da nach der alten Gesetzesfassung jedoch für alle Tatbestandsalternativen zusätzlich eine nötigende Einwirkung des Täters gefordert worden war, ging die Rechtsprechung zu einer einschränkenden subjektivierten Auslegung über und verlangte von da an, dass das Tatopfer die Schutzlosigkeit der Lage erkannt und gerade deshalb auf ihm grundsätzlich möglichen Widerstand verzichtet habe.

Diese einschränkende Auslegung des Merkmals sei nun für die neue Gesetzesfassung aus mehreren Gründen nicht zu übernehmen, so der Senat.

Zum einen setzte der neu konzipierte § 177 Abs. 5 StGB eine nötigende Einwirkung des Täters nicht mehr voraus. Mit der Gesetzesreform 2016 habe der Gesetzgeber einen Wechsel der Schutzrichtung erreichen wollen. Anknüpfungspunkt der Strafbarkeit sei nicht mehr länger die Beugung des Opferwillens im Sinne einer Nötigung, sondern die Missachtung des erkennbar entgegenstehenden Willens des Opfers. Damit könne eine etwaige einschränkende subjektivierende Auslegung des Merkmals des Ausnutzens einer schutzlosen Lage nicht mehr mit dem Erfordernis einer nötigenden Einwirkung begründet werden.

Zum anderen seien auch die Ansichten in der Literatur, die dennoch an einer subjektiven Zwangswirkung beim Opfer festhielten, nicht mit dem Wortlaut oder den Gesetzesmaterialien vereinbar. Anderslautende Hinweise in den Gesetzesmaterialien seien widersprüchlich und nicht mit dem eigentlichen Zweck der Gesetzesänderung zu vereinbaren, so der BGH.

Auch die Systematik spreche gegen eine einschränke Auslegung, da ansonsten die für alle sexuellen Übergriffe in § 177 Abs. 1 und 2 StGB geschaffene Qualifikation des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB nicht auf die Grundtatbestände des § 177 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 StGB angewendet werden könne, da in diesen Fällen gerade kein entgegenstehender Wille beim Opfer gebildet werden könne.

Das Argument, dass in Fällen, in denen ein Kind das Tatopfer ist, bei einer rein objektiven Beurteilung regelmäßig eine schutzlose Lage anzunehmen sei und so der Tatbestand mit denen der §§ 176, 176a StGB verschwimmen würden, ließ der Senat nicht gelten. Schließlich schützten die Vorschriften gänzlich unterschiedliche Rechtsgüter, was eine Abgrenzung der Anwendungsfelder nicht erforderlich mache.

Schließlich sprächen aus Sinn und Zweck der Gesetzesreform für eine rein objektive Bestimmung der schutzlosen Lage, da nur so der umfassende Schutz der sexuellen Selbstbestimmung erreicht werden könne, den der Gesetzgeber gewollt habe.

Demnach sei im Ergebnis allein die objektive Schutzlosigkeit des Opfers genügend. Diese sei zu bejahen, wenn nach zusammenfassender Bewertung die Möglichkeiten des Täters, mit Gewalt auf das Opfer einzuwirken, größer sind als die Möglichkeiten des Tatopfers, sich solchen Einwirkungen des Täters mit Erfolg zu entziehen, ihnen erfolgreich körperlichen Widerstand entgegenzusetzen oder die Hilfe Dritter zu erlangen. Eine gänzliche Beseitigung jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten sei ebenso wenig Voraussetzung wie die Herbeiführung der schutzlosen Lage durch den Täter persönlich.

Erforderlich sei eine Gesamtwürdigung aller tatbestandsspezifischen äußeren Umstände und persönlichen Voraussetzungen von Täter und Opfer im jeweiligen Einzelfall.

 

Anmerkung der Redaktion:

Informationen zum Gesetz zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung finden Sie hier.

 

 

 

KriPoZ-RR, Beitrag 63/2020

Die Entscheidung im Original finden Sie hier.

BGH, Beschl. v. 21.07.2020 – 5 StR 146/19: Auch Kopie eines Ausweises für das Gebrauchen zur Täuschung im Rechtsverkehr nach § 281 Abs. 1 Satz 1 StGB ausreichend

Amtlicher Leitsatz:

1. Auch durch Vorlage der Kopie oder durch elektronische Übersendung des Bildes eines echten Ausweises zur Identitätstäuschung kann ein Ausweispapier im Sinne von § 281 Abs. 1 S. 1 StGB zur Täuschung im Rechtsverkehr gebraucht werden.

2. Zur Fälschung beweiserheblicher Daten durch Anmeldung bei einer Auktionsplattform und durch Online-Verkaufsangebote unter falschem Namen.

Sachverhalt:

Den Sachverhalt finden Sie im KriPoZ-RR, Beitrag 21/2019.

Entscheidung des BGH:

Die Entscheidung geht aus einem Anfragebeschluss des 5. Strafsenats hervor. Dieser hielt jetzt trotz der Einwände des 2. Strafsenats an seiner beabsichtigten Entscheidung fest.

 

Anmerkung der Redaktion:

Den Anfragebeschluss finden Sie hier: KriPoZ-RR, Beitrag 21/2019.

Die Antwort des 4. Strafsenats  finden Sie hier: KriPoZ-RR, Beitrag 13/2020.

Die Antwort des 2. Strafsenats findne Sie hier: KriPoZ-RR, Beitrag 39/2020.

 

 

 

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